Volkmar Zschocke: 50 Prüfaufträge auf 100 Seiten Koalitionsvertrag nennen wir jetzt Dynamik?

Erwiderung des Fraktionsvorsitzenden Volkmar Zschocke auf die Regierungserklärung:
„Sachsen ist unser Auftrag: mit Kontinuität und Dynamik im Herzen Europas“
3. Sitzung des Sächsischen Landtags, 13. November 2014, TOP 3

– Es gilt das gesprochene Wort –

Herr Präsident!
Meine Damen und Herren Kollegen!
Lieber Herr Tillich,
"Kontinuität und Dynamik" also.
Kurt Biedenkopf hat ja gesagt: "Eine CDU-SPD-Koalition wäre vor allem eine Entscheidung für Stabilität." Wie sicher seine Prognose ist, wird sich zeigen, drei Stimmen haben Ihnen ja gestern schon gefehlt. Und die echten Konflikte kommen ja erst noch.
Nun hat die SPD ja durchaus Änderungen durchgesetzt, in erster Linie heißt Kontinuität für Sie aber ‚Weiter so!‘.
Ich habe genau zugehört und mich gefragt, von welcher Dynamik Sie eigentlich reden werden. Aber vielleicht ist Prüfen das neue sächsische Wort für Dynamik. Und da sind 50 Prüfaufträge auf 100 Seiten Koalitionsvertrag schon ein richtig dynamischer Schritt. Für eine Partei, die ja selbst erklärt: „Seit 25 Jahren alles richtig macht.“
Zu Beginn einer Legislatur sollten zwischen den Koalitionspartnern zwar Ziele und Projekte verbindlich vereinbart werden, aber prüfen schadet ja erst mal nichts.
Aber es ist eben auch schade: Nichts wäre z. B. einfacher gewesen, der Opposition bei der Senkung der Hürden bei Volks- und Bürgerentscheiden die Zusammenarbeit anzubieten. Nein, Sie verstecken sich erst einmal hinter vielen Prüfungen.
Doch Sie haben nicht nur Prüfaufträge vereinbart, sondern auch einen konkreten kleinen Schritt zur Verbesserung des Betreuungsschlüssels in Krippen und Kitas. Schade ist nur, dass Sie sich dafür eine ganze Wahlperiode Zeit lassen wollen. Statt angezogener Handbremse wäre hier ein beherztes Vorgehen nötig. Dynamik sieht anders aus!
Dynamik vermissen wir auch im Bildungsbereich, dort bieten Sie uns dafür aber viel Kontinuität. Kontinuität wahren Sie z. B. bei der konsequenten Ablehnung der Gemeinschaftsschule. Die Möglichkeit für Oberschulen, eigenverantwortlich von der ‚Bildungsgangsdifferenzierung‘ abzuweichen, hat jedenfalls wenig mit längerem gemeinsamen Lernen zu tun.
Kurs halten Sie auch bei Ihrem Verständnis von Schulen in freier Trägerschaft. Für Sie sind diese lediglich eine Bereicherung des Angebots. Dass die Gleichstellung von freien Schulen mit staatlichen Schulen verfassungsgemäß vorgeschrieben ist, wollen Sie beharrlich und kontinuierlich nicht akzeptieren.
Viel Kontinuität gibt es auch im Hochschulbereich: Die beschlossenen Stellenkürzungen bis 2015 werden umgesetzt. Und bei der "Hochschulentwicklungsplanung 2025" haben Sie die erpresserischen Regelungen in den Zielvereinbarungen konsequent weiter entwickelt. Das heißt: Autonomie der Hochschulen bei der Schwerpunktsetzung gilt nur, sofern diese den Wünschen der Staatsregierung entspricht.
Diese Kontinuität ist nicht das, was ein innovativer Bildungs- und Hochschulstandort braucht, meine Damen und Herren! Und lieber Martin Dulig, liebe Frau Stange, wo sind Ihre Forderungen nach ausreichend Lehrkräften geblieben? Im Koalitionsvertrag gibt’s erst mal nur ein Minimalprogramm, dessen Finanzierung auch noch nicht geklärt ist.
Lieber Herr Tillich,
ich sah Sie bei Ihrem Sonderparteitag letzten Freitag in Radebeul unter den heißen Bühnenlampen ordentlich schwitzen, was Sie nicht davon abhielt, nette Späße über die künftige Energieversorgung zu machen.
Der jüngste Sachstandsbericht des Weltklimarates über den Anstieg der durchschnittlichen Temperatur ist allerdings nicht lustig, denn die Wissenschaftler stellen eindeutig klar, dass die Kohleverbrennung bis Mitte des Jahrhunderts global und vollständig beendet sein muss. Das Ende der Kohle als Energieträger steht also jetzt bevor.
