‚Behindern verhindern‘? − Volkmar Zschocke: Sachsen ist auf dem Weg, sich auf den Weg zu machen − Negativbeispiel: Schulgesetz
Rede des Abgeordneten Volkmar Zschocke zur 1. Aktuellen Debatte der CDU- und der SPD-Fraktion zum Thema ‚Behindern verhindern – der Freistaat Sachsen auf dem Weg in die inklusive Gesellschaft‘
40. Sitzung des Sächsischen Landtags, 1. September 2016, TOP 1
– Es gilt das gesprochene Wort –
Herr Präsident,
meine Damen und Herren,
vielleicht ist der Freistaat ja auf dem Weg, sich auf den Weg in eine inklusive Gesellschaft zu machen. Die Frage ist nur, ob und wann er da auch ankommt. "Behindern verhindern" ist aber auf jeden Fall schon einmal die richtige Einstellung. Die gleichlautende Kampagne der Staatsregierung hat interessante Motive, die zum Nachdenken anregen. Frau Klepsch hält sie für frech – nun ja.
Sachsen auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft, das hat aber auch wirklich lange gedauert. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist immerhin schon 2009, also vor sieben Jahren, in Deutschland ratifiziert worden, und ohne den Druck, den die Behindertenverbände hierbei auf die Staatsregierung gemacht haben, hätte sie sich wahrscheinlich nie auf den Weg gemacht. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an eine Plenarsitzung in der letzten Legislaturperiode. Damals waren Sie, Frau Clauß, noch Ministerin. Damals hat die GRÜNE-Fraktion die Erarbeitung eines Aktionsplans beantragt, und dazu haben Sie gesagt, Sachsen brauche hier keinen Aktionismus. Damit hat sich die Ministerin quasi gegen einen solchen Plan ausgesprochen. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei.
Aber nach wie vor behindern zu viele Widerstände die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen. Der echte Veränderungswille im Sinne von Weichenstellung ist für mich noch nicht wirklich spürbar.
Warum bin ich noch skeptisch? Ich möchte das kurz darlegen. Wenn Sie sich einmal den Prozess der Erstellung des Landesaktionsplans anschauen, so wurde darin wiederholt von den Behindertenverbänden angemahnt, dass sie ihre Beteiligung eher als Alibi empfunden haben. Sie hatten den Eindruck, dass ihre Stimme kein oder zu wenig Gewicht hat, und das ist doch fatal, meine Damen und Herren, weil es doch um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung geht. Auch das Online-Beteiligungsportal der Staatsregierung ist zunächst mit recht hohen technischen und sprachlichen Barrieren gestartet. Ob auch die gesamte Staatsregierung hier echten Gestaltungswillen hat, möchte ich noch bezweifeln.
Gerade wird ja das Schulgesetz überarbeitet. Eine wesentliche Weichenstellung für gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung wäre ja zum Beispiel, Begegnung auf Augenhöhe zu ermöglichen. Wo sonst, wenn nicht in der Schule, sollte man das einüben? Gemeinsames Lernen, egal, ob in der Dorfschule oder in der Großstadtschule, legt doch den Grundstein für gemeinsames Arbeiten dann später, gemeinsame Kino- und Schwimmbadbesuche, Theaterbesuche oder zum Beispiel das gemeinsame Leben in einer Wohngemeinschaft während der Ausbildung. Diese wichtige Weichenstellung wird allerdings verpasst, indem Sie es unterlassen, entsprechende Regelungen im Schulgesetz zu treffen. Sie halten eben an der Förderschulpflicht fest. Ihre Inklusionsstrategie in der Schule heißt Inklusion nach Haushaltslage, nach Ermessen der Schulleiter, und das ist eigentlich das Gegenteil dessen, was die UN-Behindertenrechtskonvention will. Damit verhindern Sie nicht das Behindern; vielmehr wird Behinderung im Schulsystem weiter manifestiert.
Eine andere Weichenstellung wäre zum Beispiel die Absicherung und Herstellung weitestgehender Barrierefreiheit oder Barrierearmut im öffentlichen Raum. Da geht es um Barrieren, die den Zugang zu Gebäuden verhindern. Es geht aber auch um Barrieren, die kulturelle Teilhabe unmöglich machen, um Barrieren in der Kommunikation. Auch diesbezüglich steht die Staatsregierung meines Erachtens wirklich noch am Anfang. Der große Wurf ist hier noch nicht gemacht.
Wir befassen uns ja gerade intensiv mit dem neuen Doppelhaushalt. Dort sind gerade einmal an vier Stellen Mittel für die Herstellung von Barrierefreiheit eingeplant, so für das Programm "Lieblingsplätze für alle", für ein Fortbildungsprogramm Barrierefreiheit, dann die Zuschüsse, die für barrierefreie
Anpassung von Mietwohnungen geplant sind, und natürlich für Barrierefreiheit bei der Informationstechnik und beim E-Government. Die dafür eingestellten Mittel sind aber zunächst einmal nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Das ist allenfalls ein Zeichen, mehr noch nicht, und von diesem grundlegenden "Behindern verhindern" kann beim Thema Barrierefreiheit in Sachsen wirklich noch nicht die Rede sein.
Ich könnte jetzt die Liste der Nachholebedarfe noch fortführen. Aber ich möchte Sie eigentlich motivieren, Frau Klepsch, hier aktiv weiterzumachen.
Haben Sie mehr Mut und treiben Sie vor allem Ihre Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Ministerien an, sich hier wirklich mit mehr Elan und mit mehr Engagement für das Ziel "Behindern verhindern" ins Zeug zu legen. – Soweit von uns.
Danke schön.
Kurzintervention von Volkmar Zschocke auf die Rede von Sozialministerin Barbara Klepsch:
Frau Ministerin, es betrifft nicht Ihr Ministerium, aber wenn die Beschulung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht als Regelfall betrachtet wird, sondern in das Ermessen der Schulleiterentscheidung gestellt wird, und wenn die Schulen auch nicht langfristig dafür ausgestattet werden, dann ist das Glas nicht halb voll, sondern es geht dann in die falsche Richtung. Es war mir wichtig, das deutlich zu machen. – Danke.