Elke Herrmann: Staatsregierung muss Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der Frühförderung erarbeiten

Redebeitrag der Abgeordneten Elke Herrmann zur Großen Anfrage der GRÜNEN-Fraktion "Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung für Kinder, die von Behinderung bedroht sind oder die eine Behinderung haben" (Drs. 5/6324), 63. Sitzung des Sächsischen Landtages, 27. September 2012, TOP 5

– Es gilt das gesprochene Wort –
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Herr Präsident, meine Damen und Herren Kollegen,

Komplexleistung Frühförderung ist zugebenermaßen ein sperriger Begriff und klingt wahrscheinlich nicht so spannend, wenn ich hier ins Auditorium schaue.
Was verbirgt sich dahinter? Zum konkreten Inhalt: Frühförderung bezeichnet ein komplexes System früher Hilfen für behinderte und für von Behinderung bedrohte Kinder von Geburt an bis zum Schuleintritt. Sie schließt die Bereiche Früherkennung, Frühbehandlung, Früherziehung und Beratung ein. Weil es dann später wichtig ist, nenne ich die Bereiche noch einmal: Früherkennung, Frühbehandlung, Früherziehung und Beratung. Sie basieren auf der fächerübergreifenden Zusammenarbeit von zum Beispiel Logopäd innen/Logopäden, Psychologinnen/Psychologen, Heilerziehungspflegerinnen und -pflegern, Physiotherapeutinnen und -therapeuten und Frühförderpädagoginnen und -pädagogen mit den Kindern und – das ist wichtig –  mit den Eltern. Frühförderung wendet sich immer an das Kind und bezieht die Familie und das weitere Umfeld ein.
Zum rechtlichen Rahmen. 2001 hat der Bundesgesetzgeber in § 30 SGB IX die interdisziplinäre Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder neu geregelt und 2003 die Leistungen in der Frühförderverordnung näher definiert.
Die Frühförderung ist ein verbindliches Hilfsangebot an Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten und an deren Eltern und ist als Rechtsanspruch, liebe Kolleginnen und Kollegen, gesetzlich verankert. Die konkrete Ausgestaltung wurde den einzelnen Ländern überlassen. Seitdem wurden in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedliche Systeme zur Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung etabliert.
Für welchen Weg hat sich Sachsen entschieden? In Sachsen existiert die sogenannte Landesregelung Komplexleistung. Der Titel ist verwirrend, da das Land selbst an der Landesregelung gar nicht beteiligt ist. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Verwaltungsvereinbarung zwischen den Rehabilitationsträgern, den Verbänden der gesetzlichen Krankenkassen einerseits und den kommunalen Spitzenverbänden für die örtlichen Träger der Sozialhilfe andererseits.
Seit dem 01 .01 .2010 beteiligt sich das Land nicht mehr an der Finanzierung der Frühförderung und hält sich komplett heraus, und so fallen auch die Antworten auf unsere Große Anfrage aus. Häufig ist zu lesen: “Dazu liegen der Staatsregierung keine Daten vor.“ Nicht einmal verlässliche und vergleichbare Angaben zur Anzah‘ der Kinder, die Frühförderung als Komplexleistung erhalten, kann die Staatsregierung machen, auch nicht zu den Kosten, die den Kommunen für diese Leistung entstehen. Für die Kommunen liegt vollständiges Zahlenmaterial erst ab 2010 vor, und die Angaben aus den Jahren zuvor sind unvollständig und machen keine Vergleiche möglich. In Anlage 3 können Sie dies sehen.
Die Angaben der AOK PLUS als Vertreterin der Krankenkassen zu den Kosten von Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung sind allerdings unglaublich. Waren es 2005 noch 11 210 Euro, so gab die Krankenkasse im Jahr 2010 schon 2,1 Millionen Euro aus. Der Bedarf ist in den letzten Jahren also ganz erheblich gestiegen. Dabei ist zu beobachten, dass ein größer werdender Anteil der Kinder in Familien aufwächst, die durch sozioökonomische und psychosoziale Probleme belastet sind. Die Eigeninitiative und die Ressourcen dieser Familien sind in der
Regel beschränkt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Festzustellen ist aber auch, dass in Sachsen ein gut funktionierendes Netz von Angeboten zur Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder durch die interdisziplinären Frühförderstellen, sogenannte 1FF, und die sozialpädiatrischen Zentren, SPZ, existiert, und — ich denke, dem schließen Sie sich an — diesen Einrichtungen gilt unser herzlicher Dank für ihr Engagement schon seit vielen Jahren für diese Kinder, ein Engagement trotz bürokratischer Hürden und finanzieller Unwägbarkeiten.
