Annekathrin Giegengack: Jugendliche mit Migrationshintergrund gehören zu den „Bildungsverlierern“
Redebeitrag der Abgeordneten Annekathrin Giegengack zur Großen Anfrage "Stand und Perspektiven der beruflichen Bildung im Freistaat Sachsen" (Drs. 5/8051), 70. Sitzung des Sächsischen Landtages, 31. Januar 2013, TOP 4
– Es gilt das gesprochene Wort –
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Meine sehr geehrten Damen und Herren,
die Große Anfrage der SPD-Fraktion bietet einen guten Überblick über den Stand der beruflichen Bildung in Sachsen. Je nach Lesart kann man sich, wie bereits gehört, mit ausgewählten Daten schmücken oder man kann sie einer kritischen Betrachtung unterziehen.
Viele Dinge sind schon ausgesprochen worden – zwei Themen möchte ich herausgreifen:
Der umfangreiche Datenfundus in den Anlagen zur Anfrage dokumentiert ein auffälliges Gefälle zwischen den Geschlechtern. Es sind vor allem die männlichen Schüler, die im sogenannten „Übergangssystem“ – vielen besser bekannt als „Warteschleifen“ — anzutreffen sind. Betrachten wir das Schuljahr 2010/2011. Beträgt der Anteil an jungen Männern in allen berufsbildenden Schularten bzw. Maßnahmen hier klassische 50,1 Prozent‚ so sind es bei den berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen 60,1 Prozent und im Berufsgrundbildungsjahr 61,2 Prozent. Auch im Berufsvorbereitungsjahr ist der Anteil der jungen Männer mit 58,7 hoch. Schaut man sich dagegen an, wie sich die Schülerschaft an Berufsfachschulen und Fachschulen zusammensetzt, so beträgt der Anteil der Männer hier nur 23,2 bzw. 39,7 Prozent. Zugegeben, Schwerpunkte der vollzeitschulischen Ausbildung sind, wie auch die Staatsregierung in ihrer Antwort auf Frage 13 bestätigt, Berufe des Gesundheits- und Sozialwesens, also eher von Frauen dominierte Bereiche.
Bei den Angeboten der Fachschulen hingegen, die anders als die Berufsfachschulen von der jüngsten Streichorgie verschont geblieben sind, stellt sich schon die Frage, welche Ursachen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern haben und vor allem, wie man hier gegensteuern kann und sollte. Diese Fragen stellen sich im Übrigen auch im Förderschulbereich: Bei den berufsbildenden Förderschulen liegt der Anteil der jungen Männer bei 62,4 Prozent‚ im Berufsvorbereitungsjahr „immerhin“ bei 58,8 Prozent.
Leider hat die SPD in ihrer Großen Anfrage nicht nach dem Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den berufsbildenden Schulen gefragt. Hier setzt sich die Problematik nämlich fort und gewinnt — leider — eine weitere Dimension.
Wie wir aus unserer Großen Anfrage zu Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im sächsischen Bildungswesen wissen, schwankt deren Anteil zwischen den Schularten erheblich. So haben an berufsbildenden Schulen im Schnitt 2,4 Prozent der Jugendlichen einen Migrationshintergrund, mit 2,5 Prozent Männer- und 2,3 Prozent Frauenanteil ist das auch sehr ausgeglichen. Wenn man jedoch die berufsvorbereitenden Maßnahmen extra betrachtet, ergeben sich andere Zahlen:
Dort haben 7,5 Prozent der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund — bei den männlichen Teilnehmern sind es gar 8,8 Prozent. Jeder fünfte Jugendliche im Berufsvorbereitungsjahr hat einen Migrationshintergrund, bei den männlichen Schülern sogar fast jeder vierte.
Zwar verweist die Staatsregierung hier auf ihr besonderes Angebot eines Berufsvorbereitungsjahres mit zusätzlichem Unterricht im Fach Deutsch als Zweitsprache — bei dem zugrunde liegenden Anteil an Jugendlichen mit Migrationshintergrund im gesamten System kann eine solche Maßnahme allein jedoch so hohe Anteile in den Warteschleifen insgesamt nicht erklären.
Fakt ist: Jugendliche mit Migrationshintergrund gehören zu den „Bildungsverlierern“. Ihre Chance, bei gleicher Qualifikation einen Ausbildungsplatz zu erhalten, ist mehr als 20 Prozent niedriger als für Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Das bestätigte auch eine Studie von Leo Kaas und Christian Mangerbei. Hier wurden 1000 Bewerbungen um einen Praktikumsplatz an verschiedene Unternehmen verschickt, die Hälfte bekam einen deutschen, die andere Hälfte einen türkisch klingenden Namen. Die Rückmeldungen waren eindeutig. Der fiktive Bewerber mit türkisch klingendem Namen wurde um 14 Prozent seltener zum Gespräch eingeladen als der I3ewerber mit deutschem Namen, hei Kleinunternehmern war der Unterschied noch größer: Bewerber mit türkisch klingenden Namen erhielten um 24 Prozent weniger Einladungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen — das sind die Zahlen, die mir Sorge bereiten, das sind die „Bildungsverlierer“, um die wir uns kümmern müssen und wir werden bei diesem Thema nicht locker lassen.
