Miro Jennerjahn: Keine Hoffnung auf eigene Aufklärungsinstrumente vonseiten der Staatsregierung zu Fehlern und Versäumnissen bei der Suche nach dem NSU-Trio oder Bekämpfung neonazistischer Bestrebungen

Redebeitrag des Abgeordneten Miro Jennerjahn zum Abschlussbericht sowie abweichende Berichte des 3. Untersuchungsausschusses
"Neonazistische Terrornetzwerke in Sachsen" (Drs 5/14688)"
100. Sitzung des Sächsischen Landtages, 09. Juli 2014, TOP 6

– Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Staatsregierung hat stets das Bild gemalt, sächsische Behörden hätten im Grunde alles richtig gemacht und die Schuld ist in Thüringen zu suchen, weil die dortigen Behörden nicht ausreichend informiert hätten. Nach etwas mehr als zwei Jahren Arbeit des Untersuchungsausschusses ist klar: Dieses Bild ist nicht aufrechtzuerhalten. Ich will das an einigen Beispielen noch einmal illustrieren.
1. Sächsische Behörden hätten auf Grund eigener Zuständigkeiten nach dem Trio fanden müssen. Das gilt für den Verfassungsschutz ebenso wie für die Polizei. Nach dem sächsischen Verfassungsschutzgesetz lag die Zuständigkeit für die Suche nach dem Trio beim Sächsischen Verfassungsschutz. Alle Behörden waren sich sicher, dass das Trio ist in Sachsen untergetaucht ist. Die Übernahme wurde aber durch das LfV Sachsen – nach allem was wir wissen – abgelehnt.
2. Das LfV Sachsen wusste spätestens seit dem 17.9.1998, dass das Trio auf der Suche nach Waffen sei. Diese Informationen stammten von einer Quelle des LfV Brandenburg. Diese Information hat das LfV nicht an die sächsische Polizei weitergegeben. In diesem Punkt sehe ich ein zentrales Versagen des LfV. Ich bin mir sicher, mit diesen Informationen hätte die sächsische Polizei ganz andere und vor allem eigene Maßnahmen zum Auffinden des Trios ergriffen.
3. Auch eine weitere Einschätzung des LfV wurde der sächsischen Polizei nicht mitgeteilt. Im Jahr 2000 begründete das LfV eine G10-Maßnahme gegen das Trio und Unterstützer mit folgenden Worten: "Das Vorgehen der Gruppe ähnelt der Strategie terroristischer Gruppen, die durch Arbeitsteilung einen gemeinsamen Zweck verfolgen", "Zweck der Vereinigung ist, schwere Straftaten zu begehen". Außerdem sei bei dem Trio "eine deutliche Steigerung der Intensität bis hin zu schwersten Straftaten feststellbar".
Bei den Vernehmungen im Untersuchungsausschuss sagten die Zeugen Boos und Vahrenhold demgegenüber aus, das LfV hätte zum damaligen Zeitpunkt "keine" bzw. "keinerlei" Anhaltspunkte für die Existenz rechtsterroristischer Gruppierungen in Sachsen gehabt. Wegen dieser Aussage habe ich Strafanzeige wegen des Verdachts der falschen uneidlichen Aussage erstattet. Möglicherweise liegt aber auch eine bewusste Täuschung der G10-Kommission vor, die über die Maßnahme zu entscheiden hatte.
4. Dass es im Zusammenhang mit der Aufklärung der Verbrechen des NSU bundesweit zu Aktenvernichtungen gekommen ist, ist an sich schon ein unglaubliches Phänomen. Die sächsische Staatsregierung betont in ihrer Stellungnahme zum Ergebnis des Untersuchungsausschusses, dass der Datenschutzbeauftragte, der ehemalige Präsident des LfV, Boos, und die Harmskommission keinerlei Anhaltspunkte dafür gefunden hätten, das Akten mit NSU-Bezug vernichtet wurden.
Eines möchte ich an dieser Stelle klarstellen: Bis auf diejenigen, die die Akten vernichtet haben, weiß keiner, was in den vernichteten Akten stand. Und sich auf den Täter als Zeugen zu berufen, dass macht noch nicht mal ein Jurastudent im ersten Semester. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Bis heute können wir nicht ausschließen, dass nach dem 4. November 2011 Akten mit NSU-Bezug durch das LfV vernichtet wurden.
Es ist deutlich geworden, dass sächsische Behörden ein erhebliches Maß an Verantwortung dafür tragen, dass der sogenannte NSU nicht früher enttarnt und an seinen Verbrechen gehindert wurde. Das ist die Verantwortung, der wir uns gemeinsam stellen müssen.
Und damit möchte ich noch auf etwas anderes eingehen. Als der Bundestagsuntersuchungsausschuss im vergangenen September den Abschlussbericht zur nationalsozialistischen Terrorgruppe vorgelegt und beraten hat, wurde – insbesondere in den einleitenden Worten von Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert – das tief empfundene Mitgefühl mit den zehn Mordopfern und ihre Angehörigen deutlich. Dem möchte auch ich noch einmal Ausdruck verleihen.
Deutlich wurde im Bundestag aber auch der unbedingte Wille, über alle Parteigrenzen hinweg aufzuklären, warum es deutschen Behörden nicht gelungen ist, die über Jahre geplanten und ausgeführten Verbrechen des NSU rechtzeitig aufzuklären und zu verhindern. Dr. Lammert wünschte sich, "dass die ernsthafte und sachliche Aufklärungsarbeit dieses Ausschusses den Opfern und den Angehörigen das Gefühl vermittelt, in ihrer Trauer und ihrem Leid nicht allein zu sein".
