Miro Jennerjahn: Innenminister Ulbig darf die Debatte zur Neuordnung des Verfassungsschutzes nicht weiter verweigern

Rede von Miro Jennerjahn zum GRÜNEN-Antrag "Konsequenzen aus dem Bericht der Expertenkommission zur Neuordnung des Landesamtes für Verfassungsschutz" (Drs. 5/11383), 72. Sitzung des Sächsischen Landtages, 14. März 2013, TOP 8

– Es gilt das gesprochene Wort –
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Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

seit dem 20. Februar 2013 liegt uns der Bericht der von Innenminister Ulbig zum 1. August 2012 eingesetzten Expertenkommission vor mit dem sperrigen Titel "Untersuchung und Evaluierung der Arbeitsabläufe und –strukturen des Landesamtes für Verfassungsschutz Sachsen unter besonderer Betrachtung der Ereignisse im Zusammenhang mit dem sog. >Nationalsozialistischen Untergrund<".
 
Für eine inhaltliche Auseinandersetzung und Bewertung des Berichts ist es notwendig, sich noch einmal die Genese der Expertenkommission zu vergegenwärtigen.
 
Man muss es so hart sagen: Die Expertenkommission war keine freiwillige Einrichtung der Staatsregierung. Monatelang weigerte sich die Staatsregierung nach dem 4. November 2011 und dem Bekanntwerden der Verbrechen des Terrornetzwerks "Nationalsozialistischer Untergrund" eine unabhängige Kommission einzusetzen, die eine strukturierte Aufarbeitung der Fragen vornimmt, wie es sein kann, dass drei flüchtige Neonazis rund 14 Jahre lang unerkannt im Freistaat Sachsen untertauchen konnten, welches Wissen sächsische Behörden über das flüchtige Trio hatten und welche Versäumnisse es im Behördenhandeln gibt, des Trios habhaft zu werden.
 
Sachsen verweigerte sich dabei auch, gemeinsam mit dem Freistaat Thüringen eine solche Kommission einzurichten, obwohl von Thüringen ein entsprechendes Angebot vorlag. Stets lautete die Erklärung aus Sachsen, das Thema sei zu groß, um es von Sachsen aus zu bearbeiten. Ich erinnere an die Worte von Innenminister Ulbig in der 46. Sitzung des Sächsischen Landtags am 14. Dezember 2011: "Ein so komplexes Thema bedarf eben der Untersuchung durch ein unabhängiges Gremium auf Bundesebene. Alleingänge von einzelnen Ländern bringen uns bei diesem Thema nicht weiter".
 
Mittlerweile wissen wir, dass die Bund-Länder-Kommission, hinter der sich Innenminister Ulbig so gerne versteckt, diese Aufgabe nicht leisten kann. Sie hat nicht die Ressourcen, detailliert Wissensstände einzelner Bundesländer aufzuarbeiten und für die betroffenen Bundesländer nachzuzeichnen, welche Versäumnisse es in der Aufklärung des NSU gab. Das ist das Ergebnis eines Treffens der Bund-Länder-Kommission mit dem 3. Untersuchungsausschuss des Sächsischen Landtags.
 
Die Behauptung von Innenminister Ulbig, ein einzelnes Bundesland könne die Aufklärung nicht leisten, verwundert noch unter einem anderen Blickwinkel. In Thüringen war dies möglich. Das sog. Schäfer-Gutachten liegt seit Monaten vor und ist nach wie vor ein sehr beeindruckendes Dokument, was die Analyse von Fehlern im Handeln thüringischer Behörden und der Aufklärung des NSU betrifft.
 
Aber, in Sachsen ticken die Uhren bekanntlich anders, hier wurde eine Expertenkommission erst eingerichtet, als Akten im Landesamt für Verfassungsschutz zu einer G10-Maßnahme aus dem Jahr 1998 auftauchten, die nirgendwo registriert waren und etliche Jahre vergessen in einem Panzerschrank im LfV schlummerten.
 
Aufgrund dieses Vorgangs verkündete Innenminister Ulbig der verblüfften Öffentlichkeit hier in diesem Hohen Hause am 11. Juli 2012, den Rücktritt des LfV-Präsidenten Reinhard Boos und seine Absicht einen Experten einzusetzen, der sich mit der Arbeit des LfV befassen solle.
 
Der Presse durften wir dann die Zusammensetzung der Kommission entnehmen, den konkreten Arbeitsauftrag der Kommission erfuhren wir erst nach der Vorlage des Berichts. Auf direkte Nachfrage durch einen Antrag der LINKEN verweigerte der Innenminister diese Auskunft noch hier im Plenum am 31. Januar dieses Jahres.
 
Zu aller erst fallen die Grenzen des Berichts auf. Die sind nicht der Kommission anzulasten, sondern durch den Arbeitsauftrag seitens der Staatsregierung vorgegeben. Anders als in Thüringen hat Sachsen darauf verzichtet, eine umfassende Aufarbeitung vorzunehmen, inwieweit das LfV aufgrund eigener Erkenntnisse den Aufenthaltsort des Trios hätte ermitteln können und inwieweit eine Zusammenarbeit mit der Polizei und anderen Behörden bei der Verfolgung des Trios unterlassen wurde. An die Qualität des thüringischen Schäfer-Gutachtens kommt der Bericht der sächsischen Expertenkommission daher bei Weitem nicht heran.
 
