Antje Hermenau zur Halbzeit-Regierungserklärung von Ministerpräsident Tillich

Sachsen hat Zukunft – trotz dieser Regierung. Sachsen hat Zukunft, wenn diese peinliche Koalition vorbei ist
Redebeitrag der Fraktionsvorsitzenden Antje Hermenau zur Regierungserklärung "Moderne Heimat – Sachsen hat Zukunft" von Ministerpräsident Stanislaw Tillich, 51. Sitzung des Sächsischen Landtages, 7. März 2012, TOP 1
Es gilt das gesprochene Wort!
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Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
Herr Ministerpräsident, Sie haben damit begonnen, dass Sachsen ein Zukunftsland sei. Dem pflichte ich ausdrücklich bei. Sachsen hat Zukunft – trotz dieser Regierung. Sachsen hat Zukunft, wenn diese peinliche Koalition vorbei ist.
Sie haben doch 2009 so kühn mit der Behauptung angefangen, die Dresdner
Koalition solle das große Beispiel für Berlin sein. Nun ist das Beispiel ein bisschen eher in die Brüche gegangen. Aber in Berlin sind auch die Probleme größer; da hat man hier gut Grinsen.
Wenn es einen Unterschied zwischen der Koalition in Berlin und der in Dresden gibt, dann ist es der, dass die Regierung in Berlin eine echte Chefin hat, der man die Ernsthaftigkeit nicht absprechen kann.
Dass Sie die vergangenen zwei Jahre des Stillstands vergessen machen möchten, Herr Tillich, glaube ich gern. Das kann ich nachvollziehen. Aber in meinen Augen ergeben Sie sich der Illusion, es liege an Ihrer Kommunikation, dass Ihr bisschen Politik so wenig Anklang findet. Sie irren: Es ist Ihre schlechte Politik! Sie kommt bei den Menschen genauso an, wie sie ist. Sie haben kein Kommunikationsproblem. Sie haben ein Leistungsproblem – ganz eindeutig.
Nun haben Sie mit Ihrer Halbzeitbilanz in einem Multimediavortrag eine ganze Woche lang versucht, hier alles lahmzulegen, was am Nachdenken ist. Die politische Debatte war weniger lebendig als die zu einem Rechenschaftsbericht des ZK der SED, wenn ich mich richtig erinnere.
Sie hüllen sich in eine verbale Realitätsverweigerung wie in einen Mantel und täuschen Dialog vor, wo bitteres geistiges Schweigen herrscht. Wir haben eine Woche lang politisches Geplapper in drei Oktaven erlebt, von schrill bis guttural. Aber wie gesagt: Sachsen hat Zukunft. Das ist eine Frage der nötigen Ernsthaftigkeit.
Ich bin nicht wütend und nicht empört. Ich bin allerdings enttäuscht. Das, was Sie heute geboten haben, war eine ganz besonders perfide Form von Wählertäuschung; denn ich befürchte, sie beruht auf bedrohlicher Selbsttäuschung.
Gute Politik beginnt nun einmal mit der nüchternen Betrachtung der Wirklichkeit, auch der, die Sie in den letzten zwei Jahren geschaffen haben. Das überspringen Sie jedoch. Dass Sie aus der Gegenwart, die Sie selber zu verantworten haben, fliehen wollen, ist mir menschlich nicht fremd.
Aber was haben Sie nach der friedlichen Revolution nun wirklich anders gemacht als die anderen neuen Länder? Sie, Herr Tillich, und Sie, Herr Zastrow, erst einmal nichts; denn Sie waren damals nicht am Drücker. Sachsen wurde von Männern mit einem gewissen inhaltlichen Anspruch – den man in der Sache nicht immer teilen muss; um das abzuräumen -, von Männern, deren Aussagen inhaltlich immer Substanz hatten, regiert.
