Datum: 01. Oktober 2020

Nord Stream 2: Partnerschaft braucht Menschenrechte, Europa braucht Klimagerechtigkeit

Redebeiträge der Abgeordneten Dr. Daniel Gerber und Franziska Schubert (BÜNDNISGRÜNE) zur Zweiten Aktuellen Debatte zum Thema: „Partnerschaft braucht Menschenrechte, Europa braucht Klimagerechtigkeit – Sachsens Energiepolitik und Nord Stream 2“
15. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Mittwoch, 01.10.2020, TOP 1

– Es gilt das gesprochene Wort –

MdL Dr. Daniel Gerber:
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
Ich habe letzte Woche einen Beitrag der Tagesschau vom 17.3.1995 gesehen. Darin warnte der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung, dass, wenn weiterhin große Mengen an Kohlendioxid in die Atmosphäre abgegeben werden, ein Gegensteuern in rund 25 Jahren nicht mehr möglich sein werde.
25 Jahre später stehe ich nun vor Ihnen und wir debattieren immer noch um genau diese Treibhausgasreduktion.
Das neueste Kapitel dieser Geschichte: der Bau einer Gaspipeline, die weder profitabel, noch für die klima- und energiepolitischen Ziele der Bundesregierung noch die der Europäischen Union notwendig ist, ja diesen Zielen sogar diametral entgegensteht.
Obendrauf kommt noch, dass diese Pipeline mehrheitlich einem Regime gehört, dass von Klimaschutz genauso wenig hält wie von Demokratie, Opposition, Menschenrechten, Journalismus und der Chemiewaffenkonvention.
Was ist das für ein Regime, von dem ich da spreche?
Ich erinnere hier beispielhaft an die Ermordung von Aleksandr Litwinenko, der regierungskritischen Journalistin Anna Politkowskaja, des Oppositionspolitikers Boris Nemzow, den versuchten Mord an Sergej Skripal und natürlich den Auslöser der heutigen Debatte: die Vergiftung des Kremlkritikers und Korruptionsenthüllers Alexej Nawalny mittels eines Nervenkampfmittels.
Und es geht noch weiter.
Es wurde auch die ukrainischen Halbinsel Krim völkerrechtswidrig besetzt. Hierzu ein kurioser Fakt am Rande: In Russland wird gerade ein Gesetz erarbeitet, das Kritik an der Annexion unter Strafe stellt.
Es wurden zivile Ziele in Syrien attackiert, der Bundestag gehackt, bei Wahlen betrogen, sich bei US-Wahlen eingemischt oder staatliche Propaganda verbreitet. Ja, sogar deutsche vegane Köche kommen ins russische Sonntagabend TV.
Die Liste wird immer länger.
Ich habe mich selbst lange mit Iwan Schdanow, dem Direktor des Korruptionsfonds von Alexei Nawalny, unterhalten und erfahren, wie das System Putin politische Gegner mundtot macht.
Was muss denn noch passieren, bis alle aufwachen?
Wie lang wollen wir noch so weitermachen wie bisher?
Es gibt eine Aussage des Bundestagsabgeordneten und langjährigen CDU-Außenpolitikers Roderich Kiesewetter, die mich in ihrer Deutlichkeit doch überrascht hat.
Er hat mit Hinblick darauf, dass alle Signale der Annäherung, zum Beispiel durch das Deutsch-Russische-Forum oder den Petersburger Dialog, überhaupt nicht fruchten, gesagt: „Wir waren nicht harmoniesüchtig, sondern blauäugig.”
Genauso sieht es auch der polnische Ministerpräsident.
Er hat gesagt, und da stimme ich ihm zu: „Mit einem Staat, der internationale Standards und das Völkerrecht verletzt, nicht nur bei sich zu Hause, sondern auch auf dem Gebiet der EU- und Nato-Mitgliedsländer, kann man keinen konstruktiven Dialog führen.”
Der Kreml treibt weiter einen Keil in die EU und die NATO mithilfe strategischer Investments, entzieht Polen Transitgebühren in Milliardenhöhe, die dort auch in die Energiewende investiert werden sollten, und destabilisiert die Ukraine weiter.
Damit man mal eine Vorstellung über die Größenordnungen bekommt, um die es hier geht: Die Ukraine hat 2017 2,7 Milliarden Euro in Transitgebühren erhalten, und das bei einem Haushalt von circa 35 Milliarden Euro in 2020.
Diese russische Destabilisierung der Transitstaaten konterkariert alle außenpolitischen Bekundungen und Interessen der europäischen Union und die Bundesrepublik und gewährt dem Kreml direkten Einfluss auf die größte Volkswirtschaft der EU, auf Deutschland.
Um es mit den Worten des polnischen Ministerpäsidenten zu sagen: „Der Bau von Nord Stream 2 sprengt die EU-Energiepolitik von innen.”
Wirtschaft, um der bloßen Wirtschaft Willen, darf es nicht geben.
Wer mit der EU Beziehungen ausbauen will, muss auch einen Beitrag zu den Werten der EU nach Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union, wie die Achtung und Wahrung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit, leisten.
Es braucht Solidarität zwischen den Partnerinnen und Partnern der NATO und EU.
Es wird Zeit für eine gemeinsam abgestimmte, europäische Strategie gegenüber der russischen Regierung und keine weitere Pipeline.

