Elke Herrmann: Es ist in einem demokratischen Staat nicht gerechtfertigt, Menschen ihr Wahlrecht vorzuenthalten

Redebeitrag der Abgeordneten Elke Herrmann
zum GRÜNEN-Gesetzentwurf "Gesetz zur Verbesserung des Zugangs zu Wahlen und zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Wahlrecht" (Drs. 5/13051)
98. Sitzung des Sächsischen Landtages, 18. Juni 2014, TOP 3

– Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
das aktive und das passive Wahlrecht ist das Kernelement politischer Mitwirkung schlechthin. Es ist der zentrale Grundsatz einer Demokratie, es ist das fundamentale demokratische Grundrecht. Es ist überhaupt die Voraussetzung dafür, dass wir heute hier zusammenkommen und über die Entwicklungen und Weichenstellungen im Freistaat Sachsen debattieren können. Es steht grundsätzlich jeder Bürgerin und jedem Bürger zu. Das ist eine Errungenschaft, die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und in der Verfassung des Freistaates Sachsen verankert ist. Dort heißt es: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt" (Art. 20 Abs. 2 GG). In Artikel 4 Absatz 1 der Verfassung der Freistaates Sachsen heißt es: "Alle nach der Verfassung durch das Volk vorzunehmenden Wahlen und Abstimmungen sind allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim."
Wahlen sollen also allgemein sein, das heißt, allen Bürgerinnen und Bürgern eines Staates offen stehen. Das ist ein menschenrechtliches und verfassungsmäßiges Gebot, das alle Phasen einer Wahl umfasst und zwar von der Informationsbeschaffung vor der Wahl bis hin zur Wahlprüfung.
Meine Damen und Herren, ich muss sagen, dass es mich betroffen macht, wenn ich mir noch einmal durchlese, was in der Anhörung zu unserem Gesetzentwurf und in den Ausschüssen zu diesem demokratischen Grundrecht gesagt wurde. Ich wundere mich, welches Demokratieverständnis hier in Sachsen Einzug gefunden hat.
1. Barrierefreiheit der Wahlverfahren und Wahllokale
Die gegenwärtigen wahlrechtlichen Vorschriften, die insbesondere Menschen mit Behinderung die Wahlausübung ermöglichen sollen, greifen zu kurz.
Wahlverfahren und Wahlmaterialien sind derzeit so ausgestaltet, dass es nicht allen Menschen möglich ist, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Die Vorschriften zur Barrierefreiheit der Wahlräume entfalten keine ausreichende Wirkung und widersprechen schon der Definition von Barrierefreiheit nach Paragraf 3 Sächsisches Integrationsgesetz (SächsIntG).
§ 3 Barrierefreiheit
Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.
Es hindern also vor allem strukturelle Hürden Menschen am Gang zur Wahlurne. Dazu zählen komplizierte Wahlbenachrichtigungen und Briefwahlunterlagen, unübersichtliche Stimmzettel und Hinweisschilder in kleiner Schrift. In den Wahlbenachrichtigungen fehlen außerdem Informationen, ob und welche Hilfestellungen es bei der Wahl gibt (z. B. Assistenz vor Ort). Die Wahllokale sind nicht barrierefrei zugänglich.
Schon vor der Bundestagswahl haben zahlreiche Behindertenverbände darauf aufmerksam gemacht, dass Wahllokale nicht barrierefrei zugänglich sind und dass die Wahlverfahren insgesamt nicht barrierefrei ausgestaltet sind. Auch die Kommunalwahl, die erst vor ein paar Wochen stattgefunden hat, hat gezeigt, dass die derzeitigen Regelungen im Kommunalwahlgesetz nicht geeignet sind, Menschen mit Behinderungen uneingeschränkt den Gang zur Wahlurne zu ermöglichen. Im Gegensatz zur Europawahl, die am gleichen Tag stattfand, standen zum Beispiel in Dresden sehbehinderten und blinden Menschen keine technischen Hilfsmittel wie eine taktile Wahlschablone und eine Informations-CD zur Verfügung, die eine selbständige und geheime Wahl überhaupt erst ermöglicht hätten.
Der in der Landeshauptstadt Dresden für Wahlen zuständige Bürgermeister Detlef Sittel hatte vorher in der Sachverständigenanhörung ausgeführt, dass er keine Notwendigkeit für eine Regelung zur Barrierefreiheit sehe, da die Kommunen die Anforderungen umsetzen würden. Auch der Sachverständige Strohmeier hält "Verpflichtungen hinsichtlich einer barrierefreien Erreichbarkeit, Zugänglichkeit und Einrichtung von Wahlräumen […] weder sinnvoll noch notwendig". Dass dem nicht so ist, zeigen die geschilderten praktischen Erfahrungen. Außerdem verpflichtet Art. 4 Abs. 1 a) und b) der UN-Behindertenrechtskonvention gerade auch zu gesetzgeberischem Handeln.
