Karl-Heinz Gerstenberg: Der gesetzliche Auftrag des Landesbeauftragten darf nicht auf die Staatssicherheit begrenzt bleiben

Redebeitrag des Abgeordneten Karl-Heinz Gerstenberg zum Gesetzentwurf der GRÜNEN-Fraktion
"Gesetz zur Verbesserung der Aufarbeitung der SED-Diktatur im Freistaat Sachsen" (Drs 5/13914)"
100. Sitzung des Sächsischen Landtages, 09. Juli 2014, TOP 4

– Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen:
"Die Unterdrückung der politischen Rechte und Freiheitsrechte in der DDR erfolgte nicht nur durch das MfS. Das MfS war nur Teil eines größeren Repressionsapparates, zu dem SED, Blockparteien, Nationale Volksarmee, Volkspolizei, Betriebskampfgruppen, die Innenverwaltungen und viele andere gehörten. Die augenblickliche Diskussion stellt eine Blickverengung auf das MfS dar, wobei die Hauptverantwortlichen in der SED unberücksichtigt bleiben."
Nein, diese nach wie vor aktuellen Sätze sind nicht der vorliegenden Drucksache entnommen. Sie entstammen der Begründung zum Gesetzentwurf "Sächsisches Landesgesetz zur persönlichen, politischen und historischen Aufarbeitung der Repression in der ehemaligen DDR", den unsere Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am 25. Februar 1992 eingereicht hatte. Er war unsere Alternative zum Regierungsentwurf eines Landesbeauftragtengesetzes, den mein Kollege Martin Böttger damals als "sehr dürftig" bezeichnete.
Gewiss war es unmittelbar nach der friedlichen Revolution wichtig, die verdeckte Arbeit des Staatssicherheitsdienstes und dadurch auch den repressiven Kern der SED-Diktatur offenzulegen. Das Interesse daran war riesengroß. Auf der Grundlage des im Juni 1992 verabschiedeten Gesetzes über Aufgaben und Rechtsstellung des sächsischen Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR haben die Landesbeauftragten bis heute eine wichtige und wertvolle Arbeit geleistet, für die ich ihnen und dem sehr kleinen, aber leistungsstarken Team in ihrer Behörde ausdrücklich danke.
Aber bereits damals, erst recht aber jetzt, fast ein Vierteljahrhundert nach der friedlichen Revolution, durfte und darf der gesetzliche Auftrag des Landesbeauftragten nicht auf die Staatssicherheit begrenzt bleiben. Diese Reduzierung trug von Anfang an die Gefahr in sich, dass die Auftraggeber für das "Schild und Schwert der Partei", die Funktionäre der SED, aus dem Blickfeld gerieten. Die Konzentration auf Täter und Opfer führt aber zudem zur Ausblendung der Alltagserfahrungen und Lebenswirklichkeiten einer übergroßen Mehrheit der Bevölkerung. Gerade im Interesse einer wirksamen Bildungsarbeit für die junge Generation, die die DDR nicht erlebt hat, ist es wichtig, die Aufarbeitung auf die Wirkungsweisen diktatorischer Herrschaftsformen insgesamt zu erweitern.
Michael Beleites, langjähriger Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, formulierte das in seinem Rundbrief im Dezember 2010 so: "Doch heute, wo die Zielgruppe der politischen Bildung überwiegend aus jungen Menschen besteht, die an die DDR keine eigene Erinnerung haben, hat dieses Bildungskonzept fatale Nebenwirkungen. Wenn man nämlich nur über Täter und Opfer spricht, behandelt man die Lebenswirklichkeit von weniger als zwei Prozent der damaligen Bevölkerung."
Das Machtsystem in der DDR stützte sich außer auf Angst und Androhung von Repressionen, von Ausgrenzung und von staatlicher Gewalt auch auf die Vergabe von Privilegien, auf das Suggerieren von Chancengleichheit. Die Staatssicherheit funktionierte nur, wie es Prof. Jarausch in der Anhörung ausdrückte, "weil es eine quasi-normale Normalität der Bürger außerhalb gegeben hat".
Der Arbeitsbereich des Landesbeauftragten wird deshalb im vorliegenden Gesetzentwurf über den Staatssicherheitsdienst hinaus auf das Gesamtsystem der Diktatur in der SBZ und der DDR ausgeweitet, also auch auf die Alltagsgeschichte und die sozialen Prozesse unter den Bedingungen ausgeklügelter Repressionsandrohungen.
In Anknüpfung an die bisherige Arbeit des Landesbeauftragten wird zudem im Gesetzentwurf ein ausdrücklicher Bildungsauftrag zu allen Wirkungsmechanismen der SED-Diktatur formuliert und die Dokumentationsarbeit in den Aufgabenkatalog aufgenommen. Dadurch soll er die Dokumentations-, Bildungs- und Forschungstätigkeit der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, der Landeszentrale für politische Bildung sowie von Forschungseinrichtungen unterstützen und ergänzen. Ebenso wird die Zusammenarbeit mit den in Sachsen tätigen Verfolgtenverbänden und Aufarbeitungsinitiativen als Verpflichtung in das Gesetz aufgenommen.