Sie, die politisch so viel schwächeren Nachfolger in schwarz-gelber
Gefahrenwarnfarbe, leben von der Substanz, die ein Kurt Biedenkopf und ein Georg Milbradt aufgebaut haben. Sie tun das in meinen Augen sogar schamlos und ein bisschen krampfhaft.
Ihr strategisches Ziel sei es – erstens -,2020 wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Dieses Ziel sollte man in der Tat in Sachsen haben, wenn man hier seriös Politik macht. Trotzdem werden wir auch 2020 weiter Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen aus Berlin in Anspruch nehmen müssen.
Sie sagen zweitens, man wolle zur Spitzengruppen der europäischen Regionen
gehören. Da gehen die Pferde mit Ihnen durch! Die vier stärksten europäischen Regionen sind nach meinem Wissensstand Katalonien, die Lombardei, die Bourgogne und Baden-Württemberg. Von denen trennen uns Welten. Das darf man ehrlich sagen, das ist keine Schande. Inzwischen überholt uns aber hinsichtlich der ökonomischen Eckdaten bereits Thüringen. Sie beschwören etwas, was Ihnen Schritt für Schritt durch die Finger gleitet.
Die Wirtschaft in diesem Land funktioniert trotz Ihres unfähigen Wirtschaftsministers, nicht wegen seiner Existenz. Das verdanken wir den Unternehmerinnen und Unternehmern.
Aber Sie haben den Klein- und Mittelständlern, den Handwerkern besonders viel versprochen: bessere Förderpolitik, keine Bürokratie. Aber inzwischen sind Mitnahmeeffekte normal. Zielgenauigkeit gibt es nicht, Effizienz auch nicht. Ihre Regierung gibt weiterhin den Musterschüler ohne eigenen Gestaltungsanspruch in der Förderpolitik. Das ist ein kapitaler politischer Fehler.
Drittens. Sie sagten, Sie wollen, statt westdeutsche Strukturen nachzubauen,  Trendsetter und Vorreiter sein. Gerne! Das predige ich hier seit Jahren. Ich warte darauf, dass endlich diese Zündung kommt. Worin besteht denn nun dieses Vorreitertum? Im Verpeilen der wichtigsten politischen Lösungen? Was ist denn Sachsens Beitrag zur Energiewende? Was ist es denn? Dass Sie bei der Frage der Fotovoltaik nicht mit den CDU-gefOhrten Ländern Thüringen und Sachsen-Anhalt den Schulterschluss suchen, sondern auf ideologisch motivierte Jagd gehen. Worin sind Sie denn Vorreiter? In Öffnungszeiten – ich weiß, das ist ein alter Hut – von Videotheken und Waschanlagen, in der Vernachlässigung des ländlichen Raums aus Angst vor demografisch bedingten harten Herausforderungen, in einer völlig verfehlten Innenpolitik, die nach Jahren des unverantwortlichen Schürens von Konflikten nun zum ersten Mal am 13. Februar endlich, endlich von Vernunft geboten geändert wurde und die friedlichen Demonstranten gegen die Nazis eben mal nicht eingekesselt und kriminalisiert wurden.
Der Fremdenfeindlichkeit, die in Sachsen viel zu verbreitet ist, wollen Sie
entschlossen entgegentreten. Aber da sind nicht nur Sie, Herr Ministerpräsident in persona, sondern da ist durch Ihre Regierung leider ganz Sachsen in dieser Republik Bummelletzter. Wollen Sie in einer hektischen Übersprungshandlung nun gleich die NPD verbieten lassen? Es ist der Job der Demokraten, dass diese Truppe bei der nächsten Landtagswahl nicht wieder in dieses Parlament einzieht.
Das Verbot atmet viel zu viel alte DDR. Die Innenpolitik dieser Koalition war in den letzten Jahren eine gigantische Fehlleistung. Sie war übrigens so schlecht, Herr Zastrow, dass man in Deutschland ein ganz schlechtes Bild von Sachsen hat. Man macht sich sogar Ober Sachsen lustig. Das liegt eben nicht zuletzt auch an Ihrer Tigerenten-Koalition.
