Aktuelle Debatte NSU – Kuhfuß: Es braucht ein NSU-Dokumentationszentrum als lebendiges Archiv

Redebeitrag der Abgeordneten Kathleen Kuhfuß (BÜNDNISGRÜNE) zur Dritten Aktuellen Debatte auf Antrag der Fraktion BÜNDNISGRÜNE zum Thema: „10 Jahre Selbstenttarnung des NSU – Aufarbeitung fortsetzen, Gedenken ermöglichen, Rechtsextremismus entschieden bekämpfen“
39. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Freitag, 19.11.2021, TOP 3

– Es gilt das gesprochene Wort

 

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren im demokratischen Spektrum,

ich war Ende Oktober in der JVA Chemnitz. Beate Zschäpe sitzt dort ein. Seit 2011 ist sie in Haft, im Februar 2019 wurde sie in die JVA Chemnitz, Frauengefängnis verlegt. Wenn man die Anstalt nach ihr fragt, bekommt man zur Antwort: Sie sei eine ganz normale, unauffällige Gefangene.

Unauffällig oder sagen wir besser unentdeckt war auch das Trio – es konnte in Jena, Chemnitz und Zwickau über zehn Jahre ganz unauffällig leben, Banküberfälle verüben, sich vernetzen, Waffen erwerben und ihre rassistischen Morde planen und durchführen.

Von 1998 bis 2000 lebte das Trio in Chemnitz, danach in Zwickau. Also in meiner Nachbarschaft und der Nachbarschaft von 1,4 Millionen Südwestsachsen.

Sie blieben unentdeckt, auch weil sich die sächsischen Behörden nicht zuständig oder verantwortlich fühlten, aber auch weil es gesellschaftlich akzeptiert war, Rechtsextremismus zu verharmlosen. Wer was hätte wissen können, wurde auch in den Untersuchungsausschüssen nicht abschließend beantwortet.

Aber lassen sie uns mal in die Gegenwart und Zukunft schauen und den Fokus weiten. Dazu hat das Else-Frenkel-Brunswik-Institut in zwei Studien, einmal zu Chemnitz und zuletzt zu Zwickau, die rechten Strukturen vor Ort analysiert und kommt zu dem Ergebnis, dass die extreme Rechte auch zehn Jahren danach weiterhin sehr aktiv ist.

Es besteht sowohl in Chemnitz als auch in Zwickau ein aktives gewaltbereites Netzwerk. Erst vergangene Woche wurde ein Film-Team von MDR Exakt von einschlägig bekannten Rechtsextremisten angegriffen. Unsäglich…

Rechte Strukturen nehmen für sich den öffentlichen Raum ein und wollen diesen dominieren, als Debattenraum oder durch Provokation und Gewalt. Genau von dieser Strategie sind auch die Querdenken-Demos geprägt. Diese Strategien wirken schon lange tief in Verwaltungen, Vereine und Familien hinein.

Es ist also nichts besser geworden, aber viel sichtbarer als noch vor zehn Jahren!

Doch was wäre jetzt sinnvoll? Lassen sie mich drei Gedanken dazu äußern:

Erstens: Fangen wir mal mit denen an, die uns täglich die Welt erklären, Journalist:innen. Deren Schutz muss oberste Priorität haben. Sie müssen frei und sicher berichten können.

Zweitens: Schauen wir weiter in den Gremien der kommunalen Familie – dort, wo die Entscheidungen getroffen werden, die den Sächsinnen und Sachsen am nächsten sind. In diesen Räten müssen alle demokratischen Parteien sich parteiübergreifend und konsequent von rechten Akteuren abgrenzen. Heißt, es darf auch keine punktuelle Zusammenarbeit geben, um ihnen nicht noch mehr Bedeutungsraum zu schenken bzw. ihre Gedanke zu legitimieren.

Drittens: Wir müssen aufhören, von dem angeblich bürgerlichen Milieu einerseits und den extrem rechten Strukturen andererseits zu sprechen, denn das verdeckt den Blick auf antidemokratische Bestrebungen und letztendlich Gewaltpotential. Dazu müssen wir uns ehrlich machen und klar eingestehen: Wir haben ein Problem und das heißt nicht Extremismus, sondern Rechtsextremismus.

Viertens: Welche Chancen bietet uns dabei die Aufarbeitung des NSU? Das „Unentdeckte“ sichtbar zu machen, kann exemplarisch dafür stehen, dass wir hinschauen wollen, dass wir das Problem Rechtextremismus benennen wollen und dass wir rechte Gedanken und Strukturen in Sachsen nicht akzeptieren. Wir müssen als Gesellschaft klären, wie wir mit dem unsäglichen Erbe des NSU umgehen wollen.  Dabei geht es ganz ausdrücklich nicht darum, Zwickau zu beschmutzen. Und es geht nicht darum, in Chemnitz die Kulturhauptstadt zu besudeln. Es geht darum, sich dem zu stellen, was wir als Gesellschaft zugelassen haben und dafür zu Sorge tragen, dass es nicht wieder passieren kann.

Fünftens: Wie kommt die Tragödie des NSU und ein Ort des Lernens ganz praktisch zustande? Schon lange arbeiten Menschen im Ehrenamt und jetzt auch über Träger der Demokratiearbeit an der Aufarbeitung. Es ist gut, dass wir das als Freistaat fördern.
Am 4. November haben sich beispielsweise Menschen aus Jena, Zwickau und Chemnitz in einem Workshop zusammengefunden, um gemeinsam abzuklopfen, was man als Ort des Dokumentierens, als Ort der Erinnerung und als Ort des Lernens in Südwestsachen ermöglichen kann.

Weil, und das gehört auch so gesagt, es nämlich nicht einfach so möglich ist, in Sachsen einen Ort zu konzeptionieren, der aufarbeitet, wie es zu diesen Morden kommen konnten, der an die getöteten Menschen erinnert und der dazu Aufklärung betreibt. Es gilt, Widerstande zu überwinden.

Dieser Prozess muss weiter gehen. Ein NSU-Dokumentationszentrum als lebendiges Archiv muss uns als Lern- und Gedenkort in Sachsen in unsere Verantwortung begleiten, dass so etwas wie der NSU nie wieder hier gedeihliche Bedingungen findet.

Ich danke dem Sächsischen Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung für die Unterstützung in diesem Prozess. Dafür, dass die verschiedenen Akteur*innen achtsam zusammengeführt werden und dass damit die ersten Steine für ein Fundament stehen.

Ziel ist es, dass irgendwann Sächsinnen und Sachen durch diesen, wie auch immer gearteten Gedenkort gehen und Wissen aufnehmen, die Opfer betrauern und stolz darauf sind, dass sich ihr Sachsen erfolgreich gegen Rechtsextremismus zur Wehr gesetzt hat.