Allgemeine Verpflichtungen
(1) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern. Zu diesem Zweck verpflichten sich die Vertragsstaaten,
a) alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen;
b) alle geeigneten Maßnahmen einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Änderung oder Aufhebung bestehender Gesetze, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken zu treffen, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen darstellen;
Die Einwände in den Ausschüssen – auf Namen verzichte ich – die Herstellung von Barrierefreiheit sei zu teuer und lohne sich außerdem nicht bei der ohnehin geringen Wahlbeteiligung, der dafür im Gesetz beschriebene Aufwand sei überzogen, sind nicht haltbar. Sie müssen sich einmal auf der Zunge zergehen lassen, was solche Äußerungen eigentlich bedeuten: Wir, die wir hier stehen, brauchen eine demokratische Legitimation, die wir aufgrund von Wahlen erhalten, Bürgerinnen und Bürger haben uns ihre Stimme gegeben. Geringe Wahlbeteiligungen müssen wir als Alarmsignal verstehen. Wir müssen uns um eine höhere Wahlbeteiligung bemühen. Die Frage nach dem "sich lohnen" verhöhnt die Demokratie.
Außerdem: In Sachsen gibt es 5,45 Prozent funktionale Analphabeten (EHS, Untersuchung PASS alpha 2006). Die Betroffenen können nur sehr einfache Texte lesen und nur schlecht oder fehlerhaft schreiben. Auch älteren Menschen fällt es schwer, Informationen in kleiner Schriftgröße zu lesen. Der Anteil der über 65-Jährigen liegt in Sachsen derzeit bei 25 Prozent, wie Sie wissen, ist die Tendenz steigend.
Wir wollen mit dem vorgelegten Gesetzentwurf sicherstellen, dass das Wahlverfahren, die Wahleinrichtungen und -materialien so ausgestaltet sind, dass sie für alle Menschen geeignet, zugänglich und leicht zu verstehen und zu handhaben sind. Die Wahlräume sind deshalb nach Maßgabe des vorliegenden Gesetzentwurfes so auszuwählen, dass sie mit barrierefrei zugänglichem, öffentlichem Personennahverkehr erreichbar und barrierefrei zugänglich und nutzbar sind. Mit dem Änderungsantrag haben wir klar gestellt, dass die Wahlräume nicht in jedem Fall mit barrierefrei zugänglichem öffentlichem Personennahverkehr erreichbar sein müssen, sondern dass die Erreichbarkeit der Wahlräume auch dann gegeben ist, wenn sie sich in zumutbarer fußläufiger Entfernung befinden.
2. Zur Unterstützung beim Wahlvorgang
Die gegenwärtigen Vorschriften, die die Unterstützung durch Dritte beim Wahlvorgang vorsehen, sind zu restriktiv formuliert und berücksichtigen vor allem nicht, dass es über das "Nichtlesen- bzw. Nichtschreibenkönnen" hinaus auch Verständnisprobleme geben kann, die eine weitergehende Unterstützung an der Wahlurne erforderlich machen. Durch die weitgehend liberale Auslegung des Rechtes zur Briefwahl, bei der sich jede Person ohne Überprüfung einer Assistenz bedienen kann, sollte eine entsprechende Liberalisierung auch bei der Urnenwahl vorgenommen werden. Daher haben wir eine Regelung getroffen, die es all jenen, die eine Unterstützung beim konkreten Wahlvorgang benötigen, ermöglicht, diese vertrauensvoll in Anspruch zu nehmen. Dabei ist dem Wahlgrundsatz der Freiheit der Wahl zu entsprechen.
An dieser Stelle mit einer wie auch immer gearteten Missbrauchsgefahr zu argumentieren, ist schlichtweg der falsche Weg. Bei der Briefwahl ist die Missbrauchsgefahr ebenso hoch, was uns nicht davon abgehalten hat, diese zu ermöglichen. Bei der Unterstützung handelt es sich vielmehr um eine Befähigung, also um eine angemessene Vorkehrung im Sinne der UN-BRK.
3. Zu den Wahlrechtsausschlüssen
Das Sächsische Wahlgesetz und die Gemeindeordnung (SächsGemO) schließen all jene Menschen pauschal vom aktiven und passiven Wahlrecht aus, für die zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten eine Betreuerin oder ein Betreuer bestellt ist. Ebenfalls ausgeschlossen sind Menschen, die eine Straftat im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen haben und aufgrund dessen in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind. Zum Stichtag 30. Juni 2013 sind in Sachsen 4512 Personen gemäß Paragraf 12 SächsWahlG vom Wahlrecht ausgeschlossen (siehe Drs. 5/12468 von MdL Herrmann).
