Antje Hermenau: Eine große gemeinsame Verfassungsmodernisierung wäre besser gewesen

Redebeitrag der Fraktionsvorsitzenden Antje Hermenau zur Einbringung des Gesetzentwurf "Gesetz zur Modernisierung der Verfassung des Freistaates Sachsen" (GRÜNE, Drs. 5/12162) , 79. Sitzung des 5. Sächsischen Landtags, Donnerstag, 20. Juni, TOP 2

– Es gilt das gesprochene Wort –
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Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen einige von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bereits vor über einem Jahr in die allgemeinen Gespräche eingebrachten weiteren Vorschläge zur Modernisierung der Verfassung jenseits der Regelungen zur Schuldenbremse zur Beratung und Abstimmung gebracht werden.
Dieser Entwurf ist völlig unabhängig von dem gemeinsamen Verfassungsänderungsentwurf der Fraktionen CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/Grüne zum strukturellen Neuverschuldungsverbot und deren Begleitregelungen zu betrachten. Sie stehen für uns in keinem unmittelbaren Zusammenhang mehr, nachdem am 22.1.2013 abschließend unter den Fraktionsvorsitzenden geklärt worden war, dass die weiteren Anliegen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Linken nicht mitverhandelt werden sollen.
Wir haben in dieses Verfahren eingewilligt, den gefundenen Kompromiss unterschrieben, ihn öffentlich auf unserem Parteitag diskutiert und abschließend entschieden. 8 Mitglieder unserer Fraktion werden am 10.7. zustimmen, eines nicht. All dies ist seit Monaten öffentlich bekannt und da kann ich mich heute und hier für meine Fraktion auch noch einmal öffentlich festlegen. Bei Bündnis 90/Grüne ist alles geklärt.
Ähnliches habe ich auch von den Fraktionen CDU, FDP und SPD gehört. Ich kann also keinerlei Auswirkungen und Probleme auf unsere gemeinsame Verfassungsänderung am 10.7. erkennen.
Da es aber einige Irritationen unter einzelnen Abgeordneten der anderen Fraktionen gab, will ich das gerne kurz aufklären: Wir mussten entscheiden, ob wir im Juni oder im Juli den Entwurf einbringen, denn vor der Sommerpause sollte es auf jeden Fall sein. Wir wollen im Herbst die entsprechenden Anhörungen durchführen und den Kolleginnen und Kollegen in den Fraktionen ausreichend Zeit geben, sich mit unseren Vorschlägen vertraut zu machen. In den letzten Tagen habe ich auch aus den Reihen der FDP und der SPD gehört, dass sie noch weitere Fragen spannend finde, freue ich mich auf eine rege Diskussion im Herbst.
Ich finde es zwar persönlich nicht sehr schön, die Verfassung aufzumachen, etwas gemeinsam zu regeln, sie dann wieder zuzumachen und die nächste Änderung zu diskutieren – vielleicht wieder ein Jahr lang oder länger. Für meinen politischen Geschmack wäre eine große gemeinsame Verfassungsmodernisierung besser gewesen. Aber da sind wir nicht Herr des Verfahrens.
Nach mehr als 20 Jahren ist eine Modernisierung der Verfassung durch Anpassung an neue Erkenntnisse und die allgemeine Rechtsentwicklung aus unserer Sicht angemessen. Mit dem Gesetzentwurf soll eine erkennbare Ausrichtung auf den Klima-, Biodiversitäts- und Ressourcenschutz, auf zeitgemäße Informationsgrundrechte und eine Stärkung der Volksgesetzgebung erreicht werden.
I. Umweltstaatsziel: Umwelt-, Klima-, Ressourcenschutz, Verbandsklage
Die Verfassung muss auf die Grundfragen des menschlichen Überlebens eingehen und sollte zeitgemäß auch den Schutz des Klimas und der Artenvielfalt als Staatsziele verankern. Auch müssen Ziele des Erhalts der Regenerationsfähigkeit von Naturgütern sowie Ressourcenschutz aufgenommen werden. Die Erweiterung des Umweltstaatsziels erfüllt damit den Zweck, den Schutzauftrag des Freistaates auf allen Ebenen zu erweitern und den einfachen Gesetzgeber zu verpflichten, auch Maßstäbe zum Schutz der Atmosphäre und Biodiversität zu bilden.
a.) zu Abs. 1 (Erweiterung des Schutzbereichs)
Artikel 10 Absatz 1 der Sächsische Verfassung nennt Boden, Wasser und Luft als die Umweltgüter, die der Staat als Staatsziel zu schützen hat. Der Klimaschutz ist aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse seit 1992 zu einem zentralen Staatsziel geworden. Mit der Einfügung des Schutzguts Atmosphäre wird der Freistaat Sachsen zu einer wirksamen Klimaschutz- und Klimaanpassungspolitik verpflichtet, etwa zum Aufbau einer klimaverträglichen Energiewirtschaft.