An dieser Stelle hatte ich bis gestern noch einen Redeteil zum Verhalten der Bundesregierung.
Aber nachdem gestern auch Wirtschaftsminister Dulig eine Pressemitteilung zu diesem Thema veröffentlich hat, möchte ich lieber darauf eingehen.
Herr Minister Dulig fordert uns dazu auf, einen kühlen Kopf zu bewahren und behauptet – ähnlich wie der Herr Ministerpräsident: „Für die Energieversorgung Sachsens ist der Bau der Nord Stream 2 gerade angesichts des gesellschaftlich verabredeten Kohleausstiegs in den kommenden Jahren schlichtweg unverzichtbar.”
Leider gibt keiner von beiden Auskunft darüber, auf welchen Studien, Daten und Berechnungen die Aussagen basieren.
Den Vogel schießt dann aber der deutsche Finanzminister ab. Er bietet eine Milliarde Euro an Trump, damit wir nicht nur russisches Gas, sondern auch amerikanisches Frackinggas kaufen.
Das untergräbt nicht nur die souveräne, gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, sondern auch die EU-Klimaziele aus dem Paris Abkommen.

Was braucht es denn noch, bevor wir verstehen, dass wir so schnell es geht auf erneuerbare Energien umstellen müssen?
•    Über 5% der sächsischen Fichte sind schon tot, und zahlreichen Anhörungen, auch hier im hohen Haus, zeigen: Es ist kein Ende des Baumsterbens in Sicht.
•    Unsere Flüsse trocknen aus, Fische verlieren Lebensraum, unsere Stadtbäume sterben.
•    Sandstürme ziehen durch die tagebaunahen Dörfer, die Lausitz heißt jetzt Savanne.
•    In Kalifornien brennen so große Feuer, dass davon hier der Sonnenuntergang beeinflusst wird.
Und das wird schlimmer, solange sich nicht die CO2-Konzentration in der Atmosphäre stabilisiert!
Ja, wir brauchen durch den Kohle- und Atomausstieg auch Gaskraftwerke, der Strom kommt ja schließlich nicht aus der Steckdose.
Aber Gas ist eine Brückentechnologie für wenige Jahre und nicht für mindestens 50, die Nord Stream 2 laufen müsste, um rentabel zu sein.
Die Bedeutung aller fossilen Brennstoffe für den Primärenergieverbrauch Deutschlands schwindet.
Das sagen zum Beispiel das Umweltbundesamt sowie Claudia Kemfert, die für das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung bereits 2018 eine Studie durchgeführt hat. Sie kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: „Das geplante Vorhaben der Ostseepipeline Nord Stream 2 ist energiewirtschaftlich unnötig, umweltpolitisch schädlich und betriebswirtschaftlich unrentabel.“
In diesem Report wird vorgerechnet: Wenn die im Energiekonzept der Bundesregierung festgelegten Ziele für Treibhausgasemissionen erreicht werden, dann sinkt der Erdgasbedarf je nach Szenario bis 2050 im Strom-, Wärme- und Industriesektor um 73 bis 90 Prozent!
Wer das nicht glaubt, dem sei die europaweite Analyse zum derzeitigen Stand der Erdgasversorgungssicherheit ans Herz gelegt.
Diese Analyse besagt, „dass erstens das bestehende System resilient gegenüber solchen Ausfällen ist, und zweitens die regionale Kooperation in Europa funktioniert”
Eine gute Nachricht, wie ich finde.
Trotzdem frage ich mich, warum wir jedes Jahr 18 Milliarden Euro in Bildung und Forschung investieren, nur um anschließend die Ergebnisse zu ignorieren?
Mittlerweile hat sogar die Deutsche Umwelthilfe Klage eingelegt.
Basierend auf einer fünf Jahre dauernden Studie mussten die Schätzungen zu Methanemissionen in der Öl- und Gasindustrie in den USA um 60 Prozent nach oben korrigiert werden.
In der Genehmigung zu Nord Stream 2 gibt es genau dafür eine Öffnungsklausel.
Damit kann durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu Umweltauswirkungen auch nachträglich die Genehmigung entzogen werden.

