Elke Herrmann: Bei Flüchtlingspolitik endlich auf Landesebene Verantwortung übernehmen

Redebeitrag der Abgeordneten Elke Herrmann zur Aktuellen Debatte zum Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN "Humanität heißt Verantwortung übernehmen – Sachsen braucht eine neue Flüchtlingspolitik“, 85. Sitzung des Sächsischen Landtages, 17. Oktober 2013, TOP 1

– Es gilt das gesprochene Wort –
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Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Präsident,
Anlass für die heutige aktuelle Debatte waren nicht nur das Flüchtlingsdrama vor Lampedusa und die gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Erstaufnahmeeinrichtung in Chemnitz. Das ist nur der Gipfel.
Wir sind der Meinung, dass wir uns grundsätzlich neu orientieren müssen und Flüchtlingspolitik stärker als bisher an humanitären Werten ausrichten müssen. Bei allen Entscheidungen, die Flüchtlinge betreffen, muss unsere Grundmaxime die Wahrung der Menschenwürde sein. Unser Ziel heute ist, genau dafür zu werben!
Die Politik der Staatsregierung ist bislang zuvorderst auf die Verwertung von Fachkräften, die auch gern aus dem Ausland zu uns kommen können, ausgerichtet. Die Slogans „Gut Qualifizierte Willkommen heißen“ oder  „Sachsen braucht Fachkräfte! Wir öffnen die Türen für kluge Köpfe“ sind in Sachsen allseits präsent. In die gleiche Richtung zielte auch der Vorstoß des Innenministers, als er am Anfang der Woche vorschlug, wir könnten uns doch die für uns passenden Flüchtlinge anhand ihrer Berufsabschlüsse aussuchen. Dass Berufsabschlüsse nichts mit Flucht- und Asylgründen zu tun haben und auch gar nicht haben dürfen, denn wo kämen wir denn sonst hin: die Bauingenieurin aus Ägypten darf kommen und der ungebildete Somalier soll bleiben, also, dass Berufsabschlüsse nichts mit Flucht- und Asylgründen zu tun haben, Herr Ulbig, ist eine menschenrechtliche Errungenschaft, die nicht disponibel ist. Aber vielleicht haben Sie sich ja auch nur unglücklich ausgedrückt und meinten eigentlich, dass wir Einwanderung aktiver als bisher fördern sollten.
Ich habe auch das Gefühl, dass sie sich bemühen Herr Ulbig und auch, dass sie sich ernsthaft Gedanken machen. Auch möchte ich wertschätzen, dass Sie konkrete Vorschläge machen, dabei auch Bundesratsinitiativen in Betracht ziehen. Nach den eben genannten Beispielen zum Nützlichkeitsdogma habe ich jedoch den Eindruck, dass wir uns grundsätzlicher zur sächsischen Asylpolitik verständigen müssen und klar definieren müssen, wo fängt unsere Verantwortung an, wo hört sie auf, welche Mindeststandards müssen erfüllt sein, damit sich Flüchtlingspolitik an der Grundmaxime der Wahrung der Menschenwürde messen lassen kann.
I. Verantwortung übernehmen auf Landesebene heißt für uns konkret
1. Die dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen, also in Wohnungen und nicht in Massenunterkünften ohne Privatspähre, muss die Regel werden und darf nicht länger nur Ausnahme sein. Dafür brauchen aber die Kommunen und Landkreise, die für die Unterbringung zuständig sind, Rechtssicherheit. Das hieße konkret, dass Sie ihre Empfehlung an die Kommunen, Herr Ulbig, von der Möglichkeit der dezentralen Unterbringung großzügig Gebrauch zu machen, einen verbindlichen Charakter geben müssen. Dazu gehört dann auch, sich auf Bundesebene für eine Änderung des Asylverfahrensgesetzes einzusetzen, der als Regelunterbringung Sammelunterkünfte, also Heime vorsieht.
2. Dazu kommt, dass nicht in allen Asylheimen eine soziale Betreuung gewährleistet ist. Wenn so viele Menschen mit derart verschiedenen Erfahrungen im Gepäck auf engstem Raum zusammen leben, zudem systematisch davon abgehalten werden, am „normalen“ Leben teilzuhaben, kommt es zwangsläufig zu Konflikten und zu Resignation. Sie haben Glück, dass Herr Gillo mit seinem Heim-TÜV das Thema auf die Tagesordnung gerufen hat. Erstmals wurden weiche Faktoren, die für das Gelingen der Unterbringung von Asylsuchenden wesentlich sind, wie zum Beispiel die gesellschaftliche Einbindung der Bewohner und Bewohnerinnen des Heimes oder die konkrete Lage und die vorhandene Infrastruktur benannt. Ihre Aufgabe als Minister ist es nun, bei den Kommunen und Landkreisen für deren Umsetzung zu werben.
3. In allen Bundesländern ist die Residenzpflicht auf das gesamte Landesgebiet ausgedehnt. Die Asylbewerberinnen und Geduldeten dürfen sich also ohne vorher bei der Ausländerbehörde einen Antrag stellen zu müssen, im ganzen Land frei bewegen. Manche Bundesländer wie z.B. Berlin und Brandenburg haben sich sogar für eine bundeslandüberschreitende Freizügigkeit entschieden. Nur Bayern und Sachsen hält an starren Restriktionen fest und beschränkt die Bewegungsfreiheit auf einen der drei ehemaligen Direktionsbezirke. Ich frage mich, warum müssen wir den Menschen das Leben unnötig schwer machen?

