Annekathrin Giegengack: Der Großen Anfrage zu Chancengleichheit im Bildungssystem fehlt ein klares Ziel – entstanden ist daher ein wenig aussagekräftiger Zahlenkatalog

Redebeitrag der Abgeordneten Annekathrin Giegengack zur Großen Anfrage "Chancengleichheit in der frühkindlichen, vorschulischen und schulischen Bildung Sachsens" (Drs. 5/12366), 89. Sitzung des Sächsischen Landtages, 18. Dezember 2013, TOP 6

– Es gilt das gesprochene Wort –
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Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Die Linke greift mit ihrer Großen Anfrage ein zweifelsfrei wichtiges Thema auf: Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit im Bildungssystem. Das ist natürlich ein Riesenthema, wo es auch in der Wissenschaft unterschiedliche thematische Ansätze gibt, wie diese zu erfassen und zu bestimmen sind.
Das Wesentliche ist die genaue Bestimmung des Gegenstands, um die Sache eingrenzbar zu machen. Genau diese Vorleistung wurde hier nicht erbracht. Es werden sozial-, arbeitsmarkt- und bildungspolitische Perspektiven bunt abgefragt. Anstatt auf das Bildungssystem einzugehen, insbesondere seine Durchlässigkeit und Integrationskraft zu hinterfragen, werden viele Sozialdaten erfasst, die kaum oder nur auf methodisch fragwürdige Weise in Beziehung zum Bildungserfolg der Kinder und Jugendlichen gesetzt werden können. Entstanden ist daher ein wenig aussagekräftiger Zahlenkatalog – oder, wie die LINKE in ihrer Broschüre bilanziert, "eine Art Materialaufbereitung mit vorsichtigen Wertungen". Man behilft sich mit Kritik an der Staatsregierung, die "die mit der Großen Anfrage gebotene Chance nicht einmal annähernd genutzt" hat und hält, beispielsweise bei einer Darstellung zu den monatlichen Nettoeinkünften fest: "Wir haben diese Angaben in unsere Darstellung aufgenommen, um deutlich zu machen, dass man eigentlich mit derartigen Übersichten wenig anfangen kann."
Außerdem ist die Mehrzahl der erfragten Daten bekannt. Es fehlt schlicht die analytische Schärfe, die Daten adäquat einzuordnen. Mir scheint, und der Entschließungsantrag bestätigt dies, als zielte man eigentlich auf eine Studie zur Chancengerechtigkeit in Sachsen – und ist nun verständlicherweise enttäuscht über das Ergebnis. Vielleicht wäre ein Antrag an dieser Stelle die bessere Alternative gewesen, denn eine Große Anfrage kann in keinem Fall eine wissenschaftliche Untersuchung ersetzen.
Was die LINKE daraus ableitet und warum, unterliegt ohnehin ihrer politischen Bewertung, die wir nicht unbedingt teilen: So zieht sie die Entwicklung der Zahl freier Schulen als Indiz für Chancenungleichheit in der Bildung heran und äußert sich besorgt angesichts des "Jahrzehnts des Vormarsches des Privatschulsektors in Sachsen". Und die Kindertagespflege wird "bestenfalls als Übergangslösung" gesehen, die "keinesfalls weiter ausgedehnt" werden sollte.
Um der Frage der Bildungsgerechtigkeit auf die Spur zu kommen, lohnt indes ein Blick auf anderweitig erfolgte Studien und Untersuchungen, wie die kommunalen Bildungsberichte im Rahmen von "Lernen vor Ort" oder den Chancenspiegel der Bertelsmann-Stiftung. Ihnen gemein ist, das zeichnet eine seriöse Studie aus, die Quellen- bzw. Datenkritik. Während es in der Großen Anfrage bunt durcheinander geht und vielfach Daten, v.a. kombinierte Daten abgefragt werden, beginnt der "Bildungsreport Leipzig 2012" mit einer umfassenden Problematisierung der Datengrundlage und -zugänglichkeit. Es wird sowohl auf datenschutzrechtliche Bestimmungen, die Datenqualität als auch auf die sachliche Logik der Datenhaltung hingewiesen. Zum Teil ist eine Sammlung eben nur für statistische Zwecke vorgesehen oder Daten dürfen nur in aggregierter Form genutzt werden, was die Aussagekraft mindert. Korrigiert wird dies – im Falle des Bildungsreports aus Leipzig – durch Ergebnisse anderer Studien und Erhebungen, wie z.B. Umfragen. Dies ermöglicht eine fundierte Analyse von Bildungsverläufen sowie von Bildungszugängen- und -übergängen. Ergebnisse werden differenziert betrachtet nach Geschlecht, Migrationshintergrund, sozialräumlicher Gliederung, Ressourcen und Systemkomponenten – auch etwas, was eine Große Anfrage nur punktuell ermöglicht.
Hinsichtlich der Bildungsgerechtigkeit kommt der Bildungsreport Leipzig 2012 unter anderem zu folgenden Ergebnissen:
– Beim Kita-Besuch sind einzelne Gruppen unterrepräsentiert, v.a. Kinder mit Migrationshintergrund, Inklusion wird (noch) nicht umfassend umgesetzt.
– Bei den Schuleingangsuntersuchungen gibt es zum einen viele Zurückstellungen, zum anderen wird vielen Kindern ein sonderpädagogischer Förderbedarf bescheinigt. Und zwar NICHT aufgrund physischer Beeinträchtigungen, sondern aufgrund des sozialen Umfelds.
