Annekathrin Giegengack zur neuen Bildungsempfehlung: In Deutschland beeinflusst der Bildungs- und Erwerbsstatus der Eltern die Bildungsbiografie der Kinder

Redebeitrag der Landtagsabgeordneten Annekathrin Giegengack zur Aktuellen Debatte „Die neue Bildungsempfehlung – Leistungsgerechtigkeit und Flexibilität für sächsische Schüler“ in der 13. Sitzung des Sächsischen Landtages am 28. April 2010 zum TOP 2
Es gilt das gesprochene Wort!
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Es ist unzweifelhaft und mannigfaltig belegt, nicht zuletzt auch durch die Pisa-Studien, die die CDU gern wie eine Art Monstranz vor sich her trägt: In Deutschland beeinflusst der Bildungs- und Erwerbsstatus der Eltern die Bildungsbiografie der Kinder wie in kaum einem anderen Land. Deshalb hatten viele große Hoffnung bei dem Eintritt der SPD 2004 in die Koalition; denn für die CDU schien das kein großes Problem zu sein, und die SPD hatte schon über Jahre gleiche Bildungschancen für Kinder auf ihrer Agenda.

Was die Koalition allerdings auf den Weg brachte und die neue Koalition jetzt wieder rückgängig macht, nämlich lediglich den Notendurchschnitt für den Zugang zum Gymnasium zu senken, habe ich persönlich als enttäuschend empfunden, weil es der eigentlichen Sache nicht wirklich hilft, gleiche Bildungschancen für alle Kinder zu schaffen. Ich denke, es ist eher geeignet, unter Umständen die negativen Effekte der Gliedrigkeit unseres Bildungssystems zu verschärfen.
Werte SPD, Sie wollten – so findet es sich in Ihrem Wahlprogramm recht kämpferisch – die Mauer unseres Bildungssystems niederreißen, weil sie den freien Zugang zu den Bildungsangeboten verwehrt. Ich bin der Auffassung, Sie haben mit Ihrer neuen Bildungsempfehlung lediglich einen Stein von der Mauer heruntergenommen; denn nicht das Zugangskriterium zum Gymnasium, also der Notendurchschnitt, ist das eigentliche Problem, weshalb Kinder aus bildungsfernen Schichten die Bildungsbiografie ihrer Eltern fortsetzen.
Man kann sich über die Sinnhaftigkeit von Noten durchaus streiten, aber die Noten zeigen lediglich an, inwiefern Kinder in der Lage sind, den Lernstoff zu beherrschen. Noten selbst sind wertfrei.
Frau Stange, Sie haben vorhin eine Statistik angeführt, die darauf hinausläuft, dass unterstellt wird, dass Kinder mit den gleichen Leistungen unterschiedlich benotet werden. Wenn es tatsächlich so ist, dass Lehrer in unserem Land Kindern aufgrund ihrer Milieu- oder Schichtzugehörigkeit schlechtere Noten geben, dann empfinde ich das als Skandal. Dann können wir dieses Problem aber nicht über den Notendurchschnitt lösen, sondern dann müssen wir mit den Lehrern hart ins Gericht gehen.

Wenn wir bei den Noten sind: Die Noten selber geben das Leistungsvermögen der Schüler wieder, aber sie sagen nicht, aus welchen Gründen ein Schüler den Stoff nicht beherrscht. Aber genau dieses Warum ist das Entscheidende, wenn es um gleiche Bildungschancen für Kinder geht.

Kinder aus bildungsfernen Schichten sind nicht weniger intelligent; ihnen fehlt es vielmehr an den wirksamen Unterstützungssystemen, die dazu führen, die Bildungsdefizite in ihren Elternhäusern zu kompensieren. Kindern, die nicht souverän lesen und rechnen können, anzubieten, trotzdem in ein gymnasiales System einzutreten, das Sie im Moment wegen der maximalen Leistungsanforderungen zu Recht am schärfsten kritisieren – ich erinnere Sie an die Anhörung im Ausschuss –, finde ich fahrlässig. Es gaukelt zudem bessere Zugangsbedingungen zu höherer Bildung in unserem Land nur vor.

Einem Kind, das nicht richtig schwimmen kann, hilft es nicht, wenn die Beckentiefe von 2,50 Meter auf 2 Meter reduziert wird. Es wird sich nicht lange über Wasser halten können, es muss schwimmen lernen. Dafür müssen wir sorgen.

Nicht die Zugangskriterien zu verändern ist der richtige Weg, wir müssen vielmehr die Schulen und die Jugendhilfe in die Pflicht nehmen, besonders Kindern aus bildungsfernen Schichten die Orientierung, die Förderung und die begleitenden Unterstützungsleistungen angedeihen zu lassen, die sie tatsächlich in die Lage versetzen, das Abitur zu erlangen. Ich finde, das sächsische Ganztagesschulprogramm, so wie es jetzt gestrickt ist, leistet dies nicht.

Die SPD als Juniorpartner der Koalition konnte, das gegliederte Schulsystem nicht ändern – es war unrealistisch anzunehmen, dass sie das hätte tun können –, aber ich habe nicht verstanden, warum Sie nicht die Chance genutzt und versucht haben, die Attraktivität der Mittelschule zu steigern und vor allen Dingen die Zugänge zum Abitur aus der Mittelschule heraus weiter auszubauen.

Die Gemeinschaftsschule – ich gehe davon aus, dass wir immer noch das gleiche Ziel in diesem Sinne haben – ist nur erreichbar durch eine Etablierung der Mittelschule zu dem erstrebenswerten Lernort für alle Kinder, Herr Brangs.

Gegen die festgesetzten Vorbehalte in Bezug auf längeres gemeinsames Lernen – wir sehen es in Hamburg; Herr Dr. Hahn hat es angesprochen – kann man meiner Meinung nach nur mit einem Beispiel, dass es anders geht, ankommen.