Jennerjahn: Deutschland und Sachsen sind keine Inseln – Arbeitskräfte müssen sich in diesem Wirtschaftsraum frei bewegen können

Redebeitrag des Abgeordneten Miro Jennerjahn zum Antrag der Fraktion LINKE „Arbeitsmarktpolitische Schutzinstrumentarien im Vorfeld der Herstellung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern aus den neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ in der 11. Sitzung des Sächsischen Landtages am 30. März 2010, TOP 5
Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren,

die Debatten um die Osterweiterung der Europäischen Union und die daraus resultierenden Folgen für den deutschen Arbeitsmarkt waren leider wieder einmal von Angst getrieben. Auch wenn es einige in diesem Raum überraschen mag: Deutschland und Sachsen sind keine Inseln. Wir bewegen uns in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum, und deswegen müssen sich Arbeitskräfte in diesem Wirtschaftsraum auch frei bewegen können.
Obwohl Deutschland einer der größten Profiteure der europäischen Einigung ist, hat sich die Bundesrepublik zum Rückfall in die Mottenkiste des Merkantilismus entschieden, indem die volle 7-jährige Übergangsfrist zur Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Anspruch genommen wurde. Statt nach den Chancen des Einigungsprozesses zu suchen und diese zu nutzen, wurden Ängste vor den Beitrittsstaaten und deren Menschen geschürt. Das endgültige Auslaufen der Übergangsfrist zum 1. Mai 2011 stellt somit das längst überfällige Ende des Systems der Europäer erster und zweiter Klasse dar. In diesem Zusammenhang sollte auch die Tatsache Erwähnung finden, dass immer mehr Menschen aus den ostdeutschen Bundesländern in den benachbarten neuen EU-Mitgliedsländern Arbeit finden.
Natürlich sind mit solchen weit reichenden Prozessen auch immer Risiken und Unwägbarkeiten verbunden, aber die starke Abschottungspolitik hat negative Konsequenzen auch für Sachsen hervor gebracht. Deutschland gehört neben Österreich zu den letzten Staaten, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit herstellen. Schweden hat die Übergangsfristen nie genutzt, andere EU-Staaten haben die Freizügigkeit früher hergestellt. Die Konsequenz: Sachsen hat in einigen Branchen bereits heute den Wettbewerb um Fachkräfte verloren, obwohl teilweise schon Fachkräftemangel herrscht. Und das in einer Situation, in der die Unternehmen zum Teil händeringend nach Fachkräften suchen.
Das Institut für Soziologie Jena stellte etwa im Jahr 2008 fest, dass in der Elektroindustrie der Anteil der Beschäftigten, die 50 Jahre oder älter sind, bei 34 Prozent liegt. Schlechte Noten stellten Unternehmen in einzelnen Branchen auch dem Fachkräfteangebot auf dem Arbeitsmarkt aus. So schätzten 62 Prozent der befragten Unternehmen im Bereich Metallerzeugung und –bearbeitung den regionalen Arbeitsmarkt als schlecht bis sehr schlecht ein. In der Textil- und Bekleidungsindustrie waren es 60 Prozent.
Der Blick auf die nächsten Jahre zeigt, warum wir eine vorausschauende Arbeitsmarktpolitik brauchen
Wer jetzt darauf verweist, dass die Zahlen aus der Zeit vor der Wirtschaftskrise stammen, unterschätzt die strukturellen Herausforderungen vor denen wir stehen.
Der Blick auf die nächsten Jahre zeigt, warum wir eine vorausschauende Arbeitsmarktpolitik brauchen, zu der selbstverständlich auch Zuwanderung gehört. Nach Angaben der IHK Leipzig gab es 2009 ca. 60.000 Eintritte in das Rentenalter. Dem standen rund 32.000 Schulabgänger gegenüber. Bereits in den Jahren 2010 und 2011 schrumpft die die für die Ausbildung relevante Altersgruppe auf 22.500 Jugendliche. Bislang wurden pro Jahr rund 30.000 Ausbildungsverträge geschlossen. Selbst wenn alle Jugendlichen der Altersgruppe eine Berufsausbildung beginnen würden, blieben 25 Prozent der Lehrstellen unbesetzt.
Dass aus Fachkräftemangel wirtschaftliche Einbußen und mithin Arbeitsplatzverluste verbunden sein können, dürfte einleuchtend sein. Damit haben sich die langen Übergangsfristen als Bumerang erwiesen.
Und auch das Argument, die langen Übergangsfristen seien notwendig gewesen, um die Schleifung von Sozialstandards zu verhindern, zieht nicht. Nationaler Protektionismus verhindert nicht den Abbau von Sozialstandards. Im Gegenteil, wo die reguläre Einstellung von ausländischen Fachkräften mit solchen Mechanismen verhindert wird, ist ein Einfallstor für Schwarzarbeit gegeben.
Wer Lohndumping und Niedriglohnkonkurrenz verhindern möchte, muss bereit sein, über branchenspezifische Mindestlöhne, sowie die Einführung verbindlicher Standards für in- und ausländische Beschäftigte zu diskutieren.
Und noch ein weiterer Aspekt ist wichtig in der Debatte. Wir müssen aufhören, Migranten und deutsche Arbeitskräfte gegeneinander auszuspielen. Wir brauchen Fachkräfte aus anderen Ländern, wir benötigen jedoch auch eine bessere Qualifikation und Integration derjenigen Gruppen, die bislang vernachlässigt wurden, etwa Frauen und ältere Menschen.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich, dass sich auch in der sächsischen Union allmählich die Erkenntnis durchsetzt, dass Sachsen ein Einwanderungsland ist bzw. sich dorthin entwickeln muss. Die Äußerungen von Dr. Gillo nach seinen ersten 100 Tagen im Amt sind ein Schritt in die richtige Richtung. Ich hoffe, dass dies nicht nur die Meinungsäußerung des sächsischen Ausländerbeauftragten war, sondern dass diese Positionen auch innerhalb der CDU mehrheitsfähig sind.
Zu guter Letzt: Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der LINKEN, ermöglicht eine wichtige Diskussion. Ich hätte mir allerdings mehr Konsequenz in der Wahl des Antragstitels und dem Antragsinhalt gewünscht, die einen gewissen Widerspruch beinhalten. Während der Antragstext und die Begründung ein klares Votum für die Arbeitnehmerfreizügigkeit beinhalten, erweckt der Titel den Eindruck den Rückfall in einen abgeschotteten Arbeitsmarkt zu fordern. Wir hatten aus diesem Grund gestern eine längere Diskussion in der Fraktion, wie wir uns zu diesem Antrag verhalten. Wenn Sie sich das nächste Mal zu diesem Thema Mühe geben, den Antrag in Gänze inhaltlich stringent aufzubauen, werden wir zustimmen. Heute werden wir uns aus dem genannten Grund enthalten.