Elke Herrmann zur Reform der Pflegepolitik

Redebeitrag der Abgeordneten Elke Herrmann zum Gemeinsamen Antrag von SPD, LINKE und GRÜNE "Pflege braucht Pflege: Für eine Reform der Pflegepolitik in Sachsen und auf Bundesebene" in der 43. Sitzung des Sächsischen Landtages, 13.10., TOP 5

Es gilt das gesprochene Wort!
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Lauterbach sagte es schon: Die meisten Menschen — dafür gibt es Studien und Befragungen — wollen in ihrer gewohnten Umgebung alt werden und dort weiterleben, auch wenn sie Hilfe und Pflege brauchen. Aber zwischen diesem Wunsch und der Wirklichkeit in Sachsen klafft schon heute eine größere Lücke als im übrigen Bundesgebiet. Seit 1999 ist die Zahl der Pflegeeinrichtungen in Sachsen um 60 % gestiegen. Über 82 000 Menschen sind in Sachsen auf stationäre oder ambulante Pflege angewiesen. Das entspricht einem ungefähren Anteil von 2 % der Bevölkerung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zahl der Pflegebedürftigen in Sachsen ist im Vergleich zu 2007 um mehr als 9 % angestiegen. Im Bundesvergleich waren das nur 5 %. Dabei werden heute 39 % der Menschen von Angehörigen gepflegt. Bundesweit sind das 45 %. Wenn wir in das Gutachten schauen, dass vorletzte Woche von Herrn Raffelhüschen vorgelegt wurde, dann wird dort prognostiziert, dass sich der Anteil von Menschen, die von Angehörigen gepflegt werden, im ungünstigsten Fall bis 2050 auf 23 % verringern wird. Das bedeutet, in Sachsen müssen Menschen mit Pfiegebedarf mehr professionelle Pflege in Anspruch nehmen,und sie leben häufiger in Einrichtungen als im Bundesdurchschnitt.
Das Fazit steht im Widerspruch zu den Wünschen der Bürger im Freistaat, die wir, hier wahrscheinlich alle selbst haben. Dann frage ich schon, Frau Clauß‚ wie Sie im Zusammenhang mit der Vorstellung des Gutachtens zu der Schlussfolgerung kommen, dass das Gutachten die Richtigkeit des sächsischen Weges unterstreichen würde. Sie sagten auch in einer Pressemitteilung, dass Sie sich durch die Studie alarmiert fühlen und dass Sachsen der deutsche Alterspionier ist. Wenn wir nicht gegensteuern, wird ein deutlicher Anstieg der kommunal aufzubringenden Leistungen für die Hilfe und Pflege auf uns zukommen. Das ist auch ganz klar, weil durch die Erwerbsbiografien, die nicht mehr durchgängig sind, immer mehr Menschen im Alter auf Grundsicherung angewiesen sein werden.
Das heißt, wenn diese Menschen in Pflegeeinrichtungen wohnen, weil keine Angehörigen in der Nähe sind oder weil die Angehörigen die Pflege nicht leisten können oder wollen, dann werden die Kommunen in vielen Fällen einspringen und die Pflegeleistungen, die über die Pflegeversicherung und die
Grundsicherungsleistung hinausgehen, übernehmen müssen. Das heißt, das werden wir dann aus Mitteln bezahlen, die die Kommunen nicht haben bzw. die an anderen Stellen fehlen werden.
Ich denke, deshalb sollten wir sachlich zu dem heute hier vorliegenden Antrag diskutieren und die Gelegenheit nutzen, uns darüber auszutauschen, wie eine Pflegepolitik in Zukunft gestaltet sein könnte, die sich genau diesen Herausforderungen stellt. Das haben meine beiden Vorredner übrigens schon gesagt: Wir brauchen ein Konzept zur Versorgung Pflegebedürftiger in Sachsen. Wir brauchen deshalb dringend ein Landespflegegesetz. Dieses Konzept muss sich natürlich an der UN-Behindertenrechtskonvention ausrichten und auch an den Wünschen der Menschen im Freistaat. Ich denke, dafür sind die Beratungsstellen — ob wir sie nun Pflegestützpunkte nennen oder anders — und die notwendige Beratung für eine Situation, die im Alter eintreten kann, unverzichtbar.
Ich habe hier noch einen zweiten Zeitungsausschnitt. Ich finde es ein bisschen schade, dass Alexander Krauß in einer Pressemitteilung sagt: Wir wollen nicht mehr Geld in der Pflegeberatung, sondern wir wollen, dass das Geld in der Pflege ankommt. Aber genau dann kommt Geld bei den Betroffenen an, und zwar so, wie sie wirklich leben wollen, wenn wir die Pflegeberatung stärken.
