Handlungspaket Klimaschutz – Lippold: Mit jedem verbummelten Jahr verlieren wir zwei. Es wird höchste, allerhöchste Zeit, endlich anzufangen!
Redebeitrag des Abgeordneten Gerd Lippold zum Antrag der Fraktion GRÜNE:
"Klimaziele von Paris in Sachsen jetzt umsetzen – Verantwortung für Kinder und Enkel ernst nehmen", Drs 6/17638
93. Sitzung des 6. Sächsischen Landtags, Freitag, 24. Mai, TOP 14
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir legen Ihnen heute einen Antrag vor, der ausdrücklich als dringliches Handlungspaket zu verstehen ist. Über die darin festgestellten Grundlagen, die aufgeführten Rahmensetzungen und die im Einzelnen geforderten Maßnahmen haben wir hier in den letzten Jahren wieder und wieder und wieder geredet.
Wir haben Ihnen das vorgerechnet, wir haben das allseits begründet. Es sind weitere Jahre ohne Handeln vergangen.
Beim Klimaschutz geht es aber nicht um ein Thema, wo sich durch Nichthandeln der Zeitraum für das Handeln einfach nach hinten verschiebt. Nein. Er verkürzt sich. Die Anpassungskurve wird steiler. Der notwendige Kurs wird härter. Wer nicht handelt, weil er niemandem wehtun möchte, der wird am Ende allen wehtun.
Es geht auch nicht um ein in der Ferne liegendes Zieldatum. Es geht um ein Emissionsbudget, das noch bleibt. Mit jedem Jahr, das sie später anfangen, die Emissionen pro Jahr um einen vorgegebenen Betrag bis auf Null runterzufahren, müssen sie ein Jahr früher damit fertig sein.
Das ist die brutale Wahrheit bei der Berechnung von Dreiecksflächen. Haben Sie alle mal gelernt. Lässt sich hier nicht durch Abstimmung ablehnen. Aber zu Bildung kommen wir später. Fazit: Mit jedem verbummelten Jahr verlieren wir zwei. Es wird höchste, allerhöchste Zeit, endlich anzufangen! Deshalb werde ich heute bei der Begründung der Forderungen des Antrags nicht erneut bei null beginnen. Heute geht es ums Ganze.
Da draußen vor dem Landtag waren heute viele, viele junge Menschen. Einige davon sitzen jetzt auch hier. Sie sind Teil von vielen Millionen in aller Welt, die heute gleichfalls demonstrieren. Unterstützt von ebenso vielen Menschen aus allen heute lebenden Generationen.
Sind die etwa auf den Straßen, meine Damen und Herren, weil Sie keine Ahnung hätten?
Muss denen erst der Ministerpräsident am 22. Juni erklären, dass sich die heute 16-Jährigen nach seiner Meinung zu gedulden hätten bis sie 36 seien – noch 20 Jahre – bis sich in Sachsen beim Klimaschutz irgendwas bewege lasse? Die letzten Tage müssen ihm doch die Augen geöffnet haben, auch vor dem kommunikativen Abgrund, auf den er sich dadurch mit seiner CDU zubewegt. Die Jugend ist da draußen, weil sie in der Schule aufgepasst hat, meine Damen und Herren.
Die haben nicht nur gelernt, dass 2 und 2 vier ist. Die haben auch gelernt, dass ein Topf mit Wasser, dem man Energie zuführt, sich erwärmt. Und warum das schneller geht, wenn man den Deckel drauf tut. Die können sogar ausrechnen, wie lange das dauert. Wie viele von uns hier hätten das eigentlich noch drauf?
Und genau deshalb sind die Forderungen dieser jungen Menschen an uns eben nicht irgendwelche Wunschvorstellungen, sondern Ergebnis ihrer Bildung. Diese Forderungen sind die Forderungen der Wissenschaft. Und zwar präzise. Jede einzelne. Das sage ich als Wissenschaftler. Es sind seit Jahren vorgebrachte Forderungen. Seit Jahren ignoriert. Und jetzt endlich soweit verstärkt, dass sie nicht mehr zu überhören sind. Es wird höchste Zeit, dass auch wir hier in diesem Landtag deutlich machen: wir hören zu. Und wir verstehen auch.
Es ist die Natur, die uns Grenzen setzt. Die verhandelt nicht darüber. Deshalb hat sich der in der Wissenschaft bestehende Konsens auch in einer völkerrechtlich verbindlichen Vereinbarung allen Ländern dieses Planeten manifestiert. Die feste Obergrenze unseres Emissionsbudgets als Konsequenz der definierten Temperaturobergrenze ist nicht verhandelbar. Sie steht da als feste Wand.
Wir fahren alle gemeinsam mit Vollgas auf diese Wand zu. Wir sind jetzt bei 415ppm CO2-Konzentration, von 280 ppm kommend. Das ist ein Anstieg von 45 Prozent. Diese 45 Prozent sind zu 100 Prozent durch Menschen gemacht. Das steht völlig außer Zweifel.
Bei 415ppm sind wir, bei etwa 450 ppm CO2-Konzentration steht die Wand. Dahinter beginnt unbekanntes Territorium. Dahinter verwandelt sich das Großexperiment mit dem Klimasystem in unserem Labor, dass zugleich der einzige Lebensraum für uns und alle und für die nach uns kommen ist, in das, was der weltweit renommierte Wissenschaftler Hans Joachim Schellnhuber einen kollektiven Suizidversuch nannte.
