Elke Herrmann: Wer jungen Menschen in Sachsen eine Perspektive geben möchte, der muss die Bedürfnisse ergebnisoffener erfragen

Redebeitrag der Abgeordneten Elke Herrmann zu den Anträgen von SPD und LINKE:
"Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in Sachsen" (Drs. 5/14746),
"Sozialräumliche Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen wirksam bekämpfen" (Drs. 5/14745)
und Unterrichtung der Staatsregierung zum "Vierten Sächsischen Kinder- und Jugendbericht" (Drs. 5/14563)
101. Sitzung des Sächsischen Landtages, 10. Juli 2014, TOP 8


– Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Gestaltung dieses Tagesordnungspunktes sagt einiges über den Stellenwert der Kinder- und Jugendhilfe in Sachsen. Die Veröffentlichung des "Vierten Sächsischen Kinder- und Jugendberichts" war für Anfang 2014 vorgesehen, wurde bis zum Ende der Legislatur aufgeschoben und nun in der letzten Ausschusssitzung behandelt. Dem Vorschlag der Koalition, den Kinder- und Jugendbericht ohne Aussprache in dieser Landtagssitzung zu behandeln, haben wir widersprochen, denn dieser Bericht wird die Grundlage für die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in Sachsen in den nächsten fünf Jahren bilden.
Wir kritisieren unter anderem das Forschungsdesign. Besonders hervorgehoben wurde die Online-Befragung von 2.000 Jugendlichen im Alter von 11 bis 26 Jahren, die in den Kinder- und Jugendbericht eingeflossen ist. Genauere Angaben über den Zeitraum der Befragung und die altersmäßige Verteilung der Befragten sind im Bericht nicht zu finden. Das ist aber durchaus von Bedeutung, wenn die Befragung ca. 30 Minuten dauerte und teilweise sehr anspruchsvolle Fragen beinhaltete, z.B. zur politischen Orientierung (Links-Rechts Gegensatz), Einkommensart der Eltern, Anstellungsverhältnis der Eltern und auch viele offene Antwortoptionen. Für 11- oder 12-Jährige ist so ein Fragebogen mit Sicherheit nicht einfach zu beantworten. Der Begleitbeirat, als Fachgremium das aus sieben Mitgliedern bestand – davon zwei aus dem Sozialministerium – tagte unregelmäßig. Auch seine Aufgaben werden im Bericht nicht klarer formuliert.
Zu den Ergebnissen: Der Bericht hat sich schwerpunktmäßig mit der demografischen Entwicklung in Sachsen und den Auswirkungen auf die Kinder- und Jugendarbeit konzentriert. Dabei wurden fünf Regionalkategorien entwickelt – von Großstädten bis hin zu Gemeinden im peripheren ländlichen Raum. Diese Kategorisierung zeigt, dass die dramatischen Kürzungen in der Jugendhilfe ab dem Jahr 2010 auch die Wahrnehmung der Befragten widerspiegeln. Die Kürzung der Jugendpauschale führt zu einer drastischen Ausdünnung der Freizeitangebote – über 70 Prozent der Befragten in den Städten bezeichnen die Freizeitangebote als ausreichend, in den ländlichen Regionen nur 14,5 Prozent. Bei der Frage nach dem "Besuch von Jugendzentren/-clubs" (Bericht S. 71) gaben 40,4 Prozent der Befragten im Raumtyp 5 (= sehr ländlich) an "Bei uns gibt es kein Jugendzentrum". 31,9 Prozent der Befragten gaben an "Der Weg ist zu weit".
In der Stellungnahme der Staatsregierung zum Kinder- und Jugendbericht werden Probleme anerkannt, die sich durch das Handeln der Staatsregierung verschärft haben. Im Fazit wird darauf hingewiesen, dass eine "stärkere Orientierung auf die Lebensphase Jugend wichtig" ist, ebenso wie die Initiierung von "mehr Teilhabe- und Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche und mehr Freizeitorte im (un-)mittelbaren Lebensumfeld". In besonders strukturschwachen Räumen wird eine Verschränkung der Kinder- und Jugendhilfeplanung mit der Schulnetzplanung der Landkreise und kreisfreien Städte zu einer Bildungsplanung angeregt – die bei Bedarf auch durch das Land unterstützt werden kann. Diese Ansätze, für eine bessere Jugendarbeit in Zeiten des demografischen Wandels sind wichtig und sinnvoll – jedoch nicht neu.
