Annekathrin Giegengack: Bürgerversicherung statt Zweiklassensystem bei medizinischer Versorgung
Redebeitrag von Annekathrin Giegengack zum Antrag "Nach Abschaffung der Praxisgebühr – jetzt Zuzahlungen für Patientinnen und Patienten abschaffen", 76. Sitzung des Sächsischen Landtages, 15. Mai 2013, TOP 2
– Es gilt das gesprochene Wort –
————————————————————————————
Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
kaum ein Experte ist noch in der Lage die zahlreichen Gesundheitsreformen vollständig zu rekapitulieren, in deren Zuge auch schrittweise die Zuzahlungen für Versicherte eingeführt wurden.
Mittlerweile werden Zuzahlungen in unterschiedlicher Höhe für alle wichtigen Leistungsbereiche verlangt wie Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel, Fahrtkosten, Krankenhausbehandlung und medizinische Rehabilitation. 2004 wurden diese Zuzahlungen mit dem GKV-Modernisierungsgesetz noch einmal umfassend neu gestaltet.
Seit dem 1.1. 2004 gilt als allgemeine Regel, dass Versicherte zehn Prozent der Kosten, höchstens jedoch zehn Euro und mindestens fünf Euro selbst zu tragen haben. Leistungen die weniger als fünf Euro kosten, sind in voller Höhe zu zahlen. Für die Krankenhausbehandlung muss pro Tag zehn Euro gezahlt werden. Abweichend von den grundsätzlichen Regelungen beträgt die Zuzahlung bei Heilmitteln (das sind persönlich zu erbringende medizinische Leistungen wie physikalische Therapie, Podologische Therapie, Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie und Ergotherapie) sowie häuslicher Krankenpflege zehn Prozent der Kosten sowie zusätzlich zehn Euro je Verordnung. Für Zuzahlungen bei stationärer Behandlung, häuslicher Krankenpflege und Reha ist eine Obergrenze von 28 Tagen pro Kalenderjahr vorgesehen.
Die beiden in Bezug auf das Finanzvolumen bedeutendsten Zuzahlungen waren im Jahr 2010 die Praxisgebühr und die Zuzahlungen für Arznei-, Verbands- und Hilfsmittel, darunter vor allem Arzneimittel. Im Jahr 2010 wurden insgesamt Zuzahlungen in Höhe von ca. 5 Mrd. Euro gezahlt, davon entfielen ca. 1,5 Mrd. Euro auf die Praxisgebühr und ca. 1,7 Mrd. Euro auf Arznei-, Verbands- und Hilfsmittel aus Apotheken.
Das Volumen der Zuzahlungen insgesamt ist in den letzten Jahren leicht rückläufig, es lag 2010 ca. acht Prozent unter dem Niveau von 2005. Der Rückgang ist fast ausschließlich auf die Ausweitung von Arzneimittelfestbeträgen und Rabattverträgen zurückzuführen, in deren Folge zunehmend mehr Arzneimittel zuzahlungsfrei wurden. Allein bei den Zuzahlungen für Arznei-, Verband- und Hilfsmitteln aus Apotheken ging das Volumen von 2,125 Mrd. Euro in 2005 um rund 21 Prozent auf 1,683 Mrd. Euro in 2010 zurück.
Einerseits sollen Zuzahlungen zur Finanzierung der Gesundheitskosten beitragen (Finanzierungsfunktion), andererseits sollen sie steuernde Wirkung dergestalt entfalten, damit sie eine unnötige oder übermäßige Inanspruchnahme von Leistungen des Krankenversicherungssystems verhindern (Steuerungsfunktion). Zu diskutieren ist sicher auch eine fehlsteuernde Funktion, wenn zu hohe Zuzahlungen die Versicherten im Krankheitsfall davon abhalten, rechtzeitig medizinische Leistungen in Anspruch zu nehmen – worauf der Antrag der LINKEN abstellt. Nach Abschaffung der Praxisgebühr ist dies jedoch eher zweifelhaft.
Trotz ihrer relativ geringen Gesamtgröße von rund zwei Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben und obwohl Zuzahlungen und begleitende Ausnahmeregelungen eine lange Tradition in der GKV haben – für Arzneimittel z.B. schon seit 1923 – stehen die Zuzahlungen mehr im Focus der öffentlichen Diskussion als der Rest der privaten Gesundheitsausgaben. Und auch wenn die Zuzahlungen für Leistungen der Krankenkassen in den letzten Jahren im Umfang zugenommen haben, sind die gesamten privaten Gesundheitsausgaben in Deutschland relativ gering. Betrachtet man die privaten Ausgaben für Gesundheit als Anteil an den gesamten Haushaltsausgaben, liegt Deutschland mit 2,4 Prozent noch unter dem OECD Durchschnitt von 3,2 Prozent.