Dennoch, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es Schwierigkeiten und Hemmnisse, die Eltern und Leistungserbringer beklagen und die auch aus Fachgesprächen bekannt sind. Diese Probleme werden auch durch die Große Anfrage bestätigt. Sie liegen nicht nur auf der Landesebene, sondern natürlich auch in der Konstruktion und Formulierung des Gesetzes an sich. Deshalb geht auch die Bitte an die Staatsministerin, sich auf Bundesebene für eine Novellierung einzusetzen, die ja schon lange im Gespräch ist.
Aber Voraussetzung für das Agieren auf der Bundesebene ist natürlich auch, dass die Probleme im Land bekannt sind, und zur Erhellung sollte diese Anfrage beitragen. Zumindest wird jetzt klar, was alles nicht bekannt ist.
Einige konkrete Beispiele. Sie erinnern sich: Ich sagte, Früherkennung, Frühbehandlung und Einbeziehung der Eltern stehen im Gesetz. Schauen wir uns also einmal ganz exemplarisch den Zugang zu Komplexlelstungen an, der vom Bundesgesetzgeber als niedrigschwellig gefordert wird. Wir haben in den Fragen 11.7 und 8 sowie in V., Fragen 6 und 7, nach den Zugangswegen gefragt. Da werden unterschiedliche Wege genannt, aber entweder werden die Eltern selbst aktiv –  auch durch Hinweise von Kitas usw. –  oder sie werden vom Facharzt in eine entsprechende Fördereinrichtung überwiesen.
Gemäß § 8 Abs. 1 der Landesregelung Komplexleistung ist eine Überweisung durch einen niedergelassenen Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin oder einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie eine Voraussetzung zur Erbringung der Komplexleistung Frühförderung. Da im ländlichen Raum diese Fachärzte nicht bzw. nicht in ausreichender Zahl ansässig sind, ist der Zugang zur Komplexleistung Frühförderung erschwert. Lange Wegstrecken und/oder lange Wartezeiten verzögern den frühzeitigen Beginn dieser Fördermaßnahmen.
Nun sollen ja auch die Vorsorgeuntersuchungen Entwicklungsverzögerungen und -auffälligkeiten aufdecken. Allerdings zielt die Diagnostik in den Untersuchungen – darüber haben wir auch im Zusammenhang mit dem Kinderschutz gesprochen – immer noch zu sehr auf bereits manifeste Entwicklungsauffälligkeiten; Risiken werden zumeist nicht erfasst. Gerade Auffälligkeiten in der sozialen und emotionalen Entwicklung lassen sich in den Untersuchungen sehr schwer feststellen. Und nun denken Sie an die zunehmende Zahl der Kinder, bei denen diese Probleme erst bei der Einschulungsuntersuchung auffallen. Offensichtlich gelingt der Zugang zur Frühförderung nicht für alle Kinder, die einen Rechtsanspruch hätten.
Nun liegt endlich eine ärztliche Uberweisung in die Frühfördereinrichtung doch vor. Die Antworten auf die Fragen IV.10 und 11 zeigen, dass trotzdem noch nicht alle Hürden genommen sind. Manche Landkreise bzw. kreisfreien Städte schicken die Eltern erst noch zum Gesundheitsamt. Die Zeit läuft, und es kommt zu Wartezeiten, bis ein Termin gefunden ist –  das ist die Frage IV.12 –  und dann wieder, bis der Förderantrag vom Gesundheitsamt bearbeitet ist, Frage 13; und denken Sie daran: Es heißt Frühförderung.
Endlich ist der Antrag vom Sozialhilfeträger genehmigt, die Frühförderung könnte beginnen. Allerdings arbeiten manche Sozialhilfeträger mit unterschiedlichen Formen der Fallzahlbegrenzung, Frage lV.7 und 8, und die Frage VII.6 zeigt, dass das auch die Krankenkassen tun. Die Beschränkung von Fallzahlen durch die Kostenträger oder auch ein Ausschluss von Frühförderung parallel zum Besuch einer lntegrations-Kita oder einer heilpädagogischen Kita sind nicht zulässig, aber dennoch gängige Praxis in Sachsen. Eltern dürfen nicht vor die Wahl gestellt werden: entweder Frühförderung oder Kita; denn damit werden Teilhabe und Inklusion verhindert.
