Elke Herrmann: Welche Fachkräfte werden in Zukunft die nötigen Pflegeleistungen erbringen?

Rede der Abgeordneten Elke Herrmann zum Aktionstag Pflege und zum Antrag "Pflege braucht Zeit – Reformstau in der Pflegpolitik in Sachsen auflösen" (SPD, Linke, GRÜNE), 65. Sitzung des Sächsischen Landtages, 18. Oktober 2012, TOP 6

– Es gilt das gesprochene Wort –
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Sehr geehrte Damen und Herren!

1. Warum ist Pflege ein wichtiges Thema?

Immer mehr Menschen in Sachsen erreichen heute ein hohes oder sehr hohes Lebensalter. Damit steigt auch ihr Risiko der Pflegebedürftigkeit und auch ihr tatsächlicher Pflegebedarf. In der Folge wird professionelle Unterstützung immer stärker in Anspruch genommen.

Dies belegt beispielsweise die 2011 veröffentlichte Studie des Sozialministeriums Alter-Rente-Grundsicherung, die unterschiedliche Szenarien für den Anstieg der Pflegefälle in Sachsen für die Jahre 2020,2030 und 2050 vorstellt. Regionalisiert wird der Anstieg stationärer Pflegeplätze und die Kosten der Hilfe zur Pflege für die Kommunen berechnet. Der zusätzliche Bedarf an Pflegeheimplätzen erhöht sich beispielsweise in einem Status quo Szenario von 44.963 Plätzen 2009 auf 84.903 Plätze 2050. Welche Fachkräfte diese professionellen Pflegeleistungen erbringen werden, bleibt dabei völlig offen.

Für die Menschen mit Behinderungen liefert das „Sächsische Gesamtkonzept zur Versorgung älterer Menschen mit Behinderung“ vom 29.09.11 aktuelle Zahlen. 2011 leben in Sachsen 15.000 Menschen mit Behinderungen in Wohnformen, 10.000 davon in stationären Wohnformen. Eine Pflegestufe nach SGB XI haben 7.500 dieser Menschen. Bis zum Jahr 2025 wird im stationären Bereich mit einer 5fachen Erhöhung der Zahl alter Menschen mit Behinderung gerechnet.

Die Mehrzahl der Menschen wünscht sich, auch bei zunehmendem Hilfe- und Pflegebedarf in der eigenen Wohnung zu wohnen. Auch Menschen mit Behinderungen wollen für sich ein normales Alltagsleben, das ihre Privatsphäre und ihre individuellen Bedürfnisse respektiert. Wohnraum, Betreuungs- und Pflegeleistung möchten sie nach ihren eigenen Wünschen kombinieren können.

Diesen Wünschen und Bedürfnissen der Menschen nach Individualität, Normalität und Alltagsnähe steht in Sachsen eine in über 20 Jahren aufgebaute Pflege- und Eingliederungshilfeinfrastruktur gegenüber, die im Bundesvergleich allerdings überproportional auf stationären Angeboten setzt.
Sachsen ist seit 2009 in der Pflicht, die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen umzusetzen. Dies und auch die weitere demografische Entwicklung sowie die rückläufige Finanzausstattung des Landes sowie der Kommunen, sollten das Land nun zu einer umfassenden Umsteuerung veranlassen.

Entscheidend wird sein, dass das Land seine Steuerungsverantwortung tatsächlich wahrnimmt und die bestehenden Fehlentwicklungen korrigiert. Sachsen braucht eine landespolitische Zielsetzung zum Thema Pflege, die Verbindlichkeit beansprucht und das Ergebnis eines gemeinsamen Diskurses ist.
Das Land ist in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass auf den kommunalen Ebenen sowohl die Überzeugung, wie der Wissensstand vorhanden ist, den demografischen Wandel konstruktiv und im Sinne der Menschen zu gestalten.

Dazu ist es erforderlich die Politikfelder Behindertenpolitik, Altenpolitik, Pflegepolitik, Familienpolitik, Engagement des Sozialministeriums, Wohnungspolitik des Innenministeriums und Demografiepolitik der Staatskanzlei miteinander in Verbindung zu bringen und einen aufeinander abgestimmten Lösungsansatz zu entwickeln.
Derzeit ist nicht absehbar, dass die aktuelle Regierung das zustande bringen wird.

2. Das Land hat die Kompetenzen in der ambulanten Pflege, in der stationären Pflege und bei der Unterstützung von pflegenden Angehörigen

Dass ein Netz aus ambulanten und stationären Pflegediensten und Einrichtungen über dem Land liegt, ist die Folge der Pflegeversicherung. Dass wir in Sachsen mehr stationäre Plätze als im Bundesdurchschnitt haben, ist eine Folge mangelnder Steuerung durch das Land.

Gerade der ambulante Bereich muss gestärkt werden und die Menschen, mit Hilfe- und Pflegebedarf und deren Angehörige müssen befähigt werden, dass sie den Hilfebedarf decken können und der Betroffene trotzdem in der eigenen Häuslichkeit wohnen kann. Das setzt eine gute Beratung und erreichbare Unterstützungssysteme wie z.B. Pflegebegleiter, Alltagsbegleiter aber auch bezahlbare haushaltsnahe Dienstleistungen voraus. Derartige Angebote gibt es in Sachsen, aber sie sind nicht flächendeckend und es liegt eben kein Konzept dahinter.