4. Spracherwerb ermöglichen und Arbeitsmarktzugang erleichtern
Asylsuchende und Flüchtlinge haben keinen Zugang zu den Integrationskursen. Daher haben sie auch keine Möglichkeit, Sprachkurse zu besuchen – es sei denn, sie finanzieren sie selbst, was den meisten jedoch nicht möglich ist. Berufsbezogene Sprachförderung ist erst nach einem Aufenthalt von 9 Monaten möglich. Alle anderen haben keine Möglichkeit, die deutsche Sprache zu erlernen – weder im Unterricht, noch von deutschen Nachbarn oder Nachbarinnen, da eine gesellschaftliche Integration bisher systematisch verhindert wurde. Da Sprache der Schlüssel zu Selbstbestimmung und Integration ist, muss das Land an dieser Stelle die Initiative ergreifen und für neu angekommene Flüchtlinge den Spracherwerb ermöglichen. (Das Sozialamt Leipzig erteilt einen Berechtigungsschein für 200 h Deutschunterricht an der VHS! Das nenne ich vorbildlich. Ähnliches entwickelt sich auch gerade in Dresden. Das müsste meines Erachtens vom Land gefördert werden!)
Zum Arbeitsmarktzugang möchte ich erwähnen, dass Projekte wie „Rescue Plus“, die bislang vom ESF Bund gefördert wurden, im kommenden Jahr vor dem Aus stehen, weil der Bund seine Förderung einstellt. Auch hier ist das Land gefragt, seine ESF Mittel zur arbeitsmarktlichen Unterstützung für Bleibeberechtigte und Flüchtlinge mit Arbeitsmarktzugang einzusetzen und damit eine Anschlussfinanzierung sicher zu stellen
5. Zur Erstaufnahmeeinrichtung hatten wir uns ja am Dienstag in der Sondersitzung des Innenausschusses umfänglich verständigt. Was jedoch auch hier auffiel, Herr Ulbig, ist ihr ausschließlich ordnungspolitischer Fokus. Nicht anders lässt es sich erklären, dass weder sie noch die Landesdirektion aussagefähig zur Situation der sozialen Betreuung in der Erstaufnahmeeinrichtung war. Auch konnten sie es sich hier nicht verkneifen, ausschließlich die gut Ausgebildeten willkommen zu heißen.
6. Neben Sachsen ist Bayern das einzige Bundesland, das noch keine Aufnahmeanordnung für syrische Familienangehörige getroffen hat und dass, obwohl der Bundesinnenminister sein Einvernehmen dafür schon im Sommer pauschal erteilt hat. Warum zögern sie an der Stelle so lang?
II. Einsatz auf Bundesebene:
1. Stichtagsunabhängige Bleiberechtsregelung für Geduldete: Dafür liegt ein Gesetzentwurf des Bundesrates vor, der dem Bundestag schon zugeleitet wurde. Dieser muss aber wegen dem Grundsatz der Diskontinuität neu eingebracht werden. Expert_innen gehen davon aus, dass das Gesetz nächstes Jahr in Kraft treten wird. Jetzt könnte der Freistaat Menschen, die unter diese Regelung fallen werden, nicht noch schnell abschieben, einen Abschiebestopp für diesen Personenkreis verhängen.
2. Einsatz auf Bundesebene für eine humanere EU-Flüchtlingspolitik.
III. Grundhaltung
Nach all den Einzelmaßnahmen, die meiner Meinung nach wesentliche Bestandteile einer  humanen und menschenwürdigen Flüchtlingspolitik darstellen möchte ich nun noch etwas Grundsätzlicher werden.
Die Flüchtlingszahlen sind in den letzten Jahren angestiegen. Sie sind jedoch bei weitem noch nicht so hoch wie Anfang der Neunziger Jahre. Selbst wenn! Was sagen uns denn diese Fluchtbewegungen, doch nicht, dass es den Menschen gut geht auf der Welt, sondern dass es ganz massive Schieflagen gibt, für die auch wir mit verantwortlich sind, von denen wir sogar innerhalb der globalen Marktwirtschaft profitieren. Das müssen wir uns bewusst machen!
Mit Fortschreiten des Klimawandels werden noch ganz andere Flüchtlingszahlen vorhergesagt. Dann können wir doch nicht schon bei 100.000 Flüchtlingen im Jahr, das sind 5300 Flüchtlinge in Sachsen durchdrehen. Hier ist Besonnenheit gefragt. Anstatt Ängste in der Bevölkerung zu schüren und damit auch Rassisten den Boden zu bereiten, indem gebetsmühlenartig das Schreckgespenst 100.000 bemüht wird, sollte doch eher den Menschen im Lande vermittelt werden: wir stemmen das! Das ist unsere humanitäre Pflicht!

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