Antje Hermenau: Gelungene Integration senkt Ängste

Redebeitrag der Abgeordneten Antje Hermenau zur Aktuellen Debatte zum Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN "Humanität heißt Verantwortung übernehmen – Sachsen braucht eine neue Flüchtlingspolitik“, 85. Sitzung des Sächsischen Landtages, 17. Oktober 2013, TOP 1
– Es gilt das gesprochene Wort –
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Wenn man gründlich hinschaut, weiß man, dass die Deutschen ein Mischvolk sind, und diesem Mischvolk sind wir laut Verfassung tatsächlich verpflichtet.
Ich komme darauf zurück, was das bedeutet. Ich habe in der Debatte den Satz gehört, wir können die Probleme Afrikas in Sachsen nicht lösen. Der Beifall kam nur von einer Fraktion. Das haben Sie hoffentlich gemerkt. Es geht hier nicht um moralischen Ablasshandel, indem man behauptet, man könnte in Ländern mit einer Regierung, die völlig versagt, was in den Bürgerkrieg mündet, mit einem Entwicklungshilfeprojekt etwas Gutes bewirken.
Was treibt denn einen syrischen Vater mit zwei kleinen Kindern auf das Mittelmeer hinaus, das früher übrigens historisch das Mare nostrum, unser gemeinsames Meer, gewesen ist? Ein Bürgerkrieg und die Sorge darum, dass seine Kinder von einer Waffe getötet werden oder bei einem Giftgasangriff ums Leben kommen. Es ist dann so, dass das Boot kentert und er sich das Baby auf den Bauch legt, auf dem Rücken schwimmt und das dreijährige Kind versucht an sich zu pressen. Er hält das eine Stunde durch – Sie haben ja selbst mit dieser moralischen Art der Debatte begonnen – und dann muss er den Dreijährigen absinken lassen, weil er es nicht schafft, ihn zu halten. Ihn hat doch nicht hinausgetrieben, dass er denkt, in Deutschland fließen nur Wein und Honig.
Ihn hat hinausgetrieben, dass er Sorge hatte, seine Kinder würden sterben.
Eltern verstehen, wovon ich spreche. Da kann man sich nicht damit herausreden – denn Sie wissen offensichtlich überhaupt nicht, wovon Sie reden -, Entwicklungshilfe würde helfen. Ich habe mich selbst jahrelang in der Entwicklungshilfe gerade im Maghreb und auf der arabischen Halbinsel engagiert. Ich kann Ihnen sehr viele Geschichten dazu erzählen. Wenn die Regierungen dort versagen, wenn es Krieg und Hungersnöte gibt, dann hilft auch ein kleines Entwicklungshilfeprojekt nicht mehr. Dann gilt es, Menschenleben zu retten.
Wenn ich schon wieder dieses „Gequatsche“ von den lupenreinen Wirtschaftsasylanten höre: Nun, bis ins 20. Jahrhundert hinein waren die Deutschen die größte, stärkste und wirtschaftlich engagierteste Einwanderungsgruppe in den Vereinigten Staaten von Amerika. Sie waren übrigens “lupenreine Wirtschaftsasylanten“. Sie sind aus Deutschland abgewandert aufgrund von Bürgerkrieg und wirtschaftlicher Unzufriedenheit. Sie waren übrigens auch stärker vertreten als die Iren, die Briten oder die Polen, die auch alle aus wirtschaftlichen Gründen aus ihren Ländern emigrierten. Es ging um bessere Lebensbedingungen als in der Heimat.
Heute erleben wir, dass wir über RTL 2 im Fernsehen bestaunen können, dass es Menschen gibt, die der Meinung sind, sie müssten mal einen Selbstfindungstrip in Norwegen oder Kanada ausprobieren, während in Syrien der Vater mit seinem Kind den Trip übers Meer wagt. Übrigens gab es auch aus Sachsen Bezüge dazu, was die USA betrifft. Die Herrnhuter Brüder haben im 18. Jahrhundert in Pennsylvania drei Orte gegründet. Sie haben es getan, weil dort die Verfassung besonders liberal war und auch religiös verfolgten Minderheiten die Möglichkeit bot, sich dort anzusiedeln.
Benjamin Franklin hat einmal gesagt, dass diese Gruppe gefährlich kulturell rückständig sei, dass sie eine undemokratische lntegrationsverweigerung betriebe. Also übrig geblieben sind die Texasdeutschen und die Amish-People aus dieser Situation heraus. Die anderen wurden im 20. Jahrhundert sehr stark integriert, weil ihr Wurzelland Deutschland zweimal Krieg in ihrer neuen Heimat begonnen hat.
Das alles sind Vertreibungsgeschichten, alles sind Flüchtlingsgeschichten.