Ich bedauere außerordentlich, dass es in Sachsen nicht möglich war, diesen großen demokratischen Konsens im Sinne der Aufklärung herzustellen. Sie konnten sich nicht überwinden, gemeinsam mit den demokratischen Oppositionsparteien dieses Landtages einen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung von Fehlern und Versäumnissen sächsischer Behörden einzusetzen. Das hat sich in der Arbeit des Ausschusses sehr stark bemerkbar gemacht. Wir sind deutlich langsamer vorangekommen, als die Untersuchungsausschüsse im Bundestag, in Thüringen und in Bayern mit der Konsequenz, dass ein neuerlicher Untersuchungsausschuss in der nächsten Legislaturperiode notwendig wird.
Herr Ministerpräsident, Herr Innenminister, Herr Justizminister, wie wichtig wäre es für die (Mord-)Opfer der neonazistischen Terrorgruppe gewesen, wenn Sachsen – wo sich das Terrortrio mithilfe eines polizei- und verfassungsschutzbekannten Netzwerkes über 14 Jahre lang unbehelligt hat aufhalten können – Vorreiter in der Aufklärungsarbeit gewesen wäre!
Herr Tillich, Sie haben es nach dem Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds nicht geschafft, in diesem Hohen Hause das Wort an die Opfer und deren Angehörige zur richten. Von einer Initiative zur Aufarbeitung etwaiger Fehler und Versäumnisse sächsischer Behörden ganz zu schweigen. Im Gegenteil, Ihnen ging es in erster Linie um das Image Sachsens:
"Das ist nicht Ausdruck dessen, was Sachsen eigentlich bedeutet. Es schmälert die Leistung der Menschen. Das ist unfair! Wir Sachsen werden für etwas verantwortlich gemacht, wo wir das Gegenteil unter Beweis gestellt haben, z. B. mit vielen Initiativen."
Das sagten Sie im Dezember 2011 in einem Interview zum Terrortrio aus Zwickau. Auch in Ihrer Regierungserklärung heute, ging es Ihnen nur um das Image von Sachsen. Hier geht es aber nicht um das Image, hier geht es um Menschenleben!
Herr Ulbig, Sie sind für Ihren Ministerpräsidenten eingesprungen, haben hier im Landtag, aber auch in Zwickau gesprochen, haben versucht, Fragen zu beantworten. Aber Sie sind letztlich passiv geblieben. Ernsthafte eigenständige Aufklärungsbemühungen seitens der Staatsregierung, wie es sie z.B. in Thüringen gegeben hat, waren hier nicht zu verzeichnen.
Der im Juni 2012 vom Innenminister vorgelegte "Vorläufige Abschlussbericht zum Fallkomplex ‚Nationalsozialistischer Untergrund’" wurde nie zu einem "Abschlussbericht". Er wurde auch nach dem Auffinden von Unterlagen im LfV nie ergänzt. Es wurde schlicht nicht weiter aufgearbeitet.
Sie kennen alle den berühmten Satz von Immanuel Kant: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Mit Blick auf den NSU und die Staatsregierung muss man wohl sagen: "Aufklärung ist der Ausgang der Staatsregierung aus ihrer selbstverschuldeten Unwissenheit". Oder ist es gewollte Unwissenheit?
Auch wenn es hart klingen mag, genau diese Haltung – Verantwortung für neonazistisches Wirken und Denken in Sachsen von sich zu schieben, neonazistische Umtriebe allenfalls als Imageproblem zu sehen, "rechtsextrem" reflexhaft immer in einem Atemzug mit "linksextrem" zu nennen und Fehler bei Behörden außerhalb Sachsens zu suchen, auch um möglicherweise von eigenen Fehlern abzulenken – genau diese Haltung in Sachsen ist es, die es dem NSU-Trio leicht gemacht hat, hier unterzutauchen.
Dass diese oder die nächste Staatsregierung eigene Aufklärungsinstrumente zu den Fehlern und Versäumnissen sächsischer Behörden bei der Suche nach dem Trio oder bei der Bekämpfung neonazistischer Bestrebungen einsetzt, wage ich nicht zu hoffen.
Denn: Die Staatsregierung schreibt in ihrer Stellungnahme zum Ergebnis der Beweisaufnahme des NSU-Untersuchungsausschusses, dass mit den eingeleiteten Maßnahmen der Sächsischen Staatsregierung, der verantwortlichen Stellen anderer Länder und des Bundes "die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, dass sich ein Phänomen wie der ‚Nationalsozialistische Untergrund‘ nach menschlichem Ermessen künftig nicht wiederholen wird".
Na dann ist ja alles gut.
Nein, ist es nicht! Es kann nicht so weitergehen. Wir brauchen in diesem Lande ein Umdenken: Rassismus muss endlich als Problem ernst genommen werden. Ihm ist in allen gesellschaftlichen Bereichen entgegenzutreten. Dazu gehört die Aufklärung aller Straftaten, die mit rassistischen Motiven begangen wurden. Staatsanwaltschaft und Polizei müssen sich entsprechend spezialisieren. Das LfV hat in dieser Hinsicht komplett versagt. Es ist abzuschaffen. Dazu gehört aber auch, Rassismus in der Mitte der Gesellschaft zu erkennen und zu bekämpfen. Das muss unsere oberstes Ziel sein und zu diesem Zweck müssen zivilgesellschaftliche Initiativen und bürgerschaftliches Engagement – ohne Extremismusklausel – gefördert und unterstützt werden.