Die Festlegung von Obergrenzen der zu behandelnden Kinder darf nicht zu einer Verzögerung des Leistungsbeginns führen. Das ist aber laut Anfrage derzeit in einigen Kommunen der Fall.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hätte wirklich Lust, mit Ihnen das Thema der Beteiligung der Eltern und Familien bzw. des Umfeldes – Sie erinnern sich, eingangs sagte ich: Elternbeteiligung gehört zur Komplexleistung, wie es der Bundesgesetzgeber vorgesehen hat – in gleicher Weise anhand der Großen Anfrage durchzugehen. Leider reicht dafür die Zeit nicht. Aber ich kann Ihnen sagen, dass auch dieser Anspruch nicht ausreichend eingelöst wird und auch selten die angemessene Vergütung erfährt. Dazu kommen noch jede Menge Schwierigkeiten,
mit denen die interdisziplinären Frühförderstellen zu kämpfen haben. Da wird die Vergütung durch den Sozialhilfeträger anhand der Fallzahlen des Vorjahres berechnet. Bei steigenden Fallzahlen, die wir definitiv haben, muss der Träger der Einrichtung eine Lösung finden, oder der Zugang wird wieder beschränkt, wenn auch nur zeitlich verschoben. Diese Verzögerungen verschlechtern die Chancen für die Kinder und demotivieren die Eltern.
Ein weiteres Problem ist die Vergütung sogenannter Korridorleistungen, Leistungen des fachlichen Austausches, der ja überhaupt erst Interdisziplinarität möglich macht. Die Vergütung dieser Leistungen erfolgt nach wie vor nicht oder nur zu kleinen Teilen. Auch ist die Zeit, die für die Diagnostik vergütungsrelevant eingesetzt wird, bei Weitem nicht ausreichend.
Nun komme ich noch zum Platz der Frühförderungseinrichtung beim Kinderschutz. Das sollte vor allem auch ein Anliegen der Staatsministerin sein. Das Zusammenwirken der Jugendämter mit den interdisziplinären Frühförderungsstellen und den sozialpsychiatrischen Zentren ist regional ganz unterschiedlich. Obwohl beide Einrichtungen in engem Kontakt zu Kind und Eltern stehen und damit weitreichende Kenntnis von Entwicklungsmöglichkeiten und -ressourcen haben, wird deren Expertise noch nicht regelhaft einbezogen. Interdisziplinäre Frühförderung hat in
Sachsen keinen festen Platz im System der frühen Hilfen eingenommen, obwohl zunehmend mehr Kinder mit Entwicklungsstörungen oder -verzögerungen in die Frühförderungsstellen kommen – das ist Frage XIV.23 – und soziale Problemlagen der Familien immer mehr in den Vordergrund der Beratungsarbeit rücken.
Nach Angaben des Paritätischen Wohlfahrtverbandes Sachsen kommen zwei Drittel der Kinder, die in Sachsen Frühförderung erhalten, aus Familien mit unterschiedlichen Problemlagen, wie psychische Erkrankungen, Sucht, Arbeitslosigkeit und Armut. Aufgrund des sich zunehmend ändernden Aufgabenfeldes ist es4m Sinne eines ernst gemeinten Kinderschutzes dringend
geboten, Frühförderung und frühe Hilfen besser zu verzahnen.
Völlig unverständlich ist es zudem, wenn die Frühförderungsstellen beim Übergang von Kita zu Schule — zum Beispiel im Rahmen der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs oder auch bei der Beratung zur Schullaufbahn — nicht regelhaft einbezogen werden. Deshalb haben wir diese Punkte im Entschließungsantrag aufgegriffen. Dazu werde ich später noch sprechen.
Nun noch etwas zu den letzten Fragen der Großen Anfrage. Die Staatsregierung ist der Meinung, dass die Leistungen, über die wir hier sprechen, die Leistungen der Frühförderung, nicht inklusiv erbracht werden könnten, da sie ja nur für Kinder mit Behinderung oder von Behinderung bedrohte Kinder vorgesehen seien. Frau Staatsministerin, Inklusion heißt nicht nur, dass die Leistungen mit nicht betroffenen Kindern gemeinsam erbracht werden müssen. Inklusion heißt auch: Leistungen sollen im Lebenszusammenhang der Familie erbracht werden, deshalb zum Beispiel Aufsuchen der lnklusion heißt auch, das Umfeld des Kindes einzubeziehen, beispielsweise die Kita; aber nicht im Sinne von entweder – oder, sondern in Zusammenarbeit, gegenseitiger Unterstützung und Verstärkung.
Inklusion heißt auch, die Eltern beim Umgang mit diesen Problemen zu stärken, ihre Selbsthilfe anzuregen und vieles andere mehr. Ich wünsche mir mehr Durchdringung dieses Begriffes, sonst bleibt es ein Schlagwort.
Vielen Dank.

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