Hätten Sie hier, Herr Ministerpräsident, eine ehrliche Bilanz vorgelegt mit Erfolgen, die berechtigt sind, und mit Fehlern, die gemacht worden sind, also ernsthaft, dann hätten Sie auch meinen Respekt bekommen. Diese Möglichkeit steht Ihnen nach dieser Bilanz nun nicht mehr offen. Ich sage mal etwas spöttisch: Wer nichts zu verbergen hat – das ist meine Erfahrung im Leben -, hängt ein besonders großes Feigenblatt davor und regt die Fantasie an, aber bei Ihrer Bilanz hätte eine Fichtennadel völlig ausgereicht.
Sachsen ist ein Wirtschaftsland. Sie ignorieren die Spaltung des Arbeitsmarktes und das Schicksal der Langzeitarbeitslosen in Sachsen. Sie haben den Kommunalkombi und "Tauris" gestrichen, was ein Fehler war. Sie fördern den Mittelstand und das Handwerk zu wenig, aber das hatten wir schon. Sie haben keine breite Rohstoffstrategie. Ihre Tourismusstrategie ist in einem unvollendeten Versuch steckengeblieben. Beim Bürokratieabbau sind Sie in keiner Weise vorangekommen. Es gibt nur Ankündigungen von Vereinfachungen.
Sachsen ist ein Familienland, sagen Sie. Ja, in zwei Großstädten und hier
maßgeblich in alternativen Milieus, die weder mit der FDP noch mit der CDU viel am Hut haben, aber an Kitas und Schulen fehlt es an allen Ecken und Enden.
In den nächsten Jahren werden Tausende Lehrer fehlen. Familienland?
Wissensland? Die Bildung in Sachsen ist ein Exportschlager, sagen Sie. Ich musste darüber unwillkürlich lachen, weil es so offenbar ist: ja, und die guten Leute gehen dann alle weg. Das heißt, sie werden hier gut ausgebildet und haben viele Gründe, nicht in diesem Land zu bleiben. Darüber muss eine Regierung meiner Meinung nach täglich nachdenken.
Und wenn Sie, Herr Zastrow, daherkommen und sagen, naja, da müssen wir ein paar Studenten abweisen, die können wir irgendwie nicht bezahlen, das passt genau zur Aktion "Eierschecke an der Autobahn", wenn Sie den Fachkräftemangel mit unzureichenden und falschen Maßnahmen versuchen abzubauen. Natürlich brauchen wir Studenten hier, und zwar so viele wie möglich. Verhandeln Sie lieber mal mit anderen Bundesländern, dass Sie dafür auch das Geld bekommen. Das wäre viel klüger.
Wenn Sie von einem wunderschönen Land sprachen, Herr Tillich, dann geht es nicht um Romantik, sondern um natürliche Lebensgrundlagen. Ihre Landwirtschaftspolitik bedeutet ausgeräumte Landschaften, Monokulturen, industrielle Tierhaltung und Gentechnik. In Ihrer Klimapolitik ist kein systematischer Ansatz erkennbar. Sie haben offenkundig Angst vor dem unausweichlichen Strukturwandel in der Energiewirtschaft. Ihre Ausbauziele bleiben unambitioniert. Sachsen-Anhalt und Thüringen haben uns bereits klar überholt. Das lässt sich auch nicht durch Beschimpfungen und Geschwätz über die GRÜNEN wiedergutmachen. Da sind wir wieder beim Akt der Selbsttäuschung.
Aber ich habe einen Vorschlag. Wir können ja Atmosphären- und Klimaschutz in die Verfassung aufnehmen, wenn wir sie debattieren. Dann könnte Sachsen vielleicht ein wunderschönes Land bleiben.