Und Sachsen ist überhaupt nicht auf dieses Ende vorbereitet. Im Gegenteil: Ganze Regionen sind untrennbar mit der Braunkohle verbunden, tausende Familien leben davon. Diese Industrie dominiert die Lausitz wie keine andere. Und da ist es auch nicht lustig – trotz eindeutiger Signale über das absehbare Ende dieser Industrie weiter auf dieses Auslaufmodell zu setzen und dies auch noch als Perspektive für die Lausitz oder den Leipziger Raum zu verkaufen.
Herr Tillich,
wenn Sachsen Ihr und unser Auftrag ist, dann müssen wir jetzt eine Perspektive für die Lausitz entwickeln, jenseits der Kohle! Nur wenn das alte fossile System geplant und schrittweise zu Ende geführt wird, kann ein neues System entstehen mit enormen Wertschöpfungspotenzialen, mit Aufträgen für die ansässigen Handwerker, Mittelständler oder Dienstleister in der Region. Ein organisierter Strukturwandel in der Lausitz erfordert eine Grundsatzentscheidung zum Einstieg in einen geplanten Braunkohleausstieg. Alles andere ist waghalsig, enorm riskant und setzt die Perspektive ganzer sächsischer Regionen aufs Spiel!
Sie sprachen in Ihrer Erklärung auch von nachhaltiger Landwirtschaft. Als GRÜNER verstehe ich den Begriff der Nachhaltigkeit.
In einem Werbeprodukt der CDU zum Koalitionsvertrag habe ich aber einen unverständlichen Begriff entdeckt. Sie wollen da eine sogenannte ideologiefreie Landwirtschaft?
Ja was heißt das? Wollen sie künftig tatsächlich auf den Einsatz von Ideologie verzichten und auf umweltschädliche Pestizide, auf tierquälerische Haltungsbedingungen, und auf Gentechnik gleich mit?
Wollen Sie künftig darauf verzichten, das Wort „ideologisch“ als Kampfbegriff einzusetzen gegen kritische Verbraucher, gegen Bürgerinitiativen, gegen Umweltverbände, gegen Naturschützer und nicht zuletzt gegen uns GRÜNE?
Oder wollen Sie vielleicht auf die Ideologie des immer billigeren Produzierens, auf die Ideologie der Masse und Ertragsmaximierung verzichten?
Wir GRÜNE helfen Ihnen gern, die sächsische Landwirtschaft von all diesen Ideologien und Belastungen zu befreien und sie dafür an Gesundheit, Ökologie und Tierwohl zu orientieren!
Lieber Herr Tillich,
Sie wollen in die Verkehrsinfrastruktur investieren. Ich weiß, dass Sie damit auch den öffentlichen Verkehr meinen. Wir begrüßen, dass die neue Regierung unser Projekt Sachsentakt jetzt angehen will.
Allerdings: Die Umsetzung bleibt vage, da darf ich Ihnen unsere fachliche Expertise anbieten. Das setzt aber voraus, dass Sie das wirklich ernst meinen! Sonst bleibt das Ganze Stückwerk. Denn nur mit einer wirklich attraktiven, bezahlbaren Alternative zum Auto gewinnen wir mehr Menschen dafür, Bus und Bahn zu nutzen. Leider konterkarieren Sie diese Bemühungen mit Ihrem Bekenntnis zu neuen Straßen und Ortsumfahrungen, Sie müssen sich schon entscheiden, in welche Verkehrsinfrastruktur Sie die rückläufigen Finanzmittel künftig vorrangig investieren wollen:
In Asphaltbelag, den in ein paar Jahren keiner mehr reparieren kann? Oder in moderne, vernetzte, zukunftsfähige Mobilität?
Über einen richtigen Schritt in ihrer Koalitionsvereinbarung haben Sie gar nicht gesprochen, Herr Tillich. Das darf ich für Sie nachholen:
Die grüne Abgeordnete Elke Herrmann hat seit Jahren darauf hingewiesen, dass uns die Droge Crystal hier in Sachsen um die Ohren fliegen wird. Sie hat das hier problematisiert wie kaum jemand. Deshalb begrüßen wir es ausdrücklich, dass Sie der Prävention einen größeren Stellenwert eingeräumt haben und dies auch im Koalitionsvertrag fest verankert haben Sie dürfen sich sicher sein, dass wir das Thema weiter kritisch begleiten werden, denn es geht um mehr als Kriminalitätsbekämpfung.