Umweltgüter sollen künftig nicht mehr nur als Rohstofflager, sondern als natürliche Lebensgrundlage des Menschen geschützt werden. Der derzeitige globale Hochverbrauch von Umweltgütern hat die Tragfähigkeit der Erde bereits überschritten und die Erneuerungsfähigkeit der Ökosysteme selbst angegriffen. Daher sollte die Verfassung den Erhalt und die Wiederherstellung der Erneuerungsfähigkeit der natürlichen Lebensgrundlagen in Sachsen und weltweit ausdrücklich als Staatsziel aufnehmen.
Neben dem Klimawandel ist der Verlust der Biodiversität, also der Vielfalt der Arten und der Lebensräume sowie der Vielfalt innerhalb der Arten, die größte umweltpolitische Herausforderung. Daher sollten der Aufbau und die Gewährleistung eines Biotopverbunds in Sachsen zur Gewährleistung der Überlebensfähigkeit der Biodiversität als Staatsziel aufgenommen werden.
Artikel 10 Absatz 1 Satz 2 der Sächsischen Verfassung regelt bisher die Pflicht des Landes, auf die sparsame Nutzung von Wasser, Energie und Rohstoffen sowie auf deren Rückgewinnung hinzuwirken. Mit der vorgeschlagenen Regelung soll die Pflicht zur sparsamen Nutzung auch für Boden sowie Luft und Atmosphäre in ihrer Eigenschaft als Aufnahmemedien von Schadstoffen gelten.
Aus der Sicht einer anzustrebenden echten Kreislaufwirtschaft sind alle abiotischen und biotischen Umweltgüter effizient zu verwenden, möglichst wiederzuwenden und nicht erneuerbare Ressourcen durch andere stoffliche, technologische oder soziale Lösungen zu ersetzen (Substitution).
Das öffentliche Beschaffungswesen bietet wichtige Einflussmöglichkeiten des Staates. Daher sollte die Sächsische Verfassung einen konkreten Handlungsauftrag zur Beachtung des Ressourcenschutzes und der Förderung der Kreislaufwirtschaft in der Haushaltswirtschaft und dem Vergabewesen enthalten. Wir haben dazu bereits ein Vergabegesetz vorgelegt, dass sie leider abgelehnt haben.
b.) zu Abs. 2 (Verbandsklagerecht)
Artikel 10 Absatz 2 der Sächsischen Verfassung gewährt in der bisherigen Fassung anerkannten Naturschutzverbänden das Recht an „umweltbedeutsamen Verwaltungsverfahren mitzuwirken“. Zudem ist ihnen „Klagebefugnis in Umweltbelangen einzuräumen“. Dieses Verbandsklagerecht war für die Fraktion BÜNDNIS 90/GRÜNE im Jahr 1992 ein wesentlicher Grund, der Sächsischen Verfassung zuzustimmen. Trotz der eindeutigen Bezugnahme auf „Umwelt“-Belange regelte das Sächsische Naturschutzgesetz nur ein enges Klagerecht in Naturschutzbelangen. Da der Sächsische Verfassungsgerichtshof diese einfachgesetzliche Regelung 1995 leider für verfassungskonform hielt, ist eine Klarstellung auf Verfassungsebene unabdingbar. Wir fühlen uns insoweit dem Vermächtnis der ersten GRÜNEN Fraktion in diesem Landtag verpflichtet.
Daher soll nun eine eindeutige Formulierung gewählt werden, die den anerkannten Umwelt- und auch Tierschutzvereinen das Beteiligungs- und Verbandsklagerecht in allen Umweltbelangen und für alle förmlichen Verwaltungsverfahren einräumt. Die vorgetragenen Befürchtungen einer Klagewelle aufgrund der Ausweitung der Verbandsklagerechte sind längst empirisch widerlegt. Allein die Existenz des Verbandsklagerechts hat heilsame Wirkungen auf die Sorgfalt, mit der Behörden Umweltbelange ermitteln und berücksichtigen. Auch auf einfachgesetzlicher Ebene treten wir für ein Verbandsklagerecht auf Herstellung behördlich angeordneter Ausgleichsmaßnahmen und in Tierschutzangelegenheiten ein.