Sachsen ist ein Solarland, haben Sie behauptet. Das verstolpern Sie gerade. Sie versuchen, von Ihrem eigenen Braunkohlefetischismus abzulenken, betrachten die erneuerbaren Energien als zu teuer, aber das wirkliche Potenzial haben Sie nicht begriffen. Und der Wirtschaftsminister ist da besonders begriffsstutzig. Aktuell sehen wir das bei Ihrem Jubel für die Kürzungen in der Solarindustrie.
Sachsen ist ein solidarisches Land. Ja, Solidarität wird hier großgeschrieben, aber das Land hat keine solidarische Regierung. Die Staatsregierung hat durch willkürliche und überproportionale Kürzungen im Sozialbereich bereits soziale Schulden produziert. Sie können nicht auf der einen Seite Ihre fiskalische Nichtverschuldung wie eine Monstranz vor sich hertragen und dafür Schulden im Staat, im Gemeinwesen und in der Gesellschaft aufbauen. Das wird am Ende schiefgehen.
Sachsen sei ein demokratisches Land. Ja, damit kann bei nüchterner Betrachtung der Realität nur die Zukunft gemeint sein, aber wir haben die Verfassungsdebatte noch vor uns.
Sachsen ist ein sicheres Land. Lesen Sie heute einmal die "Welt". Das ist kein Kommunistenblatt. Das können Sie ruhig lesen, ohne Schaden zu nehmen. Darin steht ein guter Artikel über die bevorstehende Öffnung eines Thor-Steinar-Ladens, der aber den Namen "Brevik" trägt. Für die, die sich nicht mehr erinnern – das ist der Attentäter, der im letzten Jahr im norwegischen Oslo und auf Utoya so viele Menschen getötet hatte.
Diese Dinge passieren. Und jetzt kommen wir zum Staat zurück. Die rechtsextreme Gewalt im Alltag nimmt zu. Die freien Kräfte marschieren wieder. Der parlamentarische Arm dieser Bewegung beginnt aus der Sicht der eigenen Nazis sozusagen zu verfaulen. Das liegt an Ihnen von der FDP. Das ist aber gut so, dann werden sie rausgewählt. Statt dem zu begegnen, schüren Sie von der Regierung nur Misstrauen durch Gesinnungs-TÜV und indem Sie Bürger, die sich engagieren, diskriminieren.
Sachsen ist ein Bürgerland. Das können Sie beweisen, indem Sie den Bürgern
vertrauen und ihnen in der Verfassungsdebatte zum Beispiel demografisch mit der Anpassung der Quoren beim Volksentscheid entgegenkommen, den elektronischen Datenschutz verbessern und solche Fragen beantworten.
Sachsen ist kein armes Land, es gibt aber ein strukturelles Einnahmeproblem, das ist auch jedem klar. Daran müssten Sie konzentriert Tag und Nacht arbeiten. Stattdessen haben wir hier irgendwelche theoretischen Haushaltsdiskussionen. Sie haben gesagt, CDU und FDP wissen, was zu tun ist und wollen das Richtige tun. Ich frage Sie, Herr Tillich und Ihren Koalitionspartner gleich mit: Wer hat Sie daran gehindert? Es scheint eine neue Erkenntnis bei Ihnen zu sein, Sie wollen Gespräche anregen, zum Beispiel mit den Gewerkschaften, Vereinen usw. Die Kirche haben Sie weggelassen. Nach der Beschimpfung vom letzten Jahr durch Ihren Koalitionspartner ist das vielleicht auch klar.
Die bürgerliche Koalition aus CDU und FDP steht für Aufstieg durch Bildung in unserem Land. Für Einzelne war das gewiss so. Die FDP hat davon regen Gebrauch gemacht und aufstiegswilligen Parteimitgliedern den Weg geebnet.
Bildung war kein Kriterium. Deswegen glaube ich, dass wir es hier mit einer sehr schmalen bürgerlichen Koalition zu tun haben, einer kleinbürgerlichen Koalition.