Elke Herrmann: Menschenwürdiger Umgang mit Asylsuchenden und Flüchtlingen ist kein Selbstläufer
Redebeitrag der Abgeordneten Elke Herrmann zur 2. Aktuellen Debatte der GRÜNEN-Fraktion ‚Ein Asylkonzept reicht nicht – Wo bleibt die Umsetzung‘
93. Sitzung des Sächsischen Landtages, 13. März 2014, TOP 1
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
1.) Vielleicht wundern Sie sich, warum wir, nachdem wir uns schon im Oktoberplenum im Rahmen einer aktuellen Debatte mit dem Thema Asylpolitik beschäftigt haben, jetzt schon wieder das Thema auf die politische Agenda setzen.
Die Antwort ist: es ist einfach notwendig, dass wir uns darüber verständigen, was passieren muss, damit das jüngst von Herrn Ulbig verkündete Unterbringungs- und Kommunikationskonzept kein Papiertiger bleibt und damit Ihnen klar wird, sehr geehrte Damen und Herren, wo die Verantwortung auf Landesebene liegt! Denn der menschenwürdige Umgang mit Asylsuchenden und Flüchtlingen ist kein Selbstläufer. Vor allem brauchen die Kommunen und Landkreise Rahmenbedingungen, die die Umsetzung des Unterbringungs- und Kommunikationskonzeptes ermöglichen und befördern. Darum soll es heute und hier gehen. Wo also sehen wir die Verantwortung der Staatsregierung für die Umsetzung des Unterbringungs- und Kommunikationskonzeptes?
2.) Mir drängt sich als erstes die Frage auf, warum das Innenministerium hier nicht seiner „Führungsverantwortung“ nachkommt. Schließlich handelt es sich bei der Unterbringung von Flüchtlingen um eine Pflichtaufgabe nach Weisung mit vollem Weisungsrecht! Warum also geben Sie dem Ergebnis der Arbeitsgruppe – dem Unterbringungs- und Kommunikationskonzept – nicht einen verbindlichen Rahmen und belassen es stattdessen bei Empfehlungen der Arbeitsgruppe, denen gefolgt werden kann oder auch nicht?
Aspekte wie zum Beispiel die soziale Betreuung, das Drei-Stufen-Verfahren für die dezentrale Unterbringung oder die Erarbeitung von Unterbringungskonzepten durch die unteren Unterbringungsbehörden sind geradezu prädestiniert, im Sächsischen Flüchtlingsaufnahmegesetz geregelt zu werden und damit für Rechts- und Handlungssicherheit für alle Beteiligten zu sorgen!
Siehe z. B. Baden-Württemberg:
Am 19. Dezember 2013 verabschiedete der Landtag von Baden-Württemberg die Neufassung des "Gesetzes zur Neuordnung der Flüchtlingsaufnahme, über die Erstattung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und zur Änderung sonstiger Vorschriften" (Landtagsdrucksache 15/4352) mit den Stimmen der Fraktionen Grüne und SPD, bei Enthaltung der CDU und Nein-Stimmen der FDP. Die wesentlichen Inhalte bzw. Verbesserungen sind:
• In der Erstaufnahme erhalten Asylsuchende Zugang zu qualifizierter Verfahrens- und Sozialberatung.
• Die Belange besonders Schutzbedürftiger sollen bei der Erstaufnahme und der weiteren Unterbringung berücksichtigt werden.
• Die "vorläufige Unterbringung" kann in Sammelunterkünften oder Wohnungen erfolgen. Sie endet spätestens nach 24 Monaten bzw. kann beendet werden, wenn Wohnraum vorhanden ist und der Lebensunterhalt gesichert ist. Sie kann um max. drei Monate verlängert werden, wenn dies zur Sicherstellung der Anschlussunterbringung erforderlich ist. Sie kann auch bei vollziehbarer Ausreisepflicht verlängert werden.
• Die Lage der Unterkünfte soll gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Die Wohn- und Schlaffläche pro Person soll 7 m² betragen (bisher 4,5 m², Übergangszeit bis 2016).
• Für die Dauer der vorläufigen Unterbringung "soll eine Leistungsgewährung in Form von Sachleistungen außer Betracht bleiben" (dies ist allerdings nur in etwas mehr als einem Drittel der Stadt- und Landkreise verwirklicht).
