Bildungsfreistellungsgesetz − Zais: Die Beschäftigten sollen auch in Sachsen endlich einen gesetzlichen Mindestanspruch auf Bildungsfreistellung bei Fortzahlung des Arbeitsentgeltes erhalten

Rede der Abgeordneten Petra Zais zum Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN "Gesetz über den Anspruch auf Bildungsfreistellung im Freistaat Sachsen"
59. Sitzung des Sächsischen Landtags, 31. August, TOP 5, Drs. 6/10397

– Es gilt das gesprochene Wort –

Herr Präsident,
meine Damen und Herren,
über kaum etwas im Bildungsbereich wird heute so viel geschrieben und gesprochen wie darüber, dass die Menschen ständig weiterlernen müssen, um nicht zurückzubleiben.
Wer dem Trugschluss erliegt, nach Schule und Studium wäre der Lernprozess abgeschlossen, wird es in der heutigen Arbeitswelt schwer haben. Noch vor fünfzig Jahren waren Erwachsene, die Weiterbildungsseminare besuchten, mit der Frage konfrontiert: "Hast du das nötig?". Heute müssen sich Erwachsene, die sich nicht weiterbilden, fragen lassen: "Was, du bildest dich nicht weiter?"
Lebenslanges Lernen hat sich nicht nur als Idee und als Konzept, sondern auch praktisch, sozial und politisch zu einem selbstverständlichen Teil des menschlichen Lebens entwickelt – und das aus gutem Grund, denn das Leben und auch die Arbeitswelt werden immer komplexer.
Die Produktivität des Menschen hängt von neuen Technologien ab und erzeugt sie. Mit der raschen Weiterentwicklung der Technologien, der fortschreitenden Globalisierung und den damit einhergehenden Handels- und Warenbeziehungen verändern sich fortlaufend die Bedingungen, unter denen das eigene Leben gestaltet werden kann und muss.
Lernen ist heute zu einem stetig andauernden Prozess geworden. Schätzungen ergaben, dass sich das Wissen der Menschheit im 18. Jahrhundert alle 100 Jahre verdoppelte. Heute dauert das nur noch fünf Jahre. Die Bedeutung von Bildung als Schlüssel für die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit steigt deshalb kontinuierlich. Längst ist Bildungspolitik, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, auch Standort- und Sozialpolitik.
Lebenslanges Lernen ist natürlich für die Steigerung des eigenen Qualifizierungsniveaus als Nachfragefaktor auf dem Arbeitsmarkt wichtig. Es trägt aber auch zur persönlichen Entwicklung bei, weil es hilft, mit ständig neuen Herausforderungen im eigenen Leben und der Gesellschaft zurechtzukommen. Wer neue Dinge lernt, der lernt automatisch auch motivierte Menschen kennen, die ebenso Neues lernen möchten. Dies ist inspirierend und bringt einen weiter.
Wie ist – mit dem Blick auf die Bundesrepublik – die Lage in Sachsen Weiterbildung?
1. Die Wahrnehmung von Weiterbildung hängt maßgeblich von der beruflichen Stellung ab. Angestellte und Beamte beteiligen sich am häufigsten an Weiterbildung (64 Prozent). Darauf folgen mit Abstand die Selbstständigen (53 Prozent) und die Arbeiter (44 Prozent).
2. Abhängig Beschäftigten mit höherer beruflicher Position beteiligen sich häufiger an Weiterbildung insgesamt und insbesondere an betrieblicher Weiterbildung.
3. Zwei Drittel der Fachkräfte nehmen Weiterbildung wahr. Unter den Un- und Angelernten liegt die Quote mit 44 Prozent weit darunter.
4. Für abhängig Beschäftigte ist zudem die Größe des Betriebs, in dem sie arbeiten, relevant. Mit zunehmender Betriebsgröße steigen die Teilnahmequoten an Weiterbildung deutlich an – von 36 Prozent bei abhängig Beschäftigten in Betrieben mit ein bis zehn Beschäftigten bis 69 Prozent bei Erwerbstätigen in Betrieben mit 1.000 oder mehr Beschäftigten.
Dieser Fakt ist für Sachsen insbesondere deshalb wichtig, weil wir – abgesehen vom öffentlichen Dienst – kaum Großunternehmen haben. Rund 90 Prozent aller sächsischen Betriebe gehört statt dessen zu den Kleinstbetrieben mit weniger als zehn Beschäftigten.
5. Im Jahr 2014 nahmen etwa drei von fünf Personen mit hohem Schulabschluss (62 Prozent) wenigstens eine Weiterbildungsaktivität wahr. Darauf folgen Personen mit mittlerem Abschluss (53 Prozent). Die Teilnahmequote von Personen mit niedrigem Schulabschluss liegt mit gut einem Drittel (36 Prozent) deutlich darunter. Auch mit zunehmendem beruflichem Bildungsniveau ist eine steigende Beteiligung an Weiterbildung zu erkennen. Zwei Drittel der Personen mit akademischem Abschluss beteiligen sich an Weiterbildung (67 Prozent), unter Personen ohne Berufsabschluss sind es noch 39 Prozent.
