Elke Herrmann: Meilenstein auf dem Weg zu einer inklusiven Schule
Unsere Große Anfrage zum inklusiven Schulwesen hat geleistet, was sie im besten parlamentarischen Sinne leisten kann – durch das Aufzeigen von Fakten und Zusammenhängen Grundlage für politische Veränderungen zu sein
Redebeitrag der Abgeordneten Elke Herrmann zur Großen Anfrage der GRÜNEN-Fraktion "Integration und Inklusion im sächsischen Schulwesen" (Drs. 5/3025) in der 41. Sitzung des Sächsischen Landtages, 15.09., TOP 4
Es gilt das gesprochene Wort!
—————————————————————————-
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der heutige Tag kann ein Meilenstein auf dem Weg zu einer inklusiven Schule und letztlich zu einer inklusiven Gesellschaft in Sachsen werden.
Abgeordnete aus allen demokratischen Fraktionen haben sich entschlossen, die Staatsregierung unmissverständlich aufzufordern, ein inklusives Schulsystem in Sachsen zu schaffen. Damit macht sich knapp fünf Jahre nach Verabschiedung und zweieinhalb Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention nun endlich auch der Freistaat Sachsen auf den Weg, das Menschenrecht von Menschen mit Behinderung auf eine gemeinsame Bildung in Regelschulen umzusetzen. Kein Mensch darf künftig aufgrund einer Behinderung von Grundschulen, Mittelschulen, Gymnasien oder beruflichen Schulen ausgeschlossen werden – darüber sind wir uns nun in diesem Haus endlich einig. Dies ist nicht nur ein Erfolg für ein selbstbewusstes Parlament, sondern vor allem für tausende betroffene Schülerinnen und Schüler, Eltern und engagierte Pädagoginnen und Pädagogen.
Wir alle wissen, dass der Weg dahin nicht einfach war. Vor einem knappen Jahr hat unsere Fraktion die Antwort der Staatsregierung auf eine Große Anfrage zu Integration und Inklusion im sächsischen Schulwesen vorgestellt. Die wesentlichen Ergebnisse will ich hier noch einmal skizzieren. Der Anteil von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf (7,6 Prozent) und der Anteil von Förderschülern (6,2 Prozent) steigt, zwei Drittel der betroffenen Schüler sind männlich. Auch der Anteil integrierter Schüler (17,9 Prozent) hat sich in den letzten Jahren verdoppelt – mit steigender Tendenz. Über zwei Drittel der betroffenen Schüler besuchen aufgrund von Lern- oder Sprachschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten die Förderschule, nur ein Drittel weist "klassische" Behinderungen auf. Für jeden Förderschüler gibt der Freistaat über 10.000 Euro/Jahr aus, die Ergebnisse können uns aber nicht zufriedenstellen. Denn der überwältigende Teil der Förderschüler (85 Prozent) erwirbt keinen Schulabschluss, nur 13 Prozent erwerben den Hauptschulabschluss, nur 2 Prozent den Realschulabschluss. Die Durchlässigkeit von Förderschulen zu Regelschulen ist äußerst gering, nur 1,6 Prozent aller Schüler wechseln auf eine Grundschule, Mittelschule oder ein Gymnasium.
Die Zahl der an allgemeinbildenden Schulen integrierten Schüler hat sich in den letzten Jahren verdoppelt. Die Rahmenbedingungen der schulischen Integration sind jedoch problematisch. In der Regel werden die Integrationsstunden im normalen Unterricht durch Unterrichtsvertretung oder Krankheit "aufgebraucht". Nur im Ausnahmefall sind sonderpädagogische Fachkräfte ausschließlich für die Förderung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf abgestellt. Daher kommen in der Realität deutlich weniger Integrationsstunden in der Förderung eines jeden zu integrierenden Kindes an. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Gewährung von Eingliederungshilfe und Assistenzen. Während die Staatsregierung keine Daten zur Eingliederungshilfe hat, gibt die Integrationsförderrichtlinie wichtige Hinweise auf die Gewährung von Assistenzmaßnahmen. Seit 2005 wurde die Förderrichtlinie für die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in einem immer größeren Umfang in Anspruch genommen. Die beantragten Mittel stiegen von 142.000 in 2005 auf 191.000 Euro 2010. Dabei werden immer weniger Mittel bewilligt. Auch die Fördermittel je Integrationsschüler sinken deutlich von 51 Euro im Jahr 2005 auf 30 Euro im Jahr 2010.
Auch die Zeit für Beratung und Diagnostik ist zu knapp. Insgesamt wurden den Förderschulen 2009/10 113 Stellen dafür zugewiesen. Die damit ermöglichten 2.848 Stunden für Beratung und Diagnostik reichen für jährlich 12 Minuten je Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf.
Die personellen Bedingungen in den integrativen Schulen wie an den Förderschulen sind schwierig. Seit Jahren wird lediglich die Grundversorgung gewährleistet, ein Ergänzungsbereich wie an anderen Schularten steht nicht zur Verfügung. Die personellen Engpässe drohen sich künftig zu verschärfen. Einem Bedarf an 800 Lehrkräften bis 2016/17 stehen gemessen an den Studienanfängern maximal 512 Absolventen gegenüber. Da mit einer gewissen Anzahl an Studienabbrüchen zu rechnen ist, dürfte die Schere noch weiter auseinandergehen. Damit können nicht einmal zwei Drittel des tatsächlichen Bedarfs gedeckt werden. Trotz der niedrigen Zahl von Lehrkräften mit sonderpädagogischem Lehramt haben relativ wenige Lehrkräfte eine Weiterbildung zum Erwerb der Lehrbefähigung absolviert. Seit 1993 haben insgesamt 391 Personen eine unbefristete Lehrerlaubnis erhalten, 278 haben eine Lehrbefähigung erworben. Aber es gibt in diesem Bereich auch gute Nachrichten. Zusammen mit der Universität Leipzig und der Hochschule Zittau/Görlitz wird seit 2008 eine Fortbildung im Bereich integrative Unterrichtung durchgeführt. Bis jetzt haben 50 Lehrkräfte den Zertifikatskurs "Integrativer Unterricht" erfolgreich absolviert, bis 2015 werden 1.450 Lehrkräfte fortgebildet. Dieser Kurs ist ein guter Ansatz, um im Schnitt ein bis zwei Lehrkräfte je integrativer Schule auszubilden, die dann innerhalb des Kollegiums interne Fortbildungen organisieren können. Diesen Ansatz gilt es für ein inklusives Schulsystem zu stärken und auszubauen.