Um die Unabhängigkeit des Landesbeauftragten zu stärken und ihm eine möglichst breite politische Basis unter den demokratischen Fraktionen zu sichern, sollen die Landtagsfraktionen das Vorschlagsrecht für die Wahl erhalten und der Landesbeauftragte beim Sächsischen Landtag angesiedelt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
solche Änderungen hat der frühere Landesbeauftragte Michael Beleites über lange Jahre hinweg angemahnt. Die sächsischen Opferverbände und Aufarbeitungsinitiativen haben sich in ihrer Erklärung von März 2011 dafür eingesetzt und jüngst hat der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, auf einer Veranstaltung in der Dresdner Stasi-Gedenkstätte Bautzner Straße die beschriebene Erweiterung des Aufgabenbereiches gefordert. Nach Brandenburg 2009 hat im vergangenen Jahr auch der Thüringer Landtag sein Landesbeauftragtengesetz in dieser Richtung novelliert. Und auch der sächsische Landesbeauftragte Lutz Rathenow hat im Herbst 2011 eine Neufassung erarbeitet, die unserem Gesetzentwurf sehr ähnlich ist.
Es war deshalb zwar ungewöhnlich, aber für Eingeweihte eigentlich keine Überraschung, dass in der Anhörung die Sachverständigen in einer seltenen Einhelligkeit die Inhalte der Neufassung des Stasi-Landesbeauftragtengesetzes unterstützt haben.
Ilona Rau vom ehemaligen Bürgerkomitee Dresden begrüßte die gesamte Erweiterung des Aufgabenspektrums des Landesbeauftragten und bezeichnete die vorgesehene Anbindung des Landesbeauftragten an den Landtag als ‚hervorragend‘.
Prof Konrad H. Jarausch, namhafter Zeithistoriker, betonte, dass richtigerweise wie bisher Repression und Opfergeschichte im Gesetz angelegt seien. Aber die vorgesehene Öffnung sei notwendig, um den "Tunnelblick Staatssicherheit" aufzugeben, denn ‚Die Stasi war Schutz und Schild der Partei, aber die SED war das Entscheidende‘. Bildung, Forschung und Betreuung seien notwendige Aspekte der Arbeit des Landesbeauftragten, dessen Glaubwürdigkeit durch die Unabhängigkeit gestärkt würde.
Auch Michael Beleites befürwortete den Gesetzentwurf aus den genannten Gründen. Zusätzlich betonte er die Bedeutung der Dokumentation von Repressionserfahrungen von Betroffenen für die Bildungsarbeit des Landesbeauftragten. Die vorgesehene Zuordnung zum Landtag entspräche seiner ressort- und parteiübergreifenden Aufgabenstellung besser als die Zuordnung zu einem Ministerium.
Einziger Diskussionspunkt in der Anhörung war die vorgesehene Amtsbezeichnung ‚Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur‘. Wir haben uns in der erneuten Abwägung sehr bewusst nicht für den insbesondere von Michael Beleites vorgeschlagenen Begriff "kommunistische Diktatur" entschieden. Mit der Bezeichnung SED-Diktatur wird das Gesamtsystem der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR zutreffend beschrieben. Zudem ist sie historisch und politisch eingeführt, wie nicht zuletzt die "Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" zeigt. Insbesondere aber benennt diese Bezeichnung unmissverständlich die Hauptverantwortlichen der Diktatur und knüpft direkt an die Lebenswirklichkeit der Menschen aus der ehemaligen DDR an.
Trotz dieser großen Zustimmung und Unterstützung ist heute die mehrheitliche Ablehnung des Gesetzentwurfes zu erwarten. Ich hatte bereits 2011 den demokratischen Fraktionen des Sächsischen Landtages einen Gesetzentwurf übersandt, der dem heutigen weitgehend entspricht, mit dem Ziel, daraus einen gemeinsamen interfraktionellen Gesetzentwurf zu entwickeln. Unsere Fraktion war gesprächsbereit, konsensorientiert und offen für Verständigung. Ich danke allen, die dieses Gesprächsangebot konstruktiv aufgenommen haben und die deutlich gemacht haben, dass eine inhaltliche Einigung möglich ist. Das gilt insbesondere für den Arbeitskreis der CDU-Fraktion und Herrn Schiemann. Ich habe mich aber auch gefreut, dass die SPD- und die Linksfraktion zum Gespräch bereit waren.
Einer konstruktiven Einigung im Sächsischen Landtag stand ein einziges Problem entgegen, und das hat drei Buchstaben: FDP. Es war die FDP-Fraktion, die 2011 wie 2014 eine interfraktionelle Initiative gescheut hat wie der Teufel das Weihwasser. Inwiefern eine solche Haltung ihrer politischen Profilierung nutzt, mag die FDP selbst einschätzen. Es schadet auf jeden Fall den Interessen der Menschen, die beim Landesbeauftragten Beratung und Hilfe suchen, es schadet einer umfassenden Aufarbeitung der SED-Diktatur und der daran anknüpfenden Bildungs- und Dokumentationsarbeit.
Werte Kolleginnen und Kollegen,
ich halte nichts von Symbolpolitik, aber sehr viel davon, aus gegebenem historischen Anlass politisch zu handeln. Der 25. Jahrestag der friedlichen Revolution wäre ein hervorragender Zeitpunkt gewesen, das sächsische Landesbeauftragtengesetz weiterzuentwickeln. Diese Aufgabe steht nun vor den Abgeordneten der 6. Legislaturperiode und ich wünsche allen, die sich daran beteiligen werden, viel Erfolg!