Ich habe Ihre Worte zu den Asylsuchenden gehört, Herr Tillich! Am Freitag in Radebeul sprachen Sie zudem von dem großen Potenzial der zu uns Flüchtenden und wie wir dieses in Sachsen auch vor dem Hintergrund des steigenden Fachkräftebedarfes nutzen können.
Wir GRÜNEN werben allerdings für eine Willkommenskultur, die sich nicht nur auf Fachkräfte und Akademiker beschränkt. Denn Kriege, Not und Verfolgung zwingen immer mehr Menschen zur Flucht. Sie kommen auf langen, gefährlichen Wegen zu uns nach Sachsen.
Herr Tillich,
ich sehe sehr wohl, wie Sie gemeinsam mit den Oberbürgermeistern und Landräten derzeit versuchen, dieser Aufgabe gerecht werden. Um dafür zu sorgen, dass Flüchtlinge in Sachsen Schutz und ein menschenwürdiges Leben finden. Es ist richtig, diese große Aufgabe auch unmittelbar im Kabinett anzubinden. Aber wir brauchen auch endlich mehr Sozialarbeit und Mindeststandards bei der Unterbringung. Ehrenamt allein reicht nicht. Ehrenamt kann nur erfolgreich sein, wenn es daneben professionelle soziale Arbeit gibt. Ich sehe aber auch die wachsenden Proteste gegen die Aufnahme von Asylsuchenden. Und ich sehe, wer diese mit ausländerfeindlichen Ressentiments und Parolen anheizt.
Ich sehe, wie hier in den Dresdner Ortsbeiräten AfD-Vertreter in trauter Eintracht mit der NPD gegen das Konzept der Landeshauptstadt zur Erweiterung des Wohnangebotes für Flüchtlinge gestimmt haben. Was eigentlich kein Wunder ist, da selbst der Bundesvorsitzende der AfD Zuwanderer auch gern einmal als „Bodensatz der Gesellschaft“ bezeichnet.
Wenn ich für ein gemeinsames Auftreten aller Demokraten und aller zivilgesellschaftlichen Gruppen gegen Fremdenfeindlichkeit werbe, gehört eine Partei, die solch menschenverachtende Äußerungen einfach hinnimmt, nicht dazu. Demokraten erkennen die Menschenrechte ohne Wenn und Aber an! Asyl ist Menschenrecht!
Ihr Bekenntnis zur Polizei, Herr Tillich, macht Hoffnung auf eine bessere Personalpolitik,
die die Leistungsfähigkeit der Polizei in Sachsen wieder sichert. Bei genauer Betrachtung kommen da allerdings Zweifel, denn der Stellenabbau wird nicht wirklich gestoppt, sondern nur zeitlich gestreckt. Die Erhöhung des Einstellungskorridors von 300 auf 400 hatten Sie ja schon mit der FDP vereinbart. Aber das reicht eben nicht, weil jährlich MEHR als 400 Polizisten in Rente gehen oder die Polizei verlassen. Und da sehe ich Martin Dulig nach wie vor lange auf seine Uhr schauen – bis die Polizei kommt. Denn Interventionszeiten und deren Kontrolle haben sie nicht eingeführt.
Initiativen zur Stärkung der Bürgerrechte erwarten wir von Ihnen auch nicht, im Gegenteil: unter dem Stichwort ‚Effektivierung der Polizeiarbeit‘ droht in Verbindung mit moderner Technik eine weitere Erosion des Datenschutzes. Hier werden Sie in den kommenden Jahren in uns eine sehr wachsame und kritische Begleitung finden. Dass Sie uns ein Informationsfreiheitsgesetz vorlegen wollen, ist ein richtiger Schritt. Sachsen ist eines der letzten Bundesländer ohne ein solches Gesetz. Aber auch hier bleibt abzuwarten und genau zu prüfen, wie Sie Anspruchsvoraussetzungen und Ausnahmetatbestände ausgestalten.
Ihr ganzer Koalitionsvertrag ist auch für uns ein Prüfauftrag. Wir werden prüfen,

  1. was dieser Vertrag wert ist;
  2. welche Versprechungen sich im nächsten Doppelhaushalt tatsächlich niederschlagen;
  3. was sich hinter manch vager Formulierung verbirgt;
  4. und was aus den ganzen Prüfaufträgen am Ende herauskommt.

Die sächsische Prüf-Koalition wird sich somit selbst jedes Jahr dem Prüfbericht der Opposition stellen müssen.
Vielen Dank!