Annekathrin Giegengack: Schwarz-Gelb sieht Sitzenbleiben als Herausforderung für schwache Schüler

Redebeitrag von Annekathrin Giegengack zum Antrag "Kinder brauchen Herausforderungen – Für ein leistungsorientiertes sächsisches Schulsystem", 73. Sitzung des Sächsischen Landtages, 17. April 2013, TOP 1

– Es gilt das gesprochene Wort –
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Sehr geehrte Damen und Herren,

ich finde, der Tonfall hat sich in den Bildungsdebatten geändert. Das bedaure ich. Ich habe Herrn Colditz hier vorn immer als sehr selbstkritisch erlebt. Er hat durchaus zugegeben, dass es in Sachsens Schulsystem Verbesserungsbedarf gibt. Davon würde ich mir mehr wünschen. Den Bezug zu so einer Umfrage finde ich nur peinlich. Martin Dulig hat es anschaulich ausgeführt.

Ein leistungsfähiges Schulsystem würde für mich dort anfangen, dass wir den Unterricht nach Stundenplan und Stundentafel absichern. Es ist ein Skandal, dass wir bereits an einem Punkt angelangt sind, wo wir das von vornherein am Anfang des Schuljahres schon nicht mehr können. Es ist nicht mehr so, dass wir nur in den Förderschulen den Grundbereich nur noch bis 90 % absichern können. Aufgrund einer Anfrage der Kollegin Stange ist deutlich geworden, dass in Dresden in acht Grundschulen bereits nicht mehr ab Beginn des Schuljahres Unterricht im Grundbereich abgesichert werden kann. Dort wird die Stundentafel einfach verkürzt. Das ist ein Skandal und hat überhaupt nichts mehr mit leistungsfähigem Schulsystem zu tun.

Zu dem, was Herr Bläsner gesagt hat, fehlen mir die Worte, dass man das Sitzenbleiben als einen Garanten für ein leistungsfähiges Schulsystem begreift, quasi als Herausforderung für die Schwachen.

Vergegenwärtigen Sie sich einmal Folgendes: Bei Ihnen sind die Schulsozialarbeiter aus Leipzig auch gewesen, die gemeinsam mit den Mittelschullehrern die Situation in den Leipziger Mittelschulen beschrieben haben. Wenn Sie vor dem beschriebenen Hintergrund, was zum Beispiel an den Mittelschulen in sozialen Brennpunkten in Leipzig passiert, das Sitzenbleiben als heilsamen Schock bezeichnen, dann ist das mehr als zynisch.

Ich kann Ihnen einmal verdeutlichen, wie es den Schülern in der Mittelschule geht. Es handelt sich um eine Durchschnittsschule – so steht es in dem Bericht, den wir damals erhalten haben. Evelin, Name geändert, wurde im Jahr 2005 eingeschult. Sie zeigte Leistungen mit dem Durchschnitt der Note 4. Evelin fiel und fällt es schwer, logisch zu denken. Zudem hat sie feinmotorische Schwierigkeiten. Evelins Mutter ist Alkoholikerin. Die Eltern leben nach acht Jahren in Scheidung. Evelin hat mit der Mutter ein Umgangsrecht. Sie ist oft in sich versunken. Sie mag die Besuche nicht mehr wahrnehmen. Evelin ist versetzungsgefährdet. Ihre Noten verteilen sich zwischen 2 und 5. Ein heilsamer Schock des Sitzenbleibens hilft hier „richtig gut.“

Ich habe noch ein weiteres Beispiel. Ingo, im Jahr 2005 eingeschult, zeigte gute durchschnittliche Leistungen. Er war freundlich und hilfsbereit. Zusammen mit drei Geschwistern lebt er mit seiner Mutter in einer großen Wohnung. Während der Grundschulzeit gab es aufgrund einer Unterversorgung durch die Mutter einen Kontrollvertrag mit dem ASD, wegen fehlender Sauberkeit und fehlender ordentlicher Kleidung, und es erfolgte eine Kooperation mit der Schule. Ingo kommt oft „ungefrühstückt“, übermüdet und nicht witterungsgemäß gekleidet zu spät in die Schule. Der
Schulranzen ist ein Chaos. Er hat nicht gelernt, sich zu strukturieren. Er passt abends auf seine Geschwister auf, weil seine Mutter nachts oft unterwegs ist. Seine Leistungen liegen zwischen 2 und 5. Er ist mittlerweile versetzungsgefährdet. Ihm hilft das Sitzenbleiben „richtig gut“ weiter.

Sitzenbleiben ist nicht per se schlecht. D‘accord! Wenn Jugendliche im Gymnasium noch eine Runde drehen möchten, damit sie das Abitur schaffen, dann können wir gerne darüber reden. Als heilsamer Schock oder Erziehungsmaßnahme für Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen ist es jedoch das letzte Mittel.

Sie fördern auch die Starken nicht angemessen, wie Sie es immer vor sich hertragen. Ich erinnere als kleinen Nebenschwank an das André-Gymnasium in Chemnitz. An dieser Schule sind sehr leistungsstarke Schüler unterwegs. Allein elf Teilnehmer vom Landeswettbewerb „Jugend musiziert“ lernen an dieser Schule. Dieser Wettbewerb fand vor 14 Tagen statt. Dieses Gymnasium kämpft seit fünf Jahren darum, ein vertieft musisches Profil zu bekommen. Frau Kurth gewährt dem Gymnasium dies nicht. Das möchte ich zur Förderung von unseren Leistungsträgern sagen.

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