3. Landespolitische Konzeption erforderlich – Anforderungen an ein Pflegegesetz für Sachsen

Um diese Kompetenzen zu nutzen: ist ein Konzept erforderlich – eine landespolitische Zielsetzung zum Thema Pflege, die Verbindlichkeit beansprucht und das Ergebnis eines gemeinsamen Diskurses ist – aus dem sich dann die entsprechenden Gesetzesinitiativen ergeben: Lösung – neues Landespflegegesetz das einen rechtlichen Rahmen setzt und Strukturen schafft:

  • seit 2003 gibt es kein Landespflegegesetz in Sachsen. Das Sächsische Landespflegegesetz wurde immer nur verkürzt als ein Investitionsfördergesetz aufgefasst
  • mit landespolitischer Zielsetzung zum Thema Pflege, als Ausdruck und Ergebnis eines gemeinsamen Diskussionsprozesses der beteiligten Akteure
  • Beschreibung der erforderlichen Strukturen, Vernetzungen und Beratungsangebote, damit Land und Kommune ihre Daseinsaufgabe gewährleisten (sog. Welfare-Mix d.h. ein Zusammenwirken von Professionellen, Marktakteuren, Staat, Kommune, Familie, Selbsthilfe/Nachbarschaft), als lernendes System konzipiert, das Lernen muss sich in entsprechender Berichterstattung niederschlagen
  • entsprechende Zuordnung der Aufgabenkompetenz zwischen Land und den kommunalen Ebenen
  • einrichten einer Landespflegeplanung z.B. in Form eines Entwicklungsmonitorings
  • goldener Zügel (finanzielle Anreize durch das Land) – was stellen Sie sich dabei vor?

Sachsen hat das Gesetz zur Regelung der Betreuungs- und Wohnqualität im Alter, bei Behinderung und Pflegebedürftigkeit im Freistaat Sachsen (Sächsisches Betreuungs- und Wohnqualitätsgesetz – SächsBeWoG) am 13.Juni 2012 verabschiedet. Am 11.08.2012 wurde es im Sächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt veröffentlicht und ist seitdem in Kraft.

GRÜNE Bewertung des BeWoG:

  1. Titel führt in die Irre: das Gesetz regelt nur stationäre Versorgungsformen
  2. Chance auf Paradigmenwechsel wird vertan: nicht der Mensch, sondern die Einrichtung bleibt im Fokus
  3. UN-Behindertenrechtskonvention dient als hübsche Hülle, durchdringt den Gesetzestext aber nicht, wird explizit erst durch den Änderungsantrag der Koalition in den Gesetzestext eingefügt.
  4. Begriffsdefinitionen schaffen keine Klarheit – dem Gesetz ist ein Plus/Minus oder schwarz/weiß Schema hinterlegt, es fragt ab ob etwas ein Heim oder kein Heim ist, danach richtet sich, ob das Gesetz gilt, oder nicht. Betreutes Wohnen wird definiert und fällt nicht unter das Gesetz. Bei den nicht selbstorganisierte Wohngruppen oder Wohngemeinschaften wird es schwierig. Das Gesetz legt als Unterscheidungs-Kriterium die 24 stündige Anwesenheit einer Betreuungskraft zugrunde – egal ob diese sich um einen oder um alle WG-Bewohner kümmert. Dies ist das Kriterium, ob das Gesetz vollumfänglich greift oder eben nicht. Dies wird keine Rechtssicherheit für den vorstationären Bereich schaffen, weder für die Träger noch für potenzielle Interessenten.
  5. Die Heimaufsicht wird am 1.1.2013 an den KSV (Kommunaler Sozialverband) übertragen. Die Hand, die das Geld gibt, soll sich künftig selbst kontrollieren. Das ist nicht mit der UN-Behindertenrechtskonvention konform.
  6. Der VerbraucherInnenschutz im Gesetz ist eine Mogelpackung. Das BeWoG ist in Bezug auf die Informationspflichten schwächer, als das bisherige HeimG, denn es muss nur noch über die Beratungs- und Beschwerdestellen informiert, nicht aber auf das Recht auf Beratung und Beschwerde bei Mängeln unter Nennung der konkreten Anschriften informiert werden. Bei möglichen Transparenzregelungen vergibt das BeWoG die Chance, für Sachsen zu regeln, dass die Prüfberichte des MDK und der Heimaufsichten zu sog. Transparenzberichten zusammengeführt werden. Transparenzberichte müssten Kriterien enthalten, die es ermöglichen, eine ganzheitliche Beurteilung der Lebens- und Teilhabebedingungen in einer Einrichtungen vornehmen zu können (vgl.NRW, Hamburg)
  7. Regelungen zur Sicherstellung der Teilhabe und ihrer spezifischen Qualität fehlen.
  8. Weiterentwicklung, Erprobung von Neuem

Das BeWoG verpflichtet Träger, die mit einer Ausnahmegenehmigung Neues ausprobieren wollen, nicht mehr zur wissenschaftlichen Begleitung und Auswertung, sondern nur zu einer gutachterlichen Auswertung. Diese Kosten hat der Träger tragen. Da neue Betreuungs- oder Wohnform im öffentlichen Interesse liegen, sollte die Staatsregierung eine Kooperation mit einer Hochschule oder FH organisieren oder sich an den Kosten beteiligen.

GRÜNE Änderungsanträge im Gesetzgebungsverfahren wurden beide abgelehnt:

  1. Heimaufsicht nicht zum KSV, sondern bei Landesdirektion belassen
  2. Begleitende Evaluation des Gesetzes und Bericht an den Landtag nach zwei Jahren vorsehen, mit dem Ziel das Gesetz dann umfassend zu novellieren

Lösung:

  • Novellierung des Gesetzes
  • Zum 1.1.2013 das Pflegeneuausrichtungsgesetz in Kraft tritt, das Wohngemeinschaften von Pflegebedürftigen fördern will, aber nur dann, wenn diese nicht unter das Heimrecht fallen

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