Was passiert dann? Nein, wir sterben nicht gleich aus. Und doch wird es ernst. Sehr ernst. Ein Beispiel: wir wissen alle, wie wichtig Trinkwasser ist. Wir geben jede Menge Geld dafür aus, die Versorgung mit sauberem Wasser zu sichern. Wer keins hat, der setzt alles in Bewegung, um welches zu bekommen. Vor allem sich selber. 450 ppm. Jenseits dieser Grenze kippt die Trinkwassernot für 500 Mio. Menschen in eine Trinkwassernot für 3,5 Mrd. Menschen. Man muss schon sehr, sehr naiv oder sehr, sehr dumm sein, wenn man glaubt, das hätte keine unmittelbaren Auswirkungen auf den Rest der Welt.
Die Wissenschaft ist sich sehr, sehr sicher, wenn sie warnt und mahnt: wenn ihr jetzt sofort bremst, dann könnt ihr noch mit quietschenden Bremsen den harten Aufprall verhindern. Fahrt ihr noch wenige Meter weiter, dann werdet Ihr den schmerzhaften Crash nicht mehr verhindern können. Denn wie sehr ihr auch bremst, diese Meter werden Euch am Ende fehlen.
Sie, meine Damen und Herren, wollen natürlich nicht aufprallen. Denn das tut weh. Sie wollen aber auch nicht bremsen. Also machen Sie, was sie politisch gewohnt sind. Sie beschließen mehrheitlich, dass sie nicht aufprallen werden und fahren ungebremst weiter geradeaus.
Wir sitzen alle gemeinsam in diesem Fahrzeug, das da in voller Fahrt auf eine Wand zurast. Am Steuer sitzen hier in Sachsen Sie, meine Damen und Herren von der Koalition. Denn Sie sind die, die den Auftrag haben zu handeln. Oder eben auch nicht.
Und auf dem Rücksitz melden sich jetzt die Kinder. Mama, Papa, seid Ihr verrückt – bremsen! Da vorn ist eine Wand! Und Sie so: Schaut in Eure Bücher, Kinder. Wir wollen für einen wunderbaren, letzten Moment den Fahrtwind im Haar genießen!
Können Sie da vielleicht verstehen, dass die nicht in ihre Bücher schauen? Dass die im Gegenteil alles tun, um irgendwie an die Bremse zu kommen?
Meine Damen und Herren, so kann’s nicht weitergehen und so wird’s nicht weitergehen. Uns allen läuft die Zeit davon. Und deshalb legen wir hier erneut ein Handlungspaket vor. Denn wenn wir uns mehrheitlich entscheiden, dann wird auch gehandelt. Wir 126 Abgeordnete sind in Sachsen die Menschen, die dafür die höchste Verantwortung auf ihre Schultern laden.
Und deshalb werden auch wir es in besonderem Maße sein, die sich der bohrenden Frage werden stellen müssen: Oma, Opa, wie konnte es soweit kommen? Habt Ihr den wirklich nichts davon gewusst?
Schlusswort:
Warum hört so eine große Koalition nicht auf die Wissenschaft? Weil Sie grundsätzlich nur nach solchen Lösungen suchen, die es Ihnen ermöglichen, irgendwie im Wesentlichen so weiter zu machen wie bisher.
Doch die Wissenschaft sagt Ihnen, dass es solche Lösungen nicht mehr gibt. Die Zeit für solche Lösungen ist längst vorbei und vertan. Und genau deshalb hören Sie nicht auf die Wissenschaft. Sie nennen fundierte Erkenntnis dann eine Meinung. Und stellen Ihre Meinung dagegen. Als ob Wahrheit nicht eine Frage von überprüfbaren Fakten sei, sondern mit Macht und Mehrheit einfach definierbar. Der Natur da draußen ist das völlig egal, meine Damen und Herren, was sie mehrheitlich als wahr definieren.
Die folgt nicht unseren, sondern ihren eigenen Gesetzen. Und wir haben nichts Besseres als unsere seit Jahrtausenden fortentwickelten Methoden der wissenschaftlichen Erkenntnis, um DIESE Gesetze und ihre Konsequenzen zu begreifen. Das hat uns weit, sehr weit gebracht. Wir sind das Ergebnis und die einstweilige Krone von 3,8 Milliarden Jahren Evolution. Und nun wird es höchste Zeit, dass wir uns auch so benehmen!
Was soll ich zusammenfassend zum Antrag sagen? Wir benennen die Wand, auf die wir zurasen. Wir erinnern an den Konsens, sich nicht umzubringen. Wir zeigen, wo die Bremsen sind. Und wir fordern Sie auf, diese endlich zu bedienen. Ein allererster Schritt dazu, wenigstens ein Zeichen, ist heute möglich. Stimmen Sie diesem Antrag zu.
Und wenn Sie angesichts einer heraufziehenden, wirklich existenzbedrohenden Krise weiterhin nicht in der Lage sind zu handeln, meine Damen und Herren, dann sind Sie in so einer Situation völlig fehl am Platz da am Steuer. Und diese Erkenntnis, die im Moment wie ein Lauffeuer um sich greift, wird die, die als Kinder, als Studierende, als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, als Eltern, als Großeltern da draußen jeden Tag lauter werden, mit uns gemeinsam in die Lage versetzen, Sie vom Steuer zu ziehen und hoffentlich gerade noch rechtzeitig zu tun, was längst hätte getan werden müssen.
Setzen Sie mit Ihrer Zustimmung ein Zeichen, dass Sie endlich verstehen. Setzen Sie ein Zeichen, dass sie handeln wollen. Der Kopf ist rund, meine Damen und Herren, damit das Denken ab und zu die Richtung wechseln kann. Ich habe in diesem hohen Haus noch niemanden mit einem Quader auf den Schultern gesehen.
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