Fassen wir also noch einmal zusammen:
Sowohl die deutsche als auch die europäische Erdgasversorgung ist bereits stark diversifiziert.
Wir haben jetzt schon Überkapazitäten, Nord Stream 1 arbeitet nicht mit voller Kraft, Flüssiggasterminals entlang der europäischen Küsten laufen auf 25% Auslastung und werden weiter ausgebaut.
Der Kreml verstrickt sich in hanebüchenen Widersprüchen und verschleppt die Aufklärung.
Der Gasverbrauch wird in Zukunft sinken.
Die Pipeline wird niemals profitabel sein und ist eine Wette gegen die Erfüllung des Pariser Klimaabkommen, also gegen die Klimaziele der Bundesregierung und der EU, sie sabotiert die außen- und sicherheitspolitischen Interessen der EU und Deutschlands und schwächt EU-Partner und Freunde.
Man braucht sie genauso wenig wie die Kohle unter Mühlrose.
Und gestatten sie mir noch eine Anmerkung in einer anderen Sache: Schülerinnen und Schüler, die sich unermüdlich für eine lebenswerte Zukunft einsetzen, verdienen es nicht, mit Reichsbürgern verglichen zu werden, sie verdienen Respekt und eine Entschuldigung.
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MdL Franziska Schubert
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

unsere heute angestoßene Debatte hat neben der energiepolitischen natürlich auch eine geopolitische Dimension: Denn bei Nord Stream 2 geht es mitnichten nur um Energieversorgung.
Der Deutsche Bundestag hat im November 2019 den Weg für die umstrittene Gaspipeline „Nord Stream 2“ freigemacht. Mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP wurde die Umsetzung einer EU-Gasrichtlinie in nationales Recht beschlossen. Die Bundesregierung behauptet seither, die EU habe Nord Stream 2 ja eine Rechtsgrundlage gegeben, weshalb es „ein europäisches und kein deutsches Projekt“ sei. Das steht im Widerspruch zur Aussage von Josep Borrell, dem Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheits-politik, der diese Woche der Financial Times dazu sagte: „Nord Stream 2 ist kein europäi-sches Projekt. Ich muss sagen, dass die Europäische Kommission nie einen starken En-thusiasmus für Nord Stream 2 gezeigt hat“.
Nord Stream 2 ist ein Projekt, das vor allem in Nord- und Ostmitteleuropa von Beginn an kritisiert wird. Zu Recht! Denn natürlich erkennen diese Staaten die geopolitischen Interessen Russlands hinter diesem Projekt!
Es ist ein ziemlich trauriges Bild, was die deutsche Bundesregierung hier abgibt – auf der einen Seite wird auf Bundesebene gern, immer wenn es passt, nach europäischer Solidarität geschrien, auf der anderen Seite ist man wenig solidarisch und macht sein Verhalten von rein wirtschaftlichen Interessen abhängig.