Ich möchte dazu ein Beispiel nennen. Eine Frau, die sich immer wieder an mich wendet, pflegt seit circa zehn Jahren ihre pflegebedürftige, mittlerweile demente Mutter. Bei einer Pflege über eine so lange Zeit brechen soziale Netzwerke weg. Die Freunde werden weniger. Man hat nie Zeit, irgendwo hinzugehen, weil man die pflegebedürftige Person nicht allein lassen kann, jedenfalls nicht, wenn nicht noch jemand anders mit "im Boot"st. Man kann gesellschaftliche Aktivitäten auch nicht mehr wahrnehmen. Man wird ein ganzes Stück weit einsam und kommt in eine Überforderungssituation, aus der man sich allein nicht mehr befreien kann.
Diese Frau ist nicht mehr in der Lage, den Grundsicherungsantrag für ihre Mutter zu stellen. Sie ist nicht mehr in der Lage, bestimmte Hilfsleistungen zu beantragen. Sie ist schlicht mit der Alltagssituation überfordert und wird selber immer kränker. Sie wandte sich an das zuständige Sozialamt und bekam dort die Auskunft, dann sei eben jetzt der Zeitpunkt erreicht und sie solle ihre Mutter in eine Pflegeeinrichtung geben. Ich denke, das ist ein denkbar schlechter Rat. Erstens, weil dort Verantwortung übernommen wird und wir nicht sagen können, jetzt ist ein Moment erreicht, wo diese Verantwortung an ihre Grenzen gerät, ganz einfach, weil man dazu allein nicht mehr in der Lage ist. Dann wird auf eine stationäre Pflegeeinrichtung verwiesen. Das entspricht auch nicht den Wünschen des Menschen, der gepflegt wird.
Wir brauchen einfach eine stärkere Beratung und Unterstützung für Menschen, die Angehörige pflegen, wenn wir das in Zukunft noch weiter wollen. Wenn nicht, habe ich ausgemalt, in welche Richtung die Kommunen dann gehen würden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war in der letzten Zeit in einigen Altenpflegeeinrichtungen. Was mir dort immer wieder gesagt wurde und was mir auch aufgefallen ist, ist — auch darauf ist die Kollegin schon kurz eingegangen —‚ dass die Fachkräftesituation eine immer schwierigere wird.
Den Fachkräfteanteil zu halten ist für die Einrichtungen ungeheuer schwer, und zwar deshalb, weil es in Sachsen kaum noch Fachkräfte gibt, weil aufgrund der Bezahlung im Freistaat viele aus Sachsen weggegangen sind. Hinzu kommt, dass die Arbeitsbedingungen so sind, dass Menschen in andere Bereiche abwandern.
Da müssen wir uns schon die Frage gefallen lassen, was wir machen, wenn der vorgeschriebene Fachkräfteschlüssel nicht mehr eingehalten werden kann. Dann müssen wir darüber nachdenken, ob in Abhängigkeit vom Konzept der jeweiligen Einrichtung auch andere Professionen als Pflegerinnen und Pfleger diese Fachkräftequote erfüllen können. Das wiederum gehört in ein Heimgesetz hinein, und diese Punkte finde ich im Heimgesetz der Staatsregierung nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Zum Schluss frage ich Sie: Wie wollen Sie eigentlich leben, wenn Sie alt sind, wenn wir alle alt sind? Haben Sie Vorstellungen davon, haben Sie sich damit schon auseinandergesetzt? Ich denke, bei den allermeisten von uns ist ja nicht das Problem, dass es uns an Geld fehlt, um uns notwendige Unterstützungsleistungen einzukaufen. Das werden wir uns wahrscheinlich alle leisten können. Das aber ist für die Menschen ein Problem, die eine unterbrochene Erwerbsbiografie haben, die Grundsicherung im Alter bekommen und deren Kinder eben nicht so viel verdienen, dass sie das für sie übernehmen können. Vielleicht leben sie auch gar nicht mehr im Freistaat, um die Pflege selbst übernehmen zu können.
Bei dieser Frage, die wir uns selber stellen sollten, sollten wir auch reflektieren, wie das für andere Menschen in Sachsen aussieht. Ich denke, da müssen wir wirklich gegensteuern, und der heutige Antrag bietet die Gelegenheit, sich darüber auszutauschen.