Giegengack: Es gibt keinen rationalen Grund, kein dringendes Handlungsbedürfnis die Gemeinschaftsschulen abzuwickeln

„Lassen sie den Schulversuch ergebnisoffen weiterlaufen – die Zwischenevaluation weist aus, dass die Schulen wirksam arbeiten und die Schüler in den Fächern Deutsch und Mathematik sogar leicht bessere Ergebnisse erzielten, als die Schüler vergleichbarer Mittelschulen“
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrter Herr Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
wenn sie jetzt erwarten bzw. befürchten, dass ich eine 10minütige Brandrede für die Gemeinschaftsschulen halten werde, dann muss ich sie enttäuschen.
Ich erliege nicht der Versuchung zu glauben, dass – nachdem in diesem Hause schon so viele Stunden über das längere gemeinsame Lernen diskutiert wurde – nun gerade ich die Skeptiker oder gar Gegner überzeugen könnte.
Meine Damen und Herren, ich bin auch der Ansicht, dass alle Argumente für und gegen das längere gemeinsame Lernen ausgetauscht sind. Die Schuldebatte hat sich längst und nicht nur im Freistaat zu einem ideologischen Stellungskrieg entwickelt, bei dem man sich letztlich nur noch die neuesten Pisa-Ergebnisse gegenseitig in die Schützengräben schmeißt (hier sei nur stellvertretend Hamburg erwähnt).
Es ist eine Tatsache, dass Sachsen, gefolgt von Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen – zumindest im bundesdeutschen Vergleich – sehr gute Ergebnisse bei den Pisa Tests vorweisen kann. Genauso ist es eine Tatsache, dass Finnland – als Vorzeigenation für längeres gemeinsames Lernen – in der Pisa Spitzengruppe liegt. Die Gründe für gute Pisa-Ergebnisse können nicht nur in den Eigenarten der jeweiligen Schulsysteme liegen. Nach meiner Überzeugung spielt hierbei sicher auch die Kontinuität von Bildungspolitik an sich eine Rolle.
Doch, meine Damen und Herren, nach 20 Jahren mehr oder weniger Alleinherrschaft der CDU hat sich die Kontinuität der Bildungspolitik in Sachsen zunehmend zu einer Erstarrung gewandelt. Selbstherrlich werden Erfolge angepriesen, arrogant werden kritische Fragen abgetan. Dazu passt der Umgang mit den rechtlichen Regelungen zur Gemeinschaftsschule. Ohne die Öffentlichkeit zu informieren, hat das Kultusministerium per Rechtsverordnung die Leitlinien zur Gemeinschaftsschule verändert. Bis heute liegt keine offizielle Version der geltenden Regelungen vor. Soviel zur Informationspolitik des Kultusministeriums.
Den Gipfel der Überheblichkeit sehe ich persönlich in einer Äußerung des Ministers in der Sächsischen Zeitung. Auf die Zukunft der Gemeinschaftsschulen angesprochen erwiderte er: Wir wollen keine Reformpädagogik machen sondern Qualitätspädagogik.
Diese Äußerung ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht vieler Lehrer und hunderter Eltern in diesem Land, die sich intensiv für die Bildung und Erziehung unserer Kinder engagieren. Diese Äußerung zeugt auch von Oberflächlichkeit bei der Auseinandersetzung mit der Sache selbst.
Denn die Schule von heute – Herr Minister und ihre eigene Antwort auf meine Kleine Anfrage dazu hat dies eindeutig bestätigt – ist ohne die Impulse der Reformpädagogik undenkbar: dass Mädchen und Jungen gemeinsam lernen, dass Klassen ins Schullandheim fahren, Fächer wie Sport und Werken,  Ganztagsschule, Projekttage und Projektunterricht, Gruppenarbeit – alles Dinge, die in Reformschulen erprobt und in die Regelschulen übertragen wurden. Was bitte soll Qualitätspädagogik jenseits von Reformpädagogik sein?
Wenn Kontinuität nicht zur Erstarrung führen soll, muss man sich auf Neues einlassen, die Variierung des Dagewesenen – Stichwort Oberschule – ist keine Weiterentwicklung. Und, meine Damen und Herren von der Koalition, sie waren bereits einen Schritt weiter. Einmütig haben sie sich im Juli 2005 für den Schulversuch Gemeinschaftsschule ausgesprochen.
Herr Herbst, vielleicht erinnern sie sich noch, sie haben damals den Antrag hier ins Plenum eingebracht und die Gemeinschaftsschulen als einen wichtigen Beitrag zur zukünftigen Gestaltung des sächsischen Bildungssystems bezeichnet. Im FDP-Landtagswahlprogramm unterstützen sie nicht nur die Gründung weiterer Gemeinschaftsschulen, sie fordern für diese Schulen sogar einen eigenständigen schulgesetzlichen Status. Und dann unterzeichnen sie einen Koalitionsvertrag, der vorsieht, die Gemeinschaftsschulen abzuschaffen? 