Weiterbildung in Sachsen ist noch weit entfernt von einem systematischen Ansatz des lebenslangen Lernens. Zwar haben wir mit dem Portal "Bildungsmarkt-sachsen.de" die größte Weiterbildungsdatenbank Sachsens mittels staatlicher Unterstützung entwickelt – Glückwunsch übrigens für den 1. Platz beim Test der Stifung Warentest – allerdings sind die Barrieren für den gleichberechtigten Zugang zu Weiterbildungsmaßnahmen in Sachsen nach wie vor hoch und müssen abgebaut werden.
Dieses Ziel verfolgt unser Gesetz über den Anspruch auf Bildungsfreistellung im Freistaat Sachsen. Beschäftigte in Sachsen sollen jenseits anderer gesetzlicher und tarifvertraglicher Regelungen einen gesetzlichen Mindestanspruch auf Bildungsfreistellung bei Fortzahlung des Arbeitsentgeltes erhalten.
Die Idee eines Sächsischen Bildungsfreistellungsgesetzes hat eine lange Geschichte. Bereits 1991 brachte die erste GRÜNEN-Landtagsfraktion einen ähnlichen Gesetzentwurf (Drs 1/906) im Landtag ein, es folgte 1995 ein Entwurf der Linken und auch SPD und Grüne haben sich 2011 bereits mit dem Thema befasst (Drs. 5/6323 bzw. 5/6867).
Neben Bayern ist Sachsen mittlerweile das einzige Bundesland, in dem es trotz dieser Initiativen immer noch kein Bildungsfreistellungsgesetz gibt. Die Erfahrungen aus anderen Bundesländern zeigen, dass die meisten Bildungsfreistellungen zum Zweck der beruflichen Weiterbildung genutzt werden. (Rheinlad-Pfalz 2015 = 84 Prozent)
Man sollte meinen, im Zuge des zunehmenden Fachkräftebedarfs wäre jeder Arbeitgeber froh, wenn sich seine Mitarbeiter weiterbilden. Doch gerade in kleinen Betrieben mit weniger als zehn Beschäftigten haben es Mitarbeiter nicht selten auch heute noch schwer, eine Weiterbildungen innerhalb der Arbeitszeit genehmigt zu bekommen. Für diese Betriebe ist es oft nicht leicht, auf einen Mitarbeiter zu verzichten und diesen freizustellen. Wir haben sie deshalb in unserem Gesetzentwurf besonders berücksichtigt und unterstützen sie mit einem finanziellen Ausgleich durch einen pauschalen Zuschuss.
Politische und allgemeine Weiterbildung werden in Sachsen noch stiefmütterlicher als die berufliche Weiterbildung behandelt. Dabei wissen wir alle, dass die demokratische Verfasstheit einer Gesellschaft kein Selbstläufer ist. Sie muss stets gesichert und gestaltet werden. Die für das öffentliche Leben und die Politik in einer Demokratie notwendigen Fähigkeiten müssen gelernt und demokratisches Handeln eingeübt werden. Und dies immer wieder neu, denn Demokratie ist ein unabgeschlossenes Projekt und ein sich kontinuierlich veränderndes Lernfeld.
Politische Bildung zielt auf Kritikfähigkeit und Mündigkeit und ist Teil des Rechts auf Bildung eines jeden Einzelnen in der Demokratie. Sie hat nicht allein die Aufgabe, Informationen und Kenntnisse zu vermitteln, sondern vor allem auch Fähigkeiten und Kompetenzen zu fördern, die ein tolerantes, weltoffenes, solidarisches und demokratisches Miteinander ermöglichen.
Politische Bildung thematisiert zentrale soziale, ökonomische und ökologische Bedingungen der Gesellschaft und entwickelt zukunftsfähige Modelle der Teilhabe und aktiven Mitgestaltung. Gleichzeitig fördert sie kritisches Denken und die Auseinandersetzung mit Einstellungen und Verhaltensweisen und vermittelt Erfahrungen und Kompetenzen zum Umgang mit kultureller Vielfalt. Durch sie werden komplexe Sachverhalte verständlich. Tendenzen zur populistischen Vereinfachung, zur Ausgrenzung, Diskriminierung und zum Fundamentalismus wird der Nährboden entzogen.
Wir GRÜNEN setzen uns – auch mit diesem Gesetzesentwurf – für politische Bildung ein! Sie gehört nicht nur in die Schule, sondern muss auch im Berufsleben möglich sein. Wir wollen Bürgerinnen und Bürger die staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten wahrnehmen und gesellschaftliche Zusammenhänge beurteilen können!
Die gegenwärtige Gefährdungen der Demokratie in Deutschland und aktuelle politische Herausforderungen erfordern mehr denn je die Stärkung der Qualität und Entwicklung der Politischen Bildung insbesondere durch unser politisches Handeln als Legislative.
Ein Sächsisches Bildungsfreistellungsgesetz ist dazu ein wichtiger Beitrag.
Vielen Dank! » alle Redebeiträge der GRÜNEN-Fraktion » alle Infos zur 58./59. Landtagssitzung