Das Fazit lautet: Die sächsische Staatsregierung hat bis heute keinen eigenen Beitrag zur Aufklärung der Fehler sächsischer Behörden im Umgang mit dem NSU geleistet. Das ist beschämend. Es reicht nicht aus, sich permanent hinter anderen Strukturen zu verstecken und zu behaupten, der eigene Beitrag bestünde in Zuarbeiten. Die Staatsregierung hat also ein weiteres Mal die Chance vertan, verloren gegangenes Vertrauen in die Arbeit sächsischer Behörden durch eine angemessene Aufarbeitung zurückzugewinnen.
 
Jetzt liegt der Bericht vor und es stellt sich die Frage: und nun?
 
Was passiert jetzt mit dem Bericht? Wird er in einer Schublade versenkt, oder sollen die Empfehlungen des Berichts umgesetzt werden, wenn ja in welchem Umfang bzw. welche Empfehlungen sollen aus welchen Gründen nicht umgesetzt werden?
 
Auch wenn der Bericht deutliche Grenzen hat und manche Dinge durchaus kurios sind, habe ich ihn mit Interesse gelesen. Ich stelle mir die Frage, ob die Kommission tatsächlich so frei von Einflussnahmen gearbeitet hat, wenn bereits im Vorwort des Berichts die Schlussfolgerung präsentiert wird, das LfV sei grundsätzlich eine gut aufgestellte und geführte Behörde und im Anschluss wird eine Mängelliste über die Arbeitsweise des LfV in allen zentralen Bereichen dargelegt, die sich gewaschen hat.
 
Aber, ich will nicht verhehlen, dass er Abschlussbericht durchaus auch seine erhellenden Momente hat. Ich möchte drei Aspekte hervorheben.
 
1. Mit Interesse gelesen habe ich die Schilderung, dass zwar nach der Entdeckung des NSU eine Projektgruppe im LfV eingerichtet wurde, die vorhandenes Aktenmaterial zu Bönhardt, Mundlos und Zschäpe auswerten sollte und diese Projektgruppe über Fehlseiten gestolpert ist. Spannend ist dann allerdings folgende Aussage im Bericht: "Eine Anweisung des damaligen Präsidenten im LfV Sachsen, wegen Fehlblättern in den Akten nach diesen fehlenden Dokumenten oder nach weiteren Unterlagen mit NSU-Bezug zu suchen, gab es nicht. Eine dienstliche Weisung zum Durchsuchen aller Aktenbestände in den Dienstzimmern einschließlich der VS-Verwahrgelasse erging erst nach dem Auffinden der Aktenmappe am 10. Juli 2012." (S. 27f.)
 
Anders ausgedrückt, eine systematische Auseinandersetzung und Aufarbeitung zum Thema NSU hat im LfV nicht stattgefunden und dementsprechend haben auch keine vollständigen Aktenlieferungen an die Parlamentarische Kontrollkommission und die Untersuchungsausschüsse stattgefunden.
 
2. Verheerend ist auch die Bilanz zur V-Leute-Führung, die der Bericht zieht. Ein nachvollziehbares Führungsinstrument zur Bewertung der Qualität, Notwendigkeit und Effizienz von Quellen komme bislang im LfV nicht zum Einsatz, die Expertenkommission konnte nicht erkennen, dass die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit V-Leuten in einzelnen Beobachtungsobjekten regelmäßig kritisch hinterfragt werde und der Vollzug der Dienstvorschriften nicht durchweg zufriedenstellend sei.
 
Leider wird die eigentlich relevante Frage nicht gestellt: Welchen Sinn haben V-Leute tatsächlich? Angesichts der Missbrauchsanfälligkeit dieses Systems und der permanenten Frage, wer eigentlich wen steuert, das LfV die V-Leute, oder die V-Leute das LfV, ist der Einsatz von V-Leuten aus unserer Sicht hinfällig. In vielen Fällen ist es offensichtlich, dass der Staat durch die V-Leute überhaupt erst einen Beitrag zur Stabilisierung rechtsextremer Strukturen geleistet hat.
 
3. Der Bericht stellt fest, dass Zwischenberichte zu einzelnen Beobachtungsobjekten in der Regel nur dann vorhanden waren, wenn Dritte Informationen zu Beobachtungsobjekten verlangten oder eine inhaltliche Abstimmung mit Dritten, z.B. im Rahmen von Gremienarbeit, notwendig war. Ein regelmäßiges internes Berichtswesen gibt es hingegen nicht.
 
Da frage ich mich dann natürlich schon, wie das LfV einen systematischen Erkenntnisfortschritt gewährleisten möchte.
Es gäbe noch viel zu sagen, bspw. zum Umgang mit grundrechtsrelevanten Eingriffen wie G10-Maßnahmen, zur Kooperation mit anderen Behörden, zum Thema Fachaufsicht und vieles mehr.
 
Gegen eines verwahre ich mich jedoch ausdrücklich. Der Vorschlag, das LfV mit Bildungsaufgaben zu betrauen ist inakzeptabel. Das LfV hat einen Informationsauftrag, keinen Bildungsauftrag. Die Bildungsarbeit sollte man dort belassen, wo sie hingehört und auch viel besser geleistet werden kann, bei den Bildungsträgern und den vielen kompetenten zivilgesellschaftlichen Initiativen.
 
Es sind also viele Fragen offen, insbesondere die Frage, was mit dem Bericht und dessen Empfehlungen passiert. Innenminister Ulbig muss dazu auch gegenüber dem Landtag Farbe bekennen und darf die Debatte nicht weiter verweigern. Wir wollen eine solche Debatte, daher bitte ich um Zustimmung zu unserem Antrag.

» Der Antrag im Wortlaut (Drs. 5/11383)

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