Annekathrin Giegengack zur Einrichtung einer Gedenkstätte auf dem Chemnitzer Kaßberg
Redebeitrag der Abgeordneten Annekathrin Giegengack zum Antrag GRÜNE "Aussetzung der Verkaufsaktivitäten für die ehemalige Justizvollzugsanstalt Chemnitz – Diskussion über zukünftige Nutzung des Gebäudekomplexes ermöglichen" in der 45. Sitzung des Sächsischen Landtages, 24.11., TOP 6
Es gilt das gesprochene Wort!
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Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Es ist schon eigenartig, aber wenn Sie so wollen, sind meine Geschwister und ich mit diesem Gefängnis, um das es hier heute geht, aufgewachsen denn in unmittelbarer Nachbarschaft dieser Untersuchungshaftanstalt Chemnitz-Kaßberg liegen zwei Schulen, die wir besuchten, zum einen die Erweiterte Oberschule "Friedrich Engels", von der aus man den Gefängniskomplex überblicken konnte, und zum anderen die Bezirksmusikschule Karl-Marx-Stadt direkt gegenüber dem Gefängnis.
Wir haben dort häufig Häftlingsbusse gesehen. Das war für uns nichts Ungewöhnliches, wussten wir doch, dass die Untersuchungsgefangenen nach ihrer Verurteilung in die JVA Chemnitz-Reichenhain am anderen Ende der Stadt gebracht wurden. Dass von dieser Haftanstalt aus auch Busse in genau die entgegengesetzte Richtung starteten, nämlich in Richtung Autobahn, um Häftlinge über die Grenze in den Westen zu bringen, wussten wir damals natürlich nicht. Damit bin ich auch bei dem Alleinstellungsmerkmal der Untersuchungshaftanstalt Chemnitz-Kaßberg, die mittlerweile geschlossen wurde und zum Verkauf steht.
Sie war über viele Jahre die letzte Station all der Häftlinge, die von der Bundesrepublik freigekauft wurden; sie war die letzte Station auf ihrem Weg in die Freiheit. Zwischen 1963 und 1989 wurden insgesamt 3,5 Milliarden D-Mark ausgegeben für 33.000 Häftlinge, die dadurch in den Westen kamen, und das durchaus auch zum Teil gegen ihren eigenen Willen, wie zum Beispiel bei Roland Jahn.
Der Häftlingsfreikauf zählt zu den schwierigen Kapiteln unserer jüngsten deutschen Geschichte. Viel ist dazu bereits geschrieben und auch wissenschaftlich gearbeitet worden. Doch einen authentischen Gedenkort dafür gibt es in Deutschland bisher nicht. Ich persönlich halte dies jedoch aus eigener Erfahrung für außerordentlich wichtig, denn nur so kann man Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes wirklich begreifen.
Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte hier auf keinen Fall irgendwelche Parallelen ziehen, sondern nur verdeutlichen, weshalb ich authentische Gedenkorte für so wichtig halte, meine Damen und Herren. Es ist so, dass keine Schulstunde, kein Lehrbuchaufsatz oder keine Fernsehdokumentation mir als Kind die Gräuel des Nationalsozialismus so vergegenwärtigt hat wie der gemeinsame Besuch mit meinen Eltern im Konzentrationslager Majdanek. Mein jahrelanges Engagement später bei „Aktion Sühnezeichen“ rührt aus dieser Erfahrung her. Deshalb bin ich zutiefst davon überzeugt, dass wir Orte brauchen, wo unsere Geschichte unmittelbar erfahrbar wird.
Mit der Untersuchungshaftanstalt Chemnitz-Kaßberg haben wir einen solchen Ort sogar in mehrfacher Hinsicht, denn bereits 1933 bis 1945 sind dort unzählige Menschen durch die Gestapo inhaftiert und gefoltert worden.
Wenn Sie in einer dieser Zellen stehen, meine Damen und Herren, wie ich vor kurzem, ist Geschichte auf einmal nicht mehr abstrakt. Es ermöglicht eine Ahnung von dem, was Menschen dort in beiden Diktaturen erleben und erleiden mussten.
Ich freue mich sehr, dass die Koalition unsere Initiative heute aufgenommen hat und wir nicht mehr nur über eine ergebnisoffene Aussetzung über die Verkaufsaktivitäten der JVA Chemnitz-Kaberg abstimmen, sondern über einen gemeinsamen Antrag, mit dem die Einrichturg einer Gedenkstätte bei dem Verkauf des stillgelegten Gefängnisses sichergestellt werden soll.
Wir sind uns darüber einig, dass nicht der ganze Gefängniskomplex zur Gedenkstätte werden soll — das steht außer Frage —‚ und uns ist auch bewusst, dass der Weg dahin noch sehr weit ist. Es muss ein Käufer für das Areal gefunden werden, es muss ein Gedenkstättenkonzept erarbeitet werden, und — das Allerschwierigste an der ganzen Sache — es muss auch finanziell untersetzt werden.
Mit der Annahme dieses Antrages am heutigen Tag können wir den ersten Schritt auf diesem Weg gehen, und deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.