Annekathrin Giegengack: Bedeutet „Attraktive Heimat“ ausschließlich „Standortvorteil Sachsen“?

Redebausteine der Abgeordneten Annekathrin Giegengack zur Aktuellen Debatte "Attraktive Heimat Sachsen – Steigender Zuzug stärkt unser Land", 58. Sitzung des Sächsischen Landtages, 14. Juni 2012, TOP 1

– Es gilt das gesprochene Wort –
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Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

Wollen Sie mit dieser Debatte wirklich 214 Zuzüge feiern? Das ist vermessen und lächerlich.
Der Bevölkerungsrückgang ist seit Jahren zu mehr als dreiviertel auf ein Geburtendefizit nicht auf Wanderungsverluste zurückzuführen.

Natürlich ist es positiv, dass seit dem Jahr 2000 das Wirtschaftswachstum Sachsens um 13,9 Prozent (Stand März 2011) gestiegen und damit das stärkste Wachstum aller Bundesländer ist. Auch bei der Investitionsquote von 21,5 Prozent (2010) steht der Freistaat bundesweit auf Platz 1. Wir haben gut ausgebildete Fachkräfte, international operierende Konzerne und einen starken Mittelstand, dazu Potenzial bei Forschung und Entwicklung.

Aber zu bemerken ist genauso:
Bei der Debatte über die Absenkung der Einspeisevergütung für die Solarbranche gab es im Gegensatz zu den Ministerpräsidenten von Thüringen und Sachsen-Anhalt kein klares Signal für die Solarbranche aus Sachsen. Mit Verweis auf die Ausbildungsdebatte gestern bleibt es dabei, dass die Staatregierung keine Informationen über den Bedarf der Wirtschaft hat.

Aber bedeutet "Attraktive Heimat" ausschließlich "Standortvorteil Sachsen"?

"Heimat ist nicht da oder dort. Heimat ist in dir drinnen, oder nirgends", sagt Hesse oder "Heimat ist der Duft unserer Erinnerungen" – die meisten Menschen verorten "Heimat" im Privaten, in der Kindheit, in den sogenannten "Wurzeln".

Ein politisches Konzept von Heimat ist schwierig. Ein politisches Heimatkonzept, das Zukunft haben will auf Vergangenheit, gemeinsam Erlebtes, also Geschichte zu gründen, halte ich für schwierig und überholt. Wenn die CDU in ihrem Grundsatzprogramm, in dem auf 90 Seiten über 30 mal das Wort Heimat auftaucht, auf Wende abstellt, ist das kein tragfähiges, noch weniger ein zukunftsfähiges Heimatkonzept. Dieser gequälte Regionalpatriotismus schließt alle aus, die Geschichte anders erlebt haben oder neu hinzukommen sind.

Doch das CDU-Grundsatzprogramm bietet noch mehr Möglichkeiten für ein Heimatkonzept:
Man findet die Bestimmung von Heimat als Gefühl: "Heimat ist mehr als ein Ort, Heimat ist ein Gefühl".
Die sächsische CDU fühle sich in Sachsen zu Hause, geborgen und gut aufgehoben, das freut mich, hilft aber bei der Suche nach einem politischen Heimatkonzept nicht weiter.

"Heimat ist, wo Familie lebt."
Warum nicht? Bleibt nur zu fragen, was sie unter Familie verstehen. Sie schließen sie 54 Prozent der Familien in Sachsen aus, wenn sie Ehe und Familie gleichsetzen. Bei nur noch 45 Prozent der Familien mit Kindern unter drei Jahren sind die Eltern miteinander verheiratet, bei 34 Prozent leben Eltern ohne Trauschein zusammen, bei 20 Prozent werden die Kinder von Mutter oder Vater allein betreut. Darf Sachsen also für 54 Prozent der Familien keine Heimat sein?

"Heimat ist dort, wo Menschen sich in die Gemeinschaft einbringen."
Der Spruch könnte von uns sein. Doch das "Einbringen" bedarf Voraussetzungen: verlässliche Informationen und verbindliche Mitwirkungerechte. Das ist ein großer Unterschied zwischen uns. Denn ich erlebe Staatsregierung sowie CDU- und FDP-Fraktion als eher restriktiv, was Informationen und Mitwirkungsrechte angeht.
Die Quoren für Bürgerbegehren in Kreisen und Gemeinden müssten gesenkt werden, wir bräuchten Regelungen zum Bürgerhaushalt, eine Ausweitung und Stärkung der Ortschaftsverfassung, Mitwirkungsrechte von Kindern und Jugendlichen in Kommunen, bessere Voraussetzungen für Volksbegehren und Volksentscheide.
Denn daheim fühlt man/frau sich dort, wo er/sie sich einmischen, einbringen, mitgestalten kann.

Sie zeigen zu viel Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit, auch heute wieder in ihren Redebeiträgen.
Allzu gern und allzu oft rechnen Sie sich Leistungen in unserem Land ihrer Politik zu, die mit Ihnen wenig zu tun haben. Damit verhindern sie Identifikationsmöglichkeiten für all diejenigen, die ihre politischen Überzeugungen nicht teilen aber sich genauso einbringen und engagieren.

"Sachsens Miteinander schafft Heimat" ist ebenfalls ein Satz aus ihrem Grundsatzprogramm.
Ich würde mir wünschen, dass sie diesen öfter beherzigen.