Grenzschließungen in Europa – Hammecke: Eine europäische Krisenbekämpfung kann mehr, als Nationalstaaten alleine
Redebeitrag der Abgeordneten Lucie Hammecke (BÜNDNISGRÜNE) zur Ersten Aktuellen Debatte auf Antrag der Fraktion BÜNDNISGRÜNE zum Thema:
"Nachbarschaft und Miteinander stärken – Grenzen innerhalb Europas wieder öffnen"
10. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Mittwoch, 10.06.2020, TOP 5
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren,
die Abschaffung der Binnengrenzen in Europa durch die Umsetzung des Schengener Abkommens feierte dieses Jahr das 25-jährige Jubiläum – ein Viertel Jahrhundert Reisefreiheit innerhalb Europas. Letztes Jahr wurde an vielen Stellen – auch hier in Sachsen – der 15 Jahre EU-Ost-Erweiterung gedacht. Denn, auch wenn die Europäische Union vor 70 Jahren einmal als Wirtschaftsprojekt, als ein Plan die Kohle- und Stahlproduktion zusammenzulegen, begann – ist sie mittlerweile doch sehr viel mehr geworden. Und Sachsen ist eines der besten Beispiele dafür. Denn Sachsen ist mitten in Europa. Das tägliche Leben in den Grenzregionen Sachsens zu Polen und Tschechien ist tief geprägt vom europäischen Gedanken. 15 Jahre lang ein Leben, Arbeiten, Einkaufen gefühlt ohne innereuropäische Grenzen – das war gelebte Realität in Sachsen. Die Menschen in den Grenzregionen zu Polen und Tschechien leben seit vielen Jahren einen Alltag, der nationalstaatliche Grenzen überschreitet.
Intensive politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Netzwerke verknüpfen die Mitgliedsstaaten miteinander. Besonders junge Menschen, die ein Europa ohne offene Grenzen zum Teil auch gar nicht mehr kennen – sehen sich häufig als Teil einer europäischen Gemeinschaft. Und Zwischenmenschliches schlägt sich auch in institutioneller Zusammenarbeit aus: das beste Beispiel ist wohl die gemeinsame
Bewerbung zur europäischen Kulturhauptstadt in der Dreiländerregion Oberlausitz, oder dem gemeinsamen Weltkulturerbe in der Montanregion Erzgebirge. Und auch Unternehmen auf deutscher, polnischer und tschechischer Seite profitieren enorm von diesem grenzüberschreitenden Alltag.
Die Corona-Krise hat dieses Selbstverständnis des europäischen Alltags erschüttert. Denn zuallererst hat es bei den Mitgliedsstaaten zu einem Rückzug auf die nationalstaatliche Ebene gesorgt. Menschen gelangten nicht mehr zu ihren Arbeitsplätzen, Unternehmen müssen erhebliche Einbußen hinnehmen, weil Mitarbeitende oder auch Kund*innen, nicht mehr kommen konnten. Partner*innen, Freund*innen, Nachbar*innen, Familie sind plötzlich unüberwindbar voneinander getrennt gewesen. Die Ausbreitung des Corona-Virus hat zu einem buchstäblichen Zurückdrehen der Uhr geführt. Und damit zu etwas, was eigentlich für viele Menschen unvorstellbar schien. Absperrbänder, Grenzzäune und bewaffnete Militärs trennen plötzlich Wege, die vorher Alltagswege waren. Sei es zum besten Freund, zur Oma, zum
Arzt oder Einkaufen. Grenzüberschreitende Mobilität wurde massiv eingeschränkt, vom öffentlichen Personenverkehr an diesem Punkt ganz zu schweigen. Skurrile Bilder wie kilometerlange Staus bis hin zu einem Problem, an dass wohl die wenigsten im ersten Moment gedacht haben: extrem lange Wartezeiten auch bei Tiertransporten mit lebendigen Tieren.
Das Schengen-Abkommen – eine der größten europäischen Errungenschaften – das grenzüberschreitende Mobilität, europaweite Beziehungen und das Herausbilden einer europäischen Identität fördert, war plötzlich im 25. Jahr seines Bestehens durch heruntergelassene Schlagbäume seiner Aufhebung ausgesetzt. Dieser Zustand war und ist eine große Belastung, vor allem für die Menschen in den Grenzregionen. Dies zeigen öffentliche Solidaritätsbekundungen von Zivilgesellschaft, Wirtschaft, den
Euro-Regionen – sowohl aus Deutschland, Polen und Tschechien – grenzübergreifend und gemeinsam.