– Bei den Schulen entfaltet die Bildungsempfehlung nach Klasse 6 nur wenig Wirkung; es dominiert beim Schulartwechsel deutlich der Abwärtstrend – auch hier ist eine hohe sozialräumliche Selektivität zu konstatieren.
– Im berufsbildenden Bereich wird die mangelnde Ausbildungsreife der Jugendlichen beklagt, vor allem männliche Jugendliche und Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund befinden sich im Übergangssektor.
– Die Weiterbildung – ein Handlungsfeld, das, wie auch Hochschulen und außerschulische Bildung, in der Großen Anfrage gänzlich fehlt – setzt oft nur punktuell und kurzfristig an, eine Anpassung der Förderung und der Zielgruppenansprache ist angezeigt.
– Besonders aussagefähig als Indiz für die hohe sozialräumliche Selektivität der Bildungsleistungen ist die Transferquote in Bezug auf Kinder unter 15 Jahren: In Leipziger Ortsteilen mit einer hohen Transferquote besuchten anteilig mehr als sechs Mal so viele Kinder eine Lernförderschule und werden drei Mal so häufig von der Einschulung zurückgestellt als in Ortsteilen mit einer niedrigen Transferquote.
– Auch gibt es in den Ortsteilen mit einer hohe Transferquote mehr Jugendliche ohne Abschluss, weniger Bildungsempfehlungen fürs Gymnasium und an den Mittelschulen deutlich mehr Schülerinnen und Schüler im Hauptschulbildungsgang.
– Um dem Zusammenhang zwischen ungünstigen Lebensbedingungen und Bildungserfolgen entgegen zu wirken, muss, so das Fazit des Bildungsreports Leipzig 2012, die Wirksamkeit von kommunalem Bildungsmanagement in Abstimmung mit der Kinder- und Jugendhilfe in den Schwerpunkträumen erhöht werden.
Auch der Chancenspiegel der Bertelsmann-Stiftung liefert bereits Analysen, wie sie im Entschließungsantrag gefordert werden. Der Chancenspiegel kombiniert Daten der amtlichen Statistik mit Schulleistungsuntersuchungen und leitet vier Kategorien für ein leistungsfähiges und chancengerechtes Bildungssystem ab:
– In puncto Integrationskraft erreicht Sachsen einen Mittelwert, der jedoch vorrangig durch den hohen Anteil an Ganztagsangeboten zustande kommt, parallel aber hat Sachsen eine hohe Förder- und Exklusionsquote.
– Bei der Durchlässigkeit weist der Freistaat eine durchschnittliche Zahl der Übergänge ans Gymnasium auf, jedoch deutlich mehr Abwärts- als Aufwärtswechsler; relativ wenige Schülerinnen und Schüler müssen eine Klasse wiederholen und viele Hauptschülerinnen und -schüler finden einen Ausbildungsplatz im dualen System.
– Bei der Kompetenzförderung wird den sächsischen Schülerinnen und Schülern eine gute Lesekompetenz bescheinigt, auch die leistungsschwächsten Viertklässler zeigen immer noch gute Ergebnisse, die leistungsstärkste Gruppe gar überdurchschnittliche; benachteiligte Schülerinnen und Schüler erreichten in Klasse 4 52 Kompetenzpunkte weniger als privilegierte Kinder – ein im Vergleich geringer Abstand.
– Nur bei der Zertifikatsvergabe findet sich Sachsen in der unteren Gruppe der Bundesländer wieder: Nur 40,6 Prozent der Abgänger erreichen die Hochschulreife, mit 9,3 Prozent bleibt nach wie vor fast jede/r Zehnte ohne Abschluss, auch wenn diese Zahl in den vergangenen Jahren gesunken ist.
So kann es keine Entwarnung für Sachsen geben, auch wenn "der soziale Gradient [in Sachsen] der kleinste im Bundesländervergleich" ist, d.h. ein geringer Zusammenhang zwischen gemessenen Kompetenzen und sozialer Herkunft besteht, wie der IQB-Ländervergleich 2011 feststellte. Zu den politischen Forderungen, die die LINKE in ihrem Entschließungsantrag ableitet, noch ein paar Bemerkungen:
Eine genauere Betrachtung von einzelnen Zielgruppen wäre sicher ein Weg, in der Folge eine geeignete Zielgruppenansprache zu finden und Ungerechtigkeiten im Bildungssystem anzugehen. Als Beispiel sei hier die Große Anfrage meiner Fraktion zu Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund genannt. Außerdem sollte der Sozialraumbezug stärker Berücksichtigung finden – so kann die Kindertagesbetreuung vor allem in Ortsteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf wichtige Ausgleichsfunktionen übernehmen – wir haben dazu einen Gesetzentwurf eingebracht, um Kitas in diesen Ortsteile gezielt fördern zu können. Und natürlich müssen die Bildungsverläufe aller Kinder inkludierend angelegt sein, wir brauchen mehr echte Ganztagsschulen und ein längeres gemeinsames Lernen. Diese Forderungen unterstützen wir.
Der Großen Anfrage hingegen fehlen wichtige Analysedaten und ein Plan, wie die Daten einzuordnen sind. Der Entschließungsantrag fasst in der Folge viele Allgemeinplätze zusammen, es stellt sich die Frage nach Aufwand und Nutzen bzw. Aufwand und Ertrag. Dennoch, das steht außer Frage, sind einige wichtige Punkte wie die Verbesserung des Betreuungsschlüssels in der Kita und den Ausbau von Ganztagsschulen im Antrag enthalten, sodass ich meiner Fraktion die Zustimmung empfehle.

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