Doch die Herausforderungen bei der beruflichen Bildung sind viel größer und umfassender. Jeder vierte Azubi bricht vorzeitig seine Ausbildung ab, in Sachsen wird gar jede dritte Ausbildung vorzeitig gelöst. Das sind erschreckende Zahlen. Das entscheidende Mittel dagegen- so der Reflex – sei eine frühe und noch bessere Berufsorientierung.
Doch, meine sehr verehrten Kollegen, das ist zu kurz gesprungen. Auf diese Entwicklung gibt es nicht die eine Antwort, die eine Lösung. Denn die Gründe für die rapide steigende Zahl vorzeitig gelöster Ausbildungsverträge sind vielfältig. Sie haben auch etwas mit dem veränderten Selbstverständnis junger Leute zu tun aber ein Grund liegt sicher auch in der Ausgestaltung der dualen Ausbildung selbst.
Deutschland verzeichnet auch nach der Reform der Ausbildungsverordnung weiterhin über 300 Ausbildungsberufe. Entsprechend wird bereits sehr speziell und kleinteilig ausgebildet. Andere Länder, die über eine duale Ausbildung verfügen, wie Dänemark, Österreich oder die Schweiz, konzentrieren sich auf eine geringere Anzahl von Berufen. Zudem wird in anderen Ländern im ersten Ausbildungsjahr ein breiter Kanon gelehrt und notwendige Spezialisierung findet erst später statt. Die Ausbildung ist dort in vielen Berufszweigen bereits modularisiert. Bei einem solchen Aufbau ist es leichter, gegebenenfalls auch zu einem späteren Zeitpunkt, eine zweite Ausbildung oder eine Weiterbildung anzuschließen.
Vor knapp einem Jahr titelte „Die Welt“: „Abgeschlossene Lehre nutzt nur in jungen Jahren“. So konnte eine Studie von Wissenschaftlern aus München, den USA und China belegen, dass die duale Ausbildung zu stark an Bedürfnissen der Betriebe orientiert ist. Mit steigendem Alter sei es immer schwieriger, eine entsprechende Anstellung in einem neuen Unternehmen oder Betrieb zu finden, da die Lehre passgenau auf den Bedarf des Ausbildungsbetriebs zugeschnitten sei.
Die Bildungsexperten plädieren deshalb dafür, mehr allgemeinbildende Grundlagen zu lehren, später mit Spezialisierungen zu beginnen und die Zahl der Ausbildungsberufe zu reduzieren. Andernfalls könnten, so Ludger Wößmann vom Münchner Ifo Institut, die Qualifikationen nicht mit dem immer schnelleren Wandel der Wirtschaft Schritt halten. Trends auf dem Arbeitsmarkt könnten nur schwer vorhergesagt werden, ganz zu schweigen von einer gewissen Schwerfälligkeit und Langwierigkeit einer Anpassung.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, neben dem Stand der beruflichen Bildung in Sachsen fragt die Große Anfrage auch nach den Perspektiven. Leider bleiben uns diese verwehrt, da die Staatsregierung dort, wo es um eben jene Perspektiven gehen soll, entweder von nichts weiß oder eine Antwort schlicht verweigert. Dass die Streichorgie bei den Berufsfachschulen jedweder analytischen Grundlage entbehrt, wurde schon mehrfach gesagt. Ich möchte es deshalb bei einer Aufzählung der Leerstellen belassen, die nicht mal abschließend ist:
Frage 7, keine Erfassung der Erfolgsquote vollzeitschulischer Ausbildungen, Frage 14, keine Erfassung möglicher Angebotslücken nach Berufsfeldern bei Eingriff in das Ausbildungsangebot bzw. bei Steuerung von Bildungsressourcen, Frage 16, keine Evaluierung der Bedarfe der Wirtschaft, Frage 17, keine Erkenntnisse zum regionalen und branchenspezifischen Fachkräfte- und Ausbildungsbedarf der Wirtschaft, Frage 119, keine Daten zu Abbrechern und Übernahmequote vollzeitschulischer Ausbildungen sowie Frage 123, keine „aktuellen Untersuchungsergebnisse“ zu den Vermittlungschancen der Jugendlichen und der Akzeptanz zweijähriger Ausbildungsberufe in der Wirtschaft; zur generellen Bedeutung der vollzeitschulischen Ausbildung will sich die Staatsregierung schlicht nicht äußern, Frage 121.
Meine Damen und Herren, das hat nichts mehr mit Bildungsplanung zu tun.
Die Große Anfrage der SPD bietet insgesamt viele Anknüpfungspunkte, vor allem aber dokumentiert sie gründlich die Versäumnisse, die blinden Flecken und die Unkenntnis der Staatsregierung in einem wichtigen und ressortübergreifenden Bildungsbereich. Insgesamt sehe ich viel zum derzeitigen Stand – dort aber, wo es um Perspektiven gehen soll, ist nichts zu erkennen. Hoffen wir, dass das nur Nebel ist, der lässt sich wenigstens lichten.
Vielen Dank.
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