Nord Stream 2 ist ein zutiefst geopolitisches Projekt und kein rein wirtschaftliches, wie oft behauptet wird: über Gazprom, als russischem Staatskonzern, werden Energielieferungen als politisches Druckmittel gegenüber Nachbarländern eingesetzt. Noch immer träumt Russland den Traum von Hegemonie und Expansion. Die neue Pipeline umgeht bewusst den Weg durch die Ukraine. Eine Beibehaltung der ukrainischen Transitroute erfordert Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland. Natürlich will Russland genau diese Verhandlungsposition haben! Scheitern die Verhandlungen, dann steht die ukrainische Pipeline-Infrastruktur vor dem Aus, die Ukraine wäre deutlich geschwächt und gegenüber Moskau extrem angreifbar – das kann mit Blick auf den andauernden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine nicht in unserem Interesse sein.
Im August 2016 wurde bekannt, dass sich die fünf westeuropäischen Partner aus dem Projekt zurückgezogen haben und Gazprom alleiniger Eigentümer der Projektgesellschaft Nord Stream 2 AG geworden ist. Seit 2016 hält die Tochtergesellschaft Gazprom Gerosgaz Holdings alle Anteile an der Projektgesellschaft. Vorsitzender des Verwaltungs-rats der Projektgesellschaft ist Gerhard Schröder. Neben seinem Posten bei Nord Stream 2 ist er Aufsichtsratsvorsitzender des staatlichen russischen Energiekonzerns Rosneft sowie Aufsichtsratsvorsitzender der bereits bestehenden Ostsee-Pipeline Nord Stream. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Hat alles nichts mit allem zu tun, ich weiß schon.
Es ist bigott von Seiten der Bundesregierung, einerseits den Umgang mit Oppositionellen, Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtlern sowie Kriege zu kritisieren und andererseits die Geschäfte derer zu unterstützen, die dafür verantwortlich sind.

Und nun komme ich zu dem Punkt, der uns BÜNDNISGRÜNEN essentiell wichtig ist: Menschenrechte. Für die Beziehungen zwischen Staaten bedeutet das auch: Partnerschaft braucht Menschenrechte als Grundlage für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden!

Die Partnerschaft mit Russland ist nicht durch Sanktionen beschädigt – sondern durch die Verletzung von Menschenrechten. Wie gravierend das in Russland ist, zeigen uns der Umgang mit Oppositionellen, mit Menschen, die anders lieben und leben, mit Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtlern – der Mordanschlag auf den Kremlkritiker Alexej Nawalny ist das aktuell prominenteste Beispiel, die Unterstützung des Diktators Lukaschenko gegen die Demokratiebewegung in Belarus, der anhaltende, verdeckte Krieg in der Ukraine und nicht zuletzt die russischen Bombardements in Syrien mit vielen zivilen Opfern sind weitere Beispiele – all das beschädigt Partnerschaft und deren Wertefundament. Es ist unsere Aufgabe, dies gegenüber autoritären Herrschaftssystemen konsequent zu verdeutlichen, auch mit wirtschaftlichen Mitteln.

Und es gibt einen feinen und wesentlichen Unterschied: die Kritik an der politischen Staatsführung hat nichts damit zu tun, dass man zu Kultur, Menschen und Land persönliche und freundschaftliche Beziehungen pflegt. Und natürlich haben wir in Sachsen genau in diesen Punkten traditionell diese Beziehungen, deren Pflege auch weiterhin richtig und wichtig ist. Man kann sich Kultur und Menschen in Ländern wie Russland, Ungarn, Weißrussland verbunden fühlen – die Kritik an Menschenrechtsverletzungen der politischen Führungen solcher Länder ist dennoch, wenn nicht gerade deshalb, notwendig.

Wenn Sie uns fragen, ob wir das Projekt Nord Stream 2 stoppen wollen, wenn wir es könnten, dann sage ich Ihnen: ja. Sollte es im Zuge offener Rechts- und Genehmigungsverfahren zu einem Baustopp kommen, dann wäre das richtig – und zwar aus so vielen Gründen.

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