II. Informationsfreiheit
Mit der Neufassung des Artikels 34 soll ein allgemeines Grundrecht auf Informationsfreiheit in die Sächsische Verfassung eingeführt werden. Damit wird die Schaffung eines Sächsischen Informationsfreiheitsgesetzes erforderlich und jede Bürgerin und jeder Bürger kann sich unmittelbar auf die Verfassung berufen, um bei Kommunen oder dem Freistaat Informationsansprüche geltend zu machen. Das Informationsgrundrecht gilt für alle Daten der staatlichen und kommunalen Verwaltung, der kommunal oder staatlich beherrschten Gesellschaften und für Daten der Staatsregierung.
Diese Daten sind mithilfe von Steuergeldern im Interesse des Gemeinwohlauftrags der Verwaltung zusammengetragen worden. Ein Informationsmonopol des Staates ist daher nicht gerechtfertigt. Im Übrigen ist Informationsfreiheit ein Bürgerrecht, das die Wahrnehmung demokratischer Rechte und die Kontrolle der Exekutive fördert sowie der Korruption vorbeugt. Mit dem Vorschlag werden langjährige Forderungen der Datenschutz- und Informationsfreiheitsbeauftragten aufgenommen.
III. Erleichterung der Volksgesetzgebung
Die Instrumente der unmittelbaren Demokratie sollen mit Leben erfüllt werden. Daher ist die Volksgesetzgebung zu erleichtern. Dieses Ziel soll durch eine Herabsetzung des Quorums für ein Volksbegehren auf Landesebene auf fünf Prozent der Stimmberechtigten und die Einführung des Rechts des Volkes einen Volksentscheid gegen ein vom Landtag verabschiedetes Gesetz durchzuführen, erreicht werden.
Die in der Verfassung vorgesehene Gleichrangigkeit von parlamentarischer und Volksgesetzgebung wurde in Sachsen bisher nicht erreicht. Die Chancen für den Volksgesetzgeber, ein erfolgreiches Volksbegehren zu initiieren, scheitern an dem zu hohen Quorum von 450.000 Stimmen, das mittlerweile etwa 15 Prozent der Stimmberechtigten entspricht. Das Quorum soll daher auf fünf Prozent aller Stimmberechtigten herabgesetzt werden. Dieser Vorschlag orientiert sich an der Gruppe der Länder mit den geringsten Quoren, von etwa vier Prozent bis acht Prozent [Schleswig–Holstein (5 %), Nordrhein-Westfalen (8 %), Brandenburg (3,7 %), Mecklenburg Vorpommern (8 %)].
Statistik: Nächster Volksentscheid in Sachsen im Jahre 2036!
Statistisch gesehen findet pro Bundesland nur etwa alle 35 Jahre ein Volksentscheid statt. Danach wäre es in Sachsen im Jahr 2036 wieder soweit. Dies entspricht nicht dem Ideal einer bürgerfreundlichen Regelung zur Volksgesetzgebung. Für uns ist diese Statistik keineswegs ein Beleg dafür, dass die Sachsen sich keine direkten Entscheidungen über wichtige Themen der Landespolitik zutrauen. Auch nicht, dass die Bürgerrinnen und Bürger so unkritisch glücklich mit der seit 20 Jahren bestehenden ununterbrochen bestehenden Entscheidungshoheit CDU geführter Regierungen sind. Niedrigere Quoren fördern öffentliche Diskussionsprozesse und bürgerschaftliches Engagement, was in einem demokratischen Rechtsstaat essenziell ist. Wenn die Bürgerinnen und Bürger die reale Chance sehen, das Unterschriftenquorum zu erreichen, können sie sich eher für politische Themen engagieren.
Das kassatorische Volksbegehren regelt den Fall der Komplettaufhebung eines vom Landtag beschlossenen und in Kraft getretenen Gesetzes auf Initiative des Volkes. Mit dieser Regelung wird ein wichtiges Element der direkten Demokratie eingeführt, worauf Sachverständige in der Anhörung zum Gesetzentwurf der LINKEN, Drs. 5 / 3705, vom 21. März 2011 hingewiesen haben. Hier wollen wir mit unserem Vorschlag einen Anker in der Verfassung setzen. Es ist klar, dass dieses Verfahren noch einer einfachgesetzlichen Umsetzung bedarf.
Wir GRÜNE laden sie ein, mit uns den vorliegenden Entwurf zu diskutieren und die Verfassungsdiskussion mit der Änderung der Finanzverfassung nicht zu beenden, sondern dies als Anfang für eine Modernisierung zu begreifen.
Vielen Dank!

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