So berechtigt die Grenzschließungen am Beginn der Pandemie vielleicht erschien, so sinnfrei erscheinen die anhaltenden Grenzschließungen jetzt. Seit den ersten Reaktionen hat sich viel an der Realität an den Grenzen geändert. Auch hier in Sachsen hat die Staatsregierung schnell reagiert und zum Beispiel einen Bonus für Grenzpendler*innen initiiert, der für Übernachtungskosten hier genutzt werden konnte. Tschechiens Grenzen sind für deutsche Staatsbürger*innen zumindest wieder überschreitbar und auch aus Polen können wir Signale vernehmen, dass es hier wohl bald zu einer Grenzöffnung kommen wird. Und das ist auch richtig und wichtig so. Denn die Europäische Union zeichnet sich eben nicht nur durch die Freizügigkeit des Warenverkehrs, sondern eben auch durch Personen aus, die den europäischen Alltag miteinander gestalten. Doch eine Frage bleibt offen: Wie kommen wir auch in der neuen Normalität mit Corona zu einem geregelten Alltag in den Grenzregionen?
Zweite Runde:
Sehr geehrte Kolleg*innen, sehr geehrter Herr Präsident,
worauf es jetzt ankommt, ist auch unter Vorzeichen von Corona und einer möglichen zweiten Welle in dieser neuen Normalität zu einem geregelten, europäischen Alltag in den Grenzregionen zurückzukehren und zu bleiben. Damit dies geregelt passieren kann, ist jetzt die Zeit anstehende Entscheidungen präventiv vorzubereiten. Und zwar gemeinsam. Zukünftig muss zumindest der sogenannte kleine Grenzverkehr für die Bevölkerung möglich bleiben. Grenzpendler*innen sollten weiterhin zur Arbeit dürfen – und vor allem auch wieder zurück zu ihren Familien ohne in Quarantäne zu müssen. Und mit dieser Forderung sind wir auch nicht alleine. Auch Wirtschaftsverbände, wie die Deutsch-Tschechische Industrie-und Handelskammer fordern zukünftig eine bessere Absprache und Koordination unter den Nachbarstaaten.
Eins sollten wir auch nicht vergessen. Nach EU-Recht sind die Einführungen temporärer Grenzkontrollen in bestimmten Ausnahmesituationen zwar möglich, z.B. wenn es um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung geht und die Mitgliedsstaaten dies bei der Kommission notifizieren. Das EU-Recht erlaubt Grenzkontrollen, lässt es aber im Normalfall nicht zu, dass EU-Bürger*innen die Einreise verwehrt wird. Dies ist nur in individuellen und gut begründeten Situationen der Fall. Die aktuelle Situation an vielen Binnengrenzen in der EU ist also eigentlich nicht europarechtskonform.
Deshalb braucht es jetzt auf europäischer Ebene angefangen einen Plan, der zusammen mit den Mitgliedsstaaten entwickelt wird, wie wir grenzüberschreitende Mobilität auch weiterhin gewährleisten können. Denn es entspricht auch keiner Logik, sich zwar innerhalb eines Landes wieder über hunderte
Kilometer frei bewegen zu können, aber zum Einkaufen in die Nachbarstadt nicht fahren zu dürfen. Dazu gibt es Vorschläge der Kommission, die eine regionalisierte Strategie vorschlägt, die sich an dem Infektionsgeschehen in den Regionen orientiert.
Statt eines Wettbewerbs, wer schließt wie schnell die meisten Grenzen, braucht es in Zukunft koordiniertes Vorgehen, das effizient und gründlich eine weitere Ausbreitung verhindert, aber eben auch
verhältnismäßig ist. An der Verhältnismäßigkeit der anhaltenden Einschränkungen für die Menschen in den Grenzregionen möchte ich hier auf jeden Fall Zweifel anmelden.
Schon jetzt erkennen wir, welche Vorteile eine grenzübergreifende, eine gemeinsame Pandemiebekämpfung mit sich bringt: was die Auswertung von polnischen Corona-Tests, das Behandeln französischer oder italienischer Patient*innen, oder die Bereitstellung von Schutzmasken angeht, erleben wir mehr und mehr europäische Solidarität. Deshalb muss jetzt die Arbeit aufgenommen werden, damit
kommende Krisen – seien es eine zweite Welle von Corona-Infektionen oder andere Ausnahmesituationen – von Beginn an, gemeinsam, solidarisch, mit vereinten europäischen Kräften angegangen wird. Das sind wir Europa, aber eben vor allen den Menschen vor Ort schuldig, denn eine europäische Krisenbekämpfung kann offensichtlich mehr, als Nationalstaaten alleine.
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