• Während der vorläufigen Unterbringung soll eine angemessene soziale Beratung und Betreuung gewährleistet werden, die auch durch "Angebote Dritter" (Wohlfahrtsverbände) erbracht werden kann. In der Durchführungsverordnung sind Mindeststandards für die Flüchtlingssozialarbeit definiert.
• Auch Personen mit Aufenthaltsgestattung oder Duldung sollen die Möglichkeit erhalten, Grundkenntnisse der deutschen Sprache erwerben zu können (Kostenerstattung von 91,36 Euro pro Person).
3.) Es ist zu begrüßen, dass die soziale Betreuung spürbar verbessert werden soll. Dass die soziale Betreuung essentiell ist für eine gelingende Unterbringung von Menschen in einem fremden Land, mit fremder Sprache und ihnen unbekannten Regeln, hat vorgestern schon Herr Gillo bei der Vorstellung der Ergebnisse des „Heim-TÜV“ 2013 anschaulich dargelegt. Offensichtlich haben auch die unteren Unterbringungsbehörden und auch die Staatsregierung daran keinen Zweifel mehr. Zweifel kommen aber bei mir auf, wenn ich sehe, dass dafür derzeit gerade einmal 40.000 Euro pro Jahr im Landeshaushalt vorgesehen sind (siehe kleine Anfrage). Das entspricht ungefähr 1,5 Personalstellen! Das ist ja wohl ein Witz. Und Herr Ulbig, wenn Sie meinen, die Kosten für die soziale Betreuung erst mit Änderung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes im Rahmen der Haushaltsaufstellung für den Doppelhaushalt 2015/2016 berücksichtigen zu können, dann laufen Sie ganz akut Gefahr, dass es bis dahin in einigen Gemeinschaftsunterkünften nach wie vor keine soziale Betreuung geben wird! Wie schon gesagt, die soziale Betreuung ist essentiell für den sozialen Frieden in der Unterkunft, für die Orientierung der Asylsuchenden und Flüchtlinge in einer ihnen fremden Umgebung aber auch für die Kommunikation mit den Anwohnern und Anwohnerinnen. Hier erwarte ich die umgehende Bereitstellung der entsprechenden Haushaltsmittel!
4.) Ergebnis der Arbeitsgruppe war auch, dass Asylsuchende und Flüchtlinge besser in die deutsche Kultur und Gesellschaft integriert werden sollen. Auch dieses Ziel ist durchweg zu begrüßen. Doch auch hier gibt es Stellschrauben auf Landesebene, ohne deren Inanspruchnahme wir dieses Ziel nur schwer erreichen werden.
a) Nennen möchte ich an dieser Stelle die Möglichkeit des Spracherwerbs. Dass das Erlernen der deutschen Sprache integrationsfördernd ist, darin sind wir uns wohl einig. Dass ich dafür bestimmte Rahmenbedingungen brauche, wie zum Beispiel Sprachunterricht, darin sind wir uns wohl auch einig. Am 04. März war in der Presse zu lesen: „Mehr Asylberber in Sachsen: Wartelisten für Deutschkurse“ (Freie Presse, S. 2). Außerdem heißt es dort: „An den sogenannten ESF-Sprachkursen darf nur teilnehmen, wer sich mindestens neun Monate in Deutschland aufhält oder eine Arbeitserlaubnis hat. Für geduldete Asylbewerber gilt eine Frist von zwölf Monaten.“ Dabei handelt es sich um ESF-Mittel, die der Bund dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Förderung des Spracherwerbs zur Verfügung stellt.
Herr Ulbig, Frau Kurth, Ihre Aufgabe ist es nun, diese Lücke zu schließen und den Flüchtlingen den Spracherwerb von Anfang an zu ermöglichen. Sie könnten sich dafür einsetzen, dass ESF-Mittel, die der Freistaat Sachsen erhält, zukünftig zur Förderung des Spracherwerbs eingesetzt werden. Gerade jetzt werden die operationellen Programme erstellt. Ergreifen Sie die Initiative und sorgen Sie dafür, dass die Mittel für diesen Zweck genutzt werden können!