Und auch sie, meine Damen und Herren von der CDU-Fraktion, haben für die Einführung der Gemeinschaftsschule gestimmt. Herr Colditz, nicht gerade als Verfechter des längeren gemeinsamen Lernens bekannt, lobte hier im Plenum die sorgfältige Vorbereitung und die intensive Diskussion aller notwendigen Rahmenbedingungen zur Einführung der Gemeinschaftsschule, sprach von Verlässlichkeit und Transparenz. Ihre Verlässlichkeit reicht wie es aussieht gerade einmal vier Jahre. 
Der Minister hat für den lapidaren Satz der Koalitionsvereinbarung, dass die bisher genehmigten Schulversuche zur Gemeinschaftsschule abgeschlossen und evaluiert werden, inzwischen mehrere Begründungen gefunden.
1. Begründung: Wir brauchen keine neuen Schularten. Wir haben in Sachsen ein klares, übersichtliches Schulsystem mit zwei weiterführenden Schularten – die Mittelschule und das Gymnasium. Das System ist sehr erfolgreich und sogar Modell für andere Länder.
Doch Gemeinschaftsschulen sind keine weitere Schulart Herr Minister, es sind in der Regel Grund- und Mittelschulen, die auf der Grundlage eines Bescheids ihres Ministeriums den Schulversuch Schule mit besonderem Profil/ Gemeinschaftsschule durchführen. Und nach SchulG § 4a gelten die Gemeinschaftsschulen in der Sekundarstufe I grundsätzlich als Mittelschulen.
Gern diskutiere ich mit ihnen, ob wir eine weitere Schulart brauchen – nämlich die Schulart, an der nicht wie bei den Gemeinschaftsschulen ein paar Hundert sondern knapp 27 000 Schüler in Sachsen lernen und die sie gern unterschlagen, wenn sie ihr Schulsystem anpreisen, nämlich die Förderschule.
80 Prozent aller Förderschüler verlassen die Schule ohne Abschluss. Lassen sie uns über die Sinnhaftigkeit dieser Schulart oder vielleicht besser dieses Abstellgleises diskutieren, Herr Minister. 
2. Begründung: Sie sagen, Schulversuche sind ja immer auf eine begrenzte Zeit angelegt, zur Erprobung neuer pädagogischer und organisatorischer Konzepte. Daraus kann und darf nicht der Anspruch des Dauerbetriebs abgeleitet werden.
Nun der Gesetzgeber – und das waren zu dieser Zeit in Mehrheit sie, meine Damen und Herren von der CDU-Fraktion, – hat im SchulG §15 überhaupt keine zeitliche Begrenzung für Schulversuche vorgegeben. In den Leitlinien des Ministeriums zum Schulversuch Gemeinschaftsschule heißt es sogar, dass der Schulversuch bei Erfolg regulär weiterlaufen soll. Ex-Kultusminister Minister Steffen Flath entgegnete damals im Plenum der FDP auf ihr Ansinnen, Gemeinschaftsschulen könnten wackligen Schulstandorte retten helfen, ich zitiere: „Dies würde auch dem entgegenlaufen, dass Gemeinschaftsschule etwas Dauerhaftes sein soll.“
3. Begründung: Die pädagogisch wertvollen Erfahrungen der Gemeinschaftsschulen sollen nach der Evaluation aufgenommen und an die anderen Schularten, insbesondere die neue Oberschule übertragen werden.
Dagegen ist absolut nichts einzuwenden – im Gegenteil. Doch das ist kein hinreichender Grund die Gemeinschaftsschulen ganz zu schließen. Das ist, wie wenn ein Autokonzern ein neues Modell entwickelt, danach die Innovationen in seine alten Modelle einbaut und den Prototyp verschrottet. Was ist denn das für eine Logik?! Die Kunden des Konzerns würden sich ja nur an den Kopf greifen.
Und genau das tun die Eltern der Kinder in den Gemeinschaftsschulen auch. In Artikel 101 Abs. 2 unserer Verfassung heißt es: Das natürliche Recht der Eltern, Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu bestimmen, bildet die Grundlage des Erziehungs- und Schulwesens. Es ist insbesondere bei dem Zugang zu den verschiedenen Schulformen(arten) zu achten.
Meine Damen und Herren, es gibt keinen rationalen Grund, kein dringendes Handlungsbedürfnis die Gemeinschaftsschulen jetzt abzuwickeln. Lassen sie den Schulversuch Gemeinschaftsschulen ergebnisoffen weiterlaufen. Die Zwischenevaluation von 8/2008 weist aus, dass die untersuchten Versuchsschulen durchaus wirksam arbeiten und dass die Schüler in den Fächern Deutsch und Mathematik sogar leicht bessere Ergebnisse erzielten, als die Schüler vergleichbarer Mittelschulen. Stehen sie zu ihrem einmal gefassten Beschluss, diesen Schulen bei Erfolg einen regulären Status zu geben.