Nach geltenden menschenrechtlichen Standards sind diese Ausschlusstatbestände nicht zu rechtfertigen. Sie stehen im Widerspruch zu den Zielen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die seit 2009 in Deutschland geltendes Recht ist (BGBl. II 2008 S. 1419). Die genannten Ausschlusstatbestände sollen mit diesem Gesetz beseitigt werden.
Nicht nur die Monitoringstelle für die UN-Behindertenrechtskonvention, sondern auch Sozialverbände fordern die Streichung der entsprechenden Passagen im Wahlrecht. Sechs Personen haben deshalb die letzte Bundestagswahl angefochten. Die Betroffenen sind mit Unterstützung des Bundesverbandes der Lebenshilfe e.V. sowie der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. notfalls bereit, das Bundesverfassungsgericht in dieser Frage anzurufen.
Auch hier mit Missbrauch zu argumentieren, ist absurd. Es ist in einem demokratischen Staat nicht gerechtfertigt, Menschen Rechte vorzuenthalten, um eine potentiellen Missbrauchsgefahr auszuräumen.
Äußerungen in der Sachverständigenanhörung, und jetzt zitiere ich: "Das heißt, zunächst einmal lässt es sich immer gut argumentieren, möglichst viele Leute wählen zu lassen, an der Wahl teilnehmen zu lassen. Allerdings, wenn die nachher mehrheitsbildend sind – und das kann immer der Fall sein –, sind die dann der Mehrheit Unterworfenen der Mitbestimmung ausgesetzt. Will man das? Da gibt es eine Umverteilungsproblematik…."
"Es gibt tatsächlich Bürger – unabhängig von der Frage der formalen Behandlung –, die aufgrund von gewissen Dispositionen nicht die Fähigkeiten mitbringen, genug Eignung zu haben, sich hinreichend interessieren zu können. Die können das einfach nicht….Wenn so jemand wählen darf, ist das ein Problem, muss man ganz ehrlich sagen. Noch einmal: Die Mehrheiten können davon abhängen." (Prof. Dr. Bernd Grzeszick S. 38) Diese Äußerungen halte ich für fahrlässig. Und ich erinnere Sie daran, dass vor nicht allzu ferner Zeit Männer auch Frauen nicht für wahlfähig gehalten haben.
Wahlrecht ist kein Privileg einer wie auch immer definierten Elite. Oder anders ausgedrückt: Werden Kriterien herangezogen, nach denen eine Person wahlberechtigt ist, eine andere aber nicht – ist das der Anfang vom Ende einer allgemeinen Demokratie (GG). Wovor haben Sie eigentlich Angst? Biblisch gesprochen: Ihnen mangelt es an Zuversicht! Zum einen vertrauen Sie nicht darauf, dass die allermeisten Menschen (gerade ehemalige DDR-Bürger) allgemeine und freie Wahlen als Errungenschaft und Recht schätzen und ernsthaft, ob mit oder ohne Unterstützung, damit umgehen. Zum anderen vertrauen Sie nicht auf die Ausstrahlung und Kraft der Demokratie selber. Wer aber kann diese Ausstrahlung beeinflussen?  Wir hier im Hohen Haus. Stellen Sie deshalb lieber diesen Anspruch an sich selber.
Ich kann es aber auch böse sagen: Für manche scheint es nicht ausreichend kalkulierbar zu sein, wie sich die Menschen, um die es hier geht – in Sachsen 4512 Personen- bei einer Wahl entscheiden. Und manche haben vielleicht Angst um ihr Mandat. Damit haben Sie den Geist der Demokratie nicht verstanden
4. Zudem schlagen wir Änderungen hinsichtlich der Lage der Wahltermine außerhalb der Schulferien, des Zugangs von Wählervereinigungen zur Landtagswahl und zur ÖPNV-Erreichbarkeit der Wahlräume vor.
Der vorgelegte Gesetzentwurf zielt darauf ab, den Zugang zu Wahlen zum Sächsischen Landtag und zu den Kommunalwahlen zu verbessern und Artikel 29 der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung umzusetzen. Mit ihm wollen wir strukturelle Hindernisse, die Menschen davon abhalten, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen, beseitigen.
Wer ein echtes Interesse an dem Erhalt der demokratische Ordnung und der demokratischen Legitimation hat, kann nicht anders, als dem vorgelegten Gesetzentwurf zustimmen!