Aktuelle Debatte NSU – Lippmann: Alles dafür tun, dass sich derartige Taten nie wiederholen
Redebeitrag des Abgeordneten Valentin Lippmann (BÜNDNISGRÜNE) zur Dritten Aktuellen Debatte auf Antrag der Fraktion BÜNDNISGRÜNE zum Thema: „10 Jahre Selbstenttarnung des NSU – Aufarbeitung fortsetzen, Gedenken ermöglichen, Rechtsextremismus entschieden bekämpfen“
39. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Freitag, 19.11.2021, TOP 3
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
wir gedenken in diesen Tagen – zehn Jahre, nachdem die schrecklichen Taten des NSU durch seine Selbstenttarnung offenbar wurden – den Opfern.
Wir gedenken Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar, ermordet in Nürnberg, wir gedenken Süleyman Taşköprü, ermordet in Hamburg, wir gedenken Habil Kılıç und Theodoros Boulgarides, ermordet in München, wir gedenken Mehmet Turgut, ermordet in Rostock, Mehmet Kubaşık, ermordet in Dortmund, Halit Yozgat, ermordet in Kassel und Michèle Kiesewetter, ermordet in Heilbronn.
Der 4. November 2011 und die Tage danach haben die Bundesrepublik und Sachsen erschüttert.
Nicht vorstellbar war bis dahin für die Mehrheit der Gesellschaft, dass sich eine rechtsterroristische Gruppe bildet, deren Ziel und deren Handeln auf die Tötung von Menschen ausgerichtet ist, die in ihren Augen minderwertig und nicht lebenswert sind, und der Staat ihnen nicht Einhalt gebot.
Nachdem die Dimension der abscheulichen Taten immer klarer wurde, gab es zwei zentrale Versprechen:
- vollständige Aufklärung
- Versprechen des „Nie wieder“
Sachsen war Ruhe- und Rückzugsort des NSU. Von hier aus wurden die Morde geplant und die Finanzierung des Lebens im Untergrund gesichert. Wir sind es im Besonderen schuldig, zehn Jahre später die Frage zu beantworten, wie es um jene Versprechen steht und was wir für die Zukunft gelernt haben.
Ein Blick auf die Aufklärung zeigt:
Eine Vielzahl von Untersuchungsausschüssen hat Versäumnisse der Sicherheitsbehörden festgestellt. Wie ein roter Faden zog sich für uns die Erkenntnis durch die Untersuchung, dass es bei allen sächsischen Behörden quasi undenkbar war, dass Sachsen als Ruhe- und Rückzugsort von einer rechtsterroristischen Gruppe genutzt werden könnte.
Ergebnis war eine tödliche Mischung aus geringem Verfolgungsdruck, absurde Ahnungslosigkeit und Ignoranz, wirkt bis heute fort. Nicht alles konnten die Untersuchungsausschüsse ergründen. Und zur Ehrlichkeit gehört wohl auch: werden sie auch nie ergründen können
Denn: Bei der Aufklärung der Verbrechen des NSU gibt es nach wie vor blinde Flecken:
- Beispielsweise einen großen Unterstützer*innenkreis in Chemnitz und Zwickau, der bis heute nicht belangt wurde.
- Fragen zur Herkunft der Waffen und zu den Auslandsbezügen des NSU sind offen.
- Ich erwarte, dass die noch laufenden Ermittlungen des Generalbundesanwalts intensiviert werden, weitere Erkenntnisse zutage fördern und vor allem zu Anklagen führen.
Kein Schlussstrich heißt: Es darf kein Ende der Ermittlungen gegen jene geben, die den NSU unterstützten. Kein Schlussstrich heißt aber auch, dass alles dafür zu tun ist, dass sich derartige Taten nie wiederholen. Damit sind wir bei der Frage, wie es zehn Jahre später um dieses Versprechen steht.
Für Sachsen gilt, es wurde schon gebrochen, bereits wenige Jahre später mit dem eklatanten Behördenversagen im Zusammenhang mit der Terrorgruppe Freital
Das zeigt: Die Neuaufstellung von Polizei und Verfassungsschutz beim Vorgehen gegen rechtsterroristische Gruppierungen ist und bleibt eine große, permanente Aufgabe, der sich alle politisch Verantwortlichen stellen müssen. Eine Aufgabe, die nicht abgeschlossen ist, sondern von jedem Verantwortlichen in diesem Land verlangt, sich täglich die Frage zu stellen, was sie oder er persönlich dazu beitragen kann, Rechtsextremismus zu bekämpfen
Der Kampf gegen Rechtsextremismus, als die größte Bedrohung unserer freien Gesellschaft, muss uneingeschränkt oberste Priorität haben. Das ist unsere Verpflichtung auch gegenüber den Opfern des NSU, gegenüber denjenigen, die der Staat, auf den auch sie vertrauten, nicht schützen konnte.
Die Koalition hat dazu Maßnahmen vereinbart:
Eine Verbesserung der Erkenntnisse durch Dokumentations- und Forschungsstelle zur Analyse und Bewertung antidemokratischer und menschenfeindlicher Tendenzen, die wir mit der Gründung des Else-Frenkel-Brunswik-Institut an der Universität Leipzig umgesetzt haben.
Eine Verbesserung der Arbeit von Polizei und Verfassungsschutz beim Kampf gegen Rechtsextremismus, Entwaffnung von Nazis und Schließung ihrer Immobilien, konsequentes Vorgehen gegen Verfassungsfeinde im Staatsdienst, besserer Schutz bedrohter Einrichtungen.
Dies alles soll sich im Gesamtkonzept gegen Rechtsextremismus wiederfinden, das die Staasregierung vorlegen soll. Bereits vor über 14 Monaten hat der Landtag es beschlossen. Nur allein es wurde bisher nichts von der Staatsregierung vorgelegt.
Ich finde, der zehnte Jahrestag der Selbstenttarnung des NSU ist ein geeigneter Zeitpunkt, das Gesamtkonzept gegen Rechtsextremismus unverzüglich vorzulegen. Jedes weitere Zögern wäre auch der Beleg, dass wir die Versprechen von vor zehn Jahren nicht ernst genug nehmen.
Auch für einen Erinnerungsort für die Opfer und ein Dokumentationszentrum haben wir BÜNDNISGRÜNEN uns stark gemacht. Dazu wird meine Kollegin Kathleen Kuhfuß in der zweiten Runde noch sprechen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
für mich und uns alle muss aus dem Gedenken an die Opfer und dem Mitgefühl für die Angehörigen und Freunde, denen ein geliebter Mensch gewaltsam aus dem Leben entrissen wurde, der Anspruch erwachsen, dass wir alles tun, dass sich ein solches Verbrechen nicht wiederholt. Nie wieder.