Die Botschaft von Frau Clauß, der Kinder und Jugendbericht zeige "auffallend viele junge Menschen in Sachsen schauen optimistisch in die Zukunft" ist deutlich zu kurz gegriffen. Alle drei Fragestellungen, die die Ministerin für ihre Aussage heranzieht, haben einen beruflichen Bezug und vernachlässigen die anderen Gesichtspunkte, die junge Menschen dazu bewegen können, ihren Wohnort nicht zu wechseln, zum Beispiel die Bildungspolitik, Gleichstellung oder Teilhabemöglichkeiten vor Ort. Unangesprochen bleibt der Widerspruch, dass 51,3 Prozent der Frauen und 42,5 Prozent der Männer die Absicht haben wegzuziehen. Die Bleibeorientierung ist also gering. UND auf Seite 55 ist festgehalten: nur für etwa die Hälfte der Befragten mit Wegzugswunsch ist der Arbeitsplatz der entscheidende Grund. Die andere Hälfte kreuzte "Anderer Grund" an, wobei nicht offen nachgefragt, wurde um welche Gründe es sich genau handelt. Wer jungen Menschen in Sachsen eine Perspektive geben möchte, der muss die Bedürfnisse ergebnisoffener erfragen.
Wir haben uns in dieser Legislatur dafür eingesetzt die Rechte von Kindern und Jugendlichen durch einen Gesetzentwurf zu stärken, u.a. indem ihre Rechte auf Schutz, Partizipation und Prävention in der Verfassung verankert werden. Unsere parlamentarischen Initiativen für ein kinder- und jugendgerechteres Sachsen wurden von der Staatsregierung alle abgelehnt. Ebenso wie unsere Änderungsanträge zum Haushalt, in denen wir unter anderem die Wiedereinführung einer Jugendpauschale von 14,30 Euro gefordert haben und mehr Geld für eine überörtliche Jugendhilfeplanung. Hoffnung macht nur, dass unsere Initiative, eine unabhängige Servicestelle für Kinder- und Jugendbeteiligung in Sachsen einzurichten, von der Staatsregierung aufgegriffen wurde und derzeit eine Konzeption erarbeitet wird. Leider ist weder der Anspruch von Kindern und Jugendlichen, Angebote der offenen Jugendarbeit in erreichbarer Nähe (und eigentlich auch verschiedene Angebote – SGB VIII) zu finden, Grundlage der Bemühungen und Planungen der Staatsregierung. Völlig übersehen wird auch deren präventiver Charakter in Bezug auf verschiedene Gefährdungen des Aufwachsens.
Den Antrag der SPD-Fraktion unterstützen wir in seinem Anliegen. Darin wird ein Bündel an Vorschlägen formuliert, mit denen Kontinuität in der Kinder- und Jugendhilfeplanung sichergestellt werden soll. Auch die Überprüfung des Vergabeverfahrens mit Blick auf den nächsten Kinder- und Jugendbericht halten wir, nach der von uns angebrachten Kritik, für sinnvoll. Die Forderung nach einem "wissenschaftsbasierten Kompetenzzentrum", das eine empirische Grundlage für die Jugendhilfeplanung schaffen soll, betrachten wir mit Zurückhaltung. Diese Aufgabe kann dem Statistischen Landesamt übertragen werden, wenn dieser Forschungsauftrag im Sinne des Sozialministeriums ist.
Differenziert betrachten wir die Forderung nach einer flächendeckenden Schulsozialarbeit. Wir GRÜNE fordern neben einem Gesamtkonzept des Freistaates und der Überführung der Schulsozialarbeit in ein Regelangebot, die Berücksichtigung der kommunalen Bedarfsprognosen der jeweiligen Schul- und Jugendhilfeträger. Für uns ist es nicht in erster Linie entscheidend, jetzt sofort an allen Schulen Sozialarbeit zu etablieren. Wichtiger als Flächendeckung ist uns Nachhaltigkeit: Mit einer halben Stelle für drei Schulen werden die Probleme nicht zu lösen sein. Wir können nicht nachvollziehen, warum die LINKE Schulsozialarbeit ausschließlich durch das Kultusministerium finanziert wissen will. Denn Schulsozialarbeit ist im besten Sinne Beziehungsarbeit an der Schnittstelle von Schule und Jugendhilfe.
Der Antrag der Fraktion DIE LINKE fordert eine wirksame Bekämpfung sozialräumlicher Benachteiligungen, ohne jedoch konkrete Vorschläge zu formulieren. Der Anspruch schwankt zwischen "flächendeckend" und "bedarfsgerecht".
Der Vierte Kinder- und Jugendbericht hat Familienkonstellationen und Probleme benannt, die die Armut von Kindern und Jugendlichen begünstigen. In der Beschlussempfehlung ist vermerkt, dass die Staatsregierung zur Kenntnis nimmt: Familienhaushalte haben ein größeres Armutsrisiko als Haushalte ohne Kinder. Oder: Die Lebenslage Alleinerziehender ist mit einem höheren Armuts- und Einkommensrisiko verbunden. Daran könnte ihr Antrag sehr viel zielführender anknüpfen.
Unsere Fraktion wird sich aus den genannten Gründen beim Antrag der Fraktion DIE LINKE enthalten und dem der SPD-Fraktion zustimmen.