Wir können es noch klarer machen. Vor 25 Jahren gab es auf unserem Gebiet hier in Sachsen eine Flüchtlingswelle. Das waren Flüchtlinge aus der DDR, aus meiner Sicht, einem Regime, das versagt hat, um das klar zu sagen. Diese Flüchtlinge wollten für sich und ihre Kinder ein besseres Leben. Das war alles und sie flohen damals in einen anderen noch existierenden Staat. Kriegsflüchtlinge haben deutsche Geschichte immer geprägt, auch die sächsische.
Aber es gibt auch etwas Gutes. Das Gute waren die heutigen Einlassungen von Ihnen, Herr Gillo. Ich bin beeindruckt von der Klarheit Ihrer Worte. Sie haben meine volle Unterstützung. Machen wir aus Asylanten Flüchtlinge und Einwanderer, machen wir aus ihnen Verfassungspatrioten, integrieren wir sie in unsere Gesellschaft. Sie haben meine volle Unterstützung.
Wenn ich höre, das sächsische Boot sei voll, dann möchte ich einmal wissen, ob Sie damit sich entleerende Dörfer und kleinere Städte im sächsischen Raum meinen, die übervoll seien und deswegen keine Menschen vertrügen? Wo ist dann das sächsische Boot voll, bitte schön? Es hat mich ein bisschen gestört, dass bei dem Thema Asyl vor allem auf wirtschaftliche Nützlichkeit geachtet wird. Ich glaube, dass man Asyl nicht so behandeln kann. Aber wir müssen insgesamt neu über geordnete Migration, über Asyl, das etwas anderes ist, und auch über Flüchtlinge reden. Das müssen wir gemeinsam tun. Dann müssen wir auch noch stark genug sein, es als Chance für unser Bundesland zu begreifen.
Ja, sehen Sie, ich bin mit solchen Problemen bereits seit über 20 Jahren politisch befasst.
Ein Land wie der Jemen, das zu den zehn ärmsten Ländern der Welt gehört, nimmt pro Jahr mehr als 50.000 Menschen aus Somalia auf. Und der Jemen hat selbst nichts zu beißen, wenn man das so freundlich sagen darf. Wir nehmen 5.000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien auf und klopfen uns dafür auf die Schulter, ein 80-Millionen-Volk. Das steht in keinem Verhältnis zueinander.
Der Punkt, auf den ich hinaus will, ist folgender:
Wir haben in den letzten Jahrzehnten – da rechne ich jetzt einmal gesamtdeutsch – sicherlich mehr Laissez-faire als wirkliche Toleranz betrieben, was die Frage von Integration betraf. Ich habe früher immer kritisiert, dass ich die Integrationspolitik auch der Neunzigerjahre als verfehlt betrachtet habe – aus dieser Angst heraus, dass es vielleicht zu Zuständen kommen könnte, die einige westdeutsche Großstädte echt haben und die sie jetzt mit viel Kraft, Geld und Einsatz lösen müssen. Aus dieser Angst heraus hat sich hier in unserem Bundesland eine geistige Haltung verfestigt, die ich auch bei Ihnen herausgehört habe, von der ich glaube, dass sie uns auf Dauer schaden wird, dass sie unsere Zukunft behindert. Es ist eine Mär, dass nur Leute Flüchtlinge sind, die hier in die Sozialsysteme einwandern und die nicht in der Lage sind, Beiträge in der Gesellschaft zu leisten. Auch wenn es nur die Kinder der Flüchtlinge sind, Sie hätten diesen einen Satz nicht bringen dürfen. Es war ein Zitat, ich habe es extra mitgeschrieben.
Der Vorredner hat die Frage der Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme thematisiert. Ich nehme darauf gern Bezug.
Es gibt interessante Studien zum Land Israel, welches in den letzten 20 Jahren innerhalb von zwei Dekaden einen sehr hohen Bevölkerungsanteil neu integriert hat, und zwar die Russen. Diese Integration aus Russland hat viele Gefühle ausgelöst. Noch vor vier oder fünf Jahren war es in der israelischen Bevölkerung bei ungefähr der Hälfte der Alteingesessenen, die vor 1989 da waren, unumstritten, dass die neuen Israelis ihnen in den Sozialsystemen Konkurrenz machen und ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen. Fünf Jahre später, nach gelungener Integration – das waren größere Massen, als wir uns das hier in Sachsen vorstellen können – ist es so weit, dass nur noch ein Viertel der Bevölkerung dieser Auffassung ist.
Das heißt: Gelungene Integration senkt Ängste. Jetzt zitiere ich einmal aus den Studien: „Die Einwanderung hat das soziale Gefüge der Städte in Israel auch gerettet, hat ihren Niedergang aufgehalten und sie zu gesuchten Wohngegenden gemacht.“ Das heißt: Da, wo der Niedergang aus eigener Kraft gar nicht mehr aufzuhalten war – ich rede jetzt einmal von sich entleerenden Dörfern und Landschaften in Sachsen -, gab es eine Möglichkeit, einen Neuanfang zu finden.
Wer der Meinung ist, das müsse alles sofort passieren, der irrt sich. Die Kinder und Nachfahren von Flüchtlingen, aus denen dann Einwanderer und Verfassungspatrioten wurden, können Großes leisten. Damit komme ich jetzt auf die USA zurück. Herbert Hoover, Präsident der Vereinigten Staaten und Nachfolger von Präsident Franklin Roosevelt, hatte deutsche Vorfahren. Dwight Eisenhower, ebenfalls Präsident der USA, hatte Vorfahren aus dem Saarland, und Henry Kissinger, Außenminister in den Sechziger- und Siebzigerjahren in den USA, war gebürtiger Deutscher.

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