Freie Presse 04.03.2014: „Deutschkurse für Migranten sind so beliebt wie nie. […] Die Asylbewerber müssten sich zum Teil mehrere Jahre gedulden, bis ein Platz frei wird. […] An den sogenannten ESF-Sprachkursen darf nur teilnehmen, wer sich mindestens neun Monate in Deutschland aufhält oder eine Arbeitserlaubnis hat. Für geduldete Asylbewerber gilt eine Frist von zwölf Monaten. Eigentlich müssten wir die Leute so schnell wie möglich aus ihrem Milieu herausholen.[…] Stattdessen sind die Asylbewerber monatelang zum Nichtstun gezwungen (Bernd Herrmann, Euroschule Hohenstein-Ernstthal) […]“.
b) Integration heißt auch, den Kindern den Besuch einer Kita oder einer Schule zu ermöglichen. Und das überall zeitnah, bedürfnisorientiert und konsequent.
Wie sieht es in Sachsen aus? In den großen Städten gibt es keine bzw. kaum Probleme. Im ländlichen Raum sieht es dagegen anders aus. Nicht überall ist gesichert, dass Kinder, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, zeitnah eine Schule besuchen, die Vorbereitungsklassen (Deutsch als Zweitsprache) sind am Ende ihrer Aufnahmekapazitäten angelangt, es stehen keine neuen Lehrkräfte für die Eröffnung neuer Vorbereitungsklassen zur Verfügung.
Insgesamt scheint niemand so richtig zu wissen, wer für die Umsetzung der Schulpflicht von Kindern, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, zuständig ist. Die eine Stelle scheint sich auf die jeweils andere zu verlassen. Übrigens wundert mich das gar nicht. Auf eine Kleine Anfrage von mir zum Thema Schulpflicht antwortete Frau Kurth: „In Kooperation mit dem jeweiligen Koordinator für Migration/Integration der Sächsischen Bildungsagentur und den Akteuren vor Ort, wie z. B. den Heimleitern der Gemeinschaftsunterkünfte, den Mitarbeitern der Jugendmigrationsdienste, den Landratsämtern oder den kommunalen Ausländerbeauftragten, erfolgt der Informationsaustausch [… ] .“ Ja, wer nun mit wem? Wie vor allem die SBA davon erfährt, dass schulpflichtige Kinder in einer Gemeinschaftsunterkunft leben, darauf hatte Frau Kurth gar keine Antwort. Auch heißt es dort, dass die Betreuungslehrer und Betreuungslehrerinnen „für den schulischen und außerschulischen Integrationsprozess verantwortlich sind. Sie beraten die Schulleitungen sowie Fachlehrer und halten einen engen Kontakt mit den Eltern sowie mit außerschulischen Partnern, wie […] Migrantenorganisationen.“
Also Frau Kurth, ich habe den Eindruck, dass die Betreuungslehrerinnen noch nichts wissen von ihrem derart umfangreichen Aufgabengebiet! Hier sollten Sie nicht nur in Ihrem Hause nachfragen, sondern sich vor Ort ein Bild von der Realität machen! Sorgen Sie dafür, dass die Schulpflicht in allen Regionen Sachsen zeitnah und konsequent umgesetzt wird!
5.) Nun komme ich noch zu der von Herrn Ulbig verkündeten Kernbotschaft, dass ein Frühwarnsystem die Sicherheit erhöhen soll. Dabei geht es um den Erhalt der Sicherheit durch frühzeitige Information über Konflikte innerhalb der Unterkunft. Ich frage Sie, Herr Ulbig an dieser Stelle aber ganz deutlich: Was ist mit einem Frühwarnsystem zur Vermeidung rassistischer Überfälle auf Gemeinschaftsunterkünfte? In Sachsen sind im vergangenen Jahr im bundesdeutschen Vergleich die meisten rassistischen Übergriffe auf Asylunterkünfte verübt worden. Allein zehn der bundesweit 58 Angriffe ereigneten sich nach Angaben des Bundeskriminalamtes im Freistaat. Auch an dieser Stelle brauchen wir ein stärkeres Engagement, durch Sie, Herr Ulbig, um zukünftig derartige Vorfälle zu vermeiden!
6.) Unterbringungs- und Kommunikationskonzept sind zwar grundsätzlich begrüßenswert – brauchen aber Rahmenbedingungen für die Umsetzung! Diese herzustellen, ist Aufgabe der Staatsregierung! Es gilt, sofort zu handeln!
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