Zuzahlungen von GKV-Versicherten machten mit 5 Mrd. Euro nur rund ein Siebtel dieser privaten Gesundheitsausgaben aus, wobei hier sogar noch die Praxisgebühr mit 1,5 Mrd. Euro für 2010 zu Buche schlägt. Bei den Arzneimitteln stehen 1,7 Mrd. Euro Zuzahlung für verschreibungspflichtige Arzneimittel 6,8 Mrd. Euro direkt gekaufter nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel gegenüber.
Für alle Zuzahlungen hat der Gesetzgeber individuelle Belastungsgrenzen festgelegt. Die Zuzahlungen sind danach auf zwei Prozent der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt begrenzt. Bei schwerwiegend chronischen Erkrankungen beträgt die Obergrenze nur ein Prozent. Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre sind frei. Nach Überschreiten der jeweiligen Belastungsgrenzen waren 2010 ca. 7 Mio. bzw. zehn Prozent der Versicherten von Zuzahlungen befreit. Für den weit überwiegenden Teil von ihnen galt aufgrund einer chronischen Krankheit die Ein-Prozent-Belastungsgrenze (6,5 Mio. bzw. 9,4 Prozent aller Versicherten).
Das deutsche Gesundheitssystem wird im internationalen Vergleich als leistungsfähig aber teuer bezeichnet (OECD 2011). Im Jahr 2010 beliefen sich die Gesamtausgaben für Gesundheit auf 11,6 Prozent des BIP und lagen damit um 2,1 Prozent über dem Durchschnitt der OECD Länder von 9,5 Prozent. Auch sind die Gesundheitsausgaben in Deutschland zwischen 2000 und 2009 real um durchschnittlich zwei Prozent pro Jahr gestiegen. Das war verglichen mit allen anderen (33) OECD Ländern ein relativ geringer Anstieg in diesem Zeitraum, insbesondere wenn man die vergleichsweise rasch alternde Bevölkerung berücksichtigt. So stieg der Anteil von Menschen über 65 Jahre an der Gesamtbevölkerung zwischen 1991 und 2010 von 15 Prozent auf 20,6 Prozent. Auch der Anteil von Menschen über 80 Jahre an der Gesamtbevölkerung stieg von 3,8 Prozent auf 5,2 Prozent. Die durchschnittliche Zuwachsrate bei Gesundheitsausgaben in OECD-Ländern lag bei 4 Prozent jährlich. Das relativ langsame Wachstum in Deutschland ist Kostendämpfungsmaßnahmen zuzuschreiben, die im Rahmen der Gesundheitsreformen eingeführt wurden.
Sowohl SPD/GRÜNE (1998-2004) als auch CDU/SPD (2005-2009) sind dabei von den Grundstrukturen der GKV nicht abgewichen. Beide Regierungen delegierten Kompetenzen an die Selbstverwaltung, beide förderten den Wettbewerb zwischen den GKV’n und alle intervenierten zunehmend, um die Qualität der Versorgung und die Strukturen der Leistungserbringung zu verbessern. Hauptziel war Kostendämpfung.
Die jetzt regierende Koalition aus CDU/FDP arbeitet in eine andere Richtung. Deregulierung, Stärkung des Wettbewerbs und langfristig die Umstellung des einkommensabhängigen Beitragssystems auf eine einkommensunabhängige Kopfpauschale. Wir halten dies für den falschen Weg, denn schon jetzt haben wir in unserem Gesundheitssystem ein Gerechtigkeitsproblem. Überdurchschnittlich gesunde Personen mit hohem Einkommen wandern in die PKV ab, die sich an wesentlichen Solidarlasten einfach nicht beteiligt.
So kommt es zum Beispiel zu einer so absurden Situation, dass die GKV finanzielle Anreize setzt zur Aufrechterhaltung der ambulant medizinischen Versorgung im ländlichen Raum. Bei der Terminvergabe werden aber die PKV-Versicherten bevorzugt. Mielck & Helmert haben klar nachgewiesen – GKV-Versicherte führen im Vergleich zu PKV-Versicherten kürzere Gespräche mit ihrem Arzt, fühlen sich schlechter beraten und weniger an Entscheidungsprozessen beteiligt. Mehrere empirische Untersuchungen konnten zeigen, PKV-Versicherte haben kürzere Wartezeiten und bekommen eher einen Termin – durchschnittlich 23 Tage früher als GKV-Versicherte. Das ist fehlende Gerechtigkeit bei der Versorgung. Das ist Zweiklassenmedizin. Das müssen wir angehen und wir GRÜNE legen dafür unser Konzept der Bürgerversicherung vor.
» Alle GRÜNEN Reden finden Sie hier …