Kallenbach: Verstehen Sie das nicht als Drohung, sondern als Angebot für die Diskussion über eine neue politische Kultur in Sachsen – sie ist dringend nötig!
Redemanuskript der Abgeordneten Gisela Kallenbach zur Aktuellen Debatte „20 Jahre nach dem Fall der Mauer – Sachsens erfolgreicher Weg in die Freiheit“ in der 4. Sitzung des Sächsischen Landtages am 12. November 2009 zum TOP 1
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
das Jubiläumsgedenken ist im Sächsischen Landtag angekommen – gut so;
Wir haben allen Grund, uns an den Herbst 1989 zu erinnern; Aller Grund zur Freude. Ich bin froh über 20 Jahre Leben in einem demokratischen Rechtsstaat, in dem nicht mehr staatliche Institutionen oder die Doktrin einer Einheitspartei und ihrer „Alliierten“ über meine Biografie oder die meiner Kinder entscheiden;
Allerdings: es reicht nicht, sich aller Jubel Jahre in wohlfeinen Reden zu üben und ansonsten den Mantel des Schweigens auszubreiten oder das Erbe der Friedlichen Revolution in Glasvitrinen zu konservieren. Ich bin in den letzten Jahren und insbesondere auch in den vergangenen Monaten in vielen Diskussionen, insbesondere an Schulen gewesen. Kenntnisstand erschreckend; gewiss ist es auch Bringschuld der Elternhäuser, noch mehr aber ist es ein klares Versagen der schulischen Lehrpläne. Um unserer Zukunft Willen ist es unverantwortlich zur Tagesordnung über zu gehen.
Was wissen die heute 20-Jährigen über die Unfreiheit, über die Ideologisierung des Alltags in der DDR, über die Erziehung zur Unwahrhaftigkeit? Über das zweizüngige Bildungssystem? Über Unterdrückung von eigenen Meinungen, von erzwungener Anpassung? Was wissen sie über die Ermutigung, die aus unseren Nachbarländern Polen, Ungarn, der CSR zu uns überschwappte? Warum verklären nicht wenige Eltern und Großeltern ihr Leben in der DDR?
Warum beschönigen Menschen ihr Agieren, auch ihr Versagen, ihre Resignation, ihre Mutlosigkeit? Schaffen wir als demokratisch legitimiertes Gremium die Voraussetzungen für die nötigen gesellschaftlichen Prozesse?
Der Mut, Rückrat und Zivilcourage der Tausenden, die im Herbst 1989 mit ihrem Freiheitswillen ein ganzes System zum Einsturz brachten, sind zu wertvoll als sie in den Nebelschwaden der Milchstraße verschwinden zu lassen oder in Selbstgefälligkeit zu verharren. Wer die Vergangenheit leugnet oder überspringen will, läuft Gefahr, sie zu wiederholen.
Um unserer Zukunft willen dürfen wir das nicht zulassen. Zukunft braucht Erinnerung – auch wenn sie schmerzlich ist – und Erinnerung kann nur mit einer Erinnerungskultur lebendig bleiben, die den heute nachwachsenden Generationen Zugang zu unseren und ihren Wurzeln eröffnet. Trotz aller Lobeshymnen auf die Entwicklung im Freistaat Sachsen: Umfragen offenbaren es und Fakten belegen es: die Einheit ist auch 20 Jahre „danach“ nicht vollendet; aller 10 Minuten zieht ein „Ossi“ gen Westen; die demografische Entwicklung schwebt als Damoklesschwert über uns und das gesellschaftliche Interesse der Menschen, die auch gerade in Sachsen vor 20 Jahren die Freiheit erstritten haben, nimmt rapide ab – ein Indiz – nicht unwichtig – die schlechte Wahlbeteiligung!
Ist es Resignation? „Die da oben“ machen doch wieder nur was sie wollen, meine Stimme zählt nicht. Wie steht es in Sachsen im Jahre 20 „danach“ um Beteiligungsrechte, um Bürgerrechte versus sogenannte Sicherheitspolitik, wie um den scheinbaren Gegensatz von Ökonomie und Ökologie?
Zukunft braucht Erinnerung – auch wenn sie schmerzlich ist – und Erinnerung kann nur mit einer Erinnerungskultur lebendig bleiben, die den heute nachwachsenden Generationen Zugang zu unseren und ihren Wurzeln eröffnet
Es würde dem neu gewählten Landtag gut zu Gesicht stehen, dem Wort Demokratie ihren eigentlichen Wortsinn zu entsprechen. Partizipation – das hat Solidarnocz in Polen erstritten, das war der wesentliche Inhalt der Charta 77 in CSR, das wollten die Menschen in Plauen, Leipzig und an zahlreichen Orten der DDR im Herbst 1989. Es wird höchste Zeit, das auch heute ernst zu nehmen.
Möchte noch Blick nach Europa richten: wie deutsche Einheit nicht wirklich hergestellt ist, ist auch europäische Einigung nicht abgeschlossen – ich empfehle dafür einen Blick auf Landkarte. Mitten in Europa gibt es ein Gebiet, das von den Mitgliedstaaten der EU eingeschlossen ist: die Länder des ehemaligen Jugoslawien. Als sich die Menschen in der DDR die Freiheit erkämpft haben, tobten in diesem Teil Europas blutige Kriege, ohne dass Westeuropa ein gemeinsames Konzept hatte und sich an den dortigen Menschen schuldig gemacht hat.
Ich appelliere an Sie als Meinungsbildnern in Ihren Parteien: lassen Sie die Menschen in Serbien, Kosovo, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und Albanien nicht wieder im Stich, sondern stimmen Sie für den baldmöglichsten Beitritt zur EU; nur in diesem Staatenverbund ist eine demokratische, friedliche und rechtsstaatliche Entwicklung in dieser Region – mitten in Europa -dauerhaft möglich.
Und an Innenminister Markus Ulbig gerichtet: Lassen Sie humanitäre Grundsätze gelten, wenn es um die Zwangsrückführung von geduldeten Migranten aus den gerade genannten Ländern geht. Versagen Sie den betroffenen Menschen nicht das EU-Recht auf Freizügigkeit ihres Wohnsitzes – ein Recht, dass bereits in den 80-er Jahren im Rahmen des KSZE-Prozesses erstritten wurde und das viele ehemalige DDR-Bürger/innen zu Recht in Anspruch genommen haben.
Ein letztes Fazit für meine Fraktion aus der Friedlichen Revolution und dem Mauerfall von 1989: „Nichts muss so bleiben wie es ist“. Verstehen Sie das nicht als Drohung sondern als Angebot für die Diskussion über eine neue politische Kultur in Sachsen – sie ist dringend nötig!