Ein heikler Punkt ist die Finanzierung der sonderpädagogischen Förderung. Je Förderschüler gibt der Freistaat 10.625 Euro für Lehrkräfte und pädagogische Unterrichtshilfen (Schuljahr 2009/10) aus. Die Ausgaben für Grundschule (3.516 Euro/Schüler), Mittelschule (5.925 Euro/Schüler) und Gymnasium (5.160 Euro/Schüler) sind deutlich geringer. Noch nicht eingerechnet sind hier Ausgaben für Gebäude, Heimunterbringung und sonstige sächliche Ausgaben. Hinzu treten Ausgaben für die knapp 750 Kinder mit Förderbedarf im Heim. Die Kosten dafür belaufen sich auf bis zu 60 bis 170 Euro pro Tag und Kind und insgesamt bis zu 15 Millionen Euro im Jahr. Die Zahlen zeigen: es sind erhebliche Ressourcen für die sonderpädagogische Förderung vorhanden. Wir müssen dafür sorgen, dass sie erhalten bleiben und in die richtigen Strukturen und Konzepte fließen. Die Bertelsmann-Stiftung bilanziert das Verhältnis von Ertrag und Ergebnis der derzeitigen sonderpädagogischen Förderung: "2,6 Milliarden Euro pro Jahr geben die deutschen Bundesländer für zusätzliche Lehrkräfte an Förderschulen aus. Trotzdem bleiben 77 Prozent der Förderschüler ohne Hauptschulabschluss. Nur wenige von ihnen schaffen den Sprung zurück auf eine allgemeine Schule." Auch die Bertelsmann-Stiftung spricht sich für ein inklusives Bildungssystem aus: "Ein Großteil der 2,6 Milliarden Euro sollte in diesen Umbau investiert werden – sonst geben wir weiter Jahr für Jahr viel Geld für einen Sonderweg aus, der für zu viele Kinder in einer Sackgasse endet."
Die von mir noch einmal genannten unbequemen Wahrheiten über die Situation der sonderpädagogischen Förderung in Sachsen haben für Aufregung und viele Diskussionen gesorgt. Viele Betroffene waren dankbar für den Diskussionsanstoß und haben sich stärkere Fortschritte in Richtung auf ein inklusives Bildungswesen erhofft. Viele Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrer haben sich jedoch auch angegriffen und verunsichert gefühlt.
Es ist deshalb an dieser Stelle wichtig, insbesondere den Förderschullehrerinnen und -lehrern im Namen aller demokratischen Fraktionen herzlich für Ihre Arbeit danken: Die Lehrkräfte und Unterrichtshilfen an den Förderschulen leisten eine hoch engagierte und kompetente Arbeit – sie benötigen eine weitaus größere gesellschaftliche Wertschätzung und bessere Arbeitsbedingungen als bisher. Wir brauchen Sie für schulische Inklusion, denn Inklusion braucht Professionalität. Lassen Sie uns gemeinsam diskutieren, wie eine optimale sonderpädagogische Förderung in Sachsen gestaltet werden kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
unsere Große Anfrage "Integration und Inklusion im sächsischen Schulwesen" hat eine intensive öffentliche und politische Debatte um die sonderpädagogische Förderung angestoßen. Auf den ersten Blick schienen sich dadurch die Fronten verhärtet zu haben, nicht zuletzt als der Kultusminister in Reaktion auf die Debatte behauptete, das sächsische Schulwesen sei bereits inklusiv – eine These, die in Fachkreisen nur Kopfschütteln hervorrief und die er heute auch nicht mehr aufrechterhält. Neben aufgeregten und unsachlichen Reaktionen gab die Große Anfrage jedoch vielen Betroffenen und Verantwortungsträgern Anlass zum Nachdenken. Unsere Fraktion hat in vielen Gesprächen und Veranstaltungen versucht, Aufklärungsarbeit zu leisten. Der renommierte Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz hat in unserem Auftrag eine Studie zur Umsetzung eines inklusiven Schulsystems in Sachsen vorgelegt, die viel Interesse auf sich gezogen hat. All das hat zu einer Versachlichung der Diskussion beigetragen.
Mittlerweile sind sich die demokratischen Fraktionen einig, dass sich etwas ändern und Sachsen sich unzweifelhaft auf den Weg zu einem inklusiven Schulwesen machen muss. Die Große Anfrage hat damit das geleistet, was sie im besten parlamentarischen Sinne leisten kann – aufklärerisch zu wirken und durch das Aufzeigen von Fakten und Zusammenhängen die Grundlage für politische Veränderungen zu liefern. Ich bin guter Hoffnung, dass der nachher anstehende Gruppenantrag eine gute Basis für eine Entwicklung ist, an deren Ende vielleicht tatsächlich ein 100 Prozent inklusives Schulsystem steht.