Miro Jennerjahn: Rechte Gewalttaten müssen aufgedeckt werden
Redebeitrag des Abgeordneten Miro Jennerjahn zum GRÜNEN-Antrag ‚Kultur des Wegschauens in Sachsen beenden – rechtsextremistische Tatmotivationen aufdecken‘ (Drs 5/13866)
92. Sitzung des Sächsischen Landtages, 12. März 2014, TOP 13
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
jüngst hat die RAA, die Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt, ihre Statistik für das Jahr 2013 vorgelegt. Demnach hat es im Jahr 2013 223 rechtsmotivierte und rassistische Angriffe im Freistaat Sachsen gegeben, von denen 319 Menschen direkt betroffen waren. Das sind dramatische Zahlen, insbesondere, wenn wir dagegen halten, dass es im Jahr 2012 noch 155 Angriffe waren. Das ist ein Anstieg von rund 45 Prozent.
Rechte Gewalt, so der traurige Befund, ist also alltäglich in Sachsen und da sind wir noch nicht mal bei der Vielzahl anderer rechtsmotivierter Straftaten angelang, wie Volksverhetzung, Verherrlichung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, illegaler Waffenbesitz und dergleichen mehr.
Seit Jahren gibt es aber auch das Phänomen, dass die offiziellen Statistiken deutlich weniger rechtsextreme Straftaten ausweisen, als sie von unabhängigen Stellen wie der RAA registriert werden. Zum Vergleich: Während die RAA wie gesagt 2012 155 rechtsmotivierte Angriffe ausweist, sind in der Polizeilichen Kriminalstatistik im Bereich der politisch motivierten Kriminalität rechts lediglich 58 Fälle registriert.
Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Zum einen gibt es das weitverbreitete Phänomen, dass rechte Gewalttaten nicht zur Anzeige gebracht werden, sei es aus Angst, sei es aus der Einstellung heraus, dass das ohnehin nichts bringe.
Es gibt aber auch ein gerütteltes Maß an Misstrauen in staatliche Behörden, nicht wenige, die Opfer rechter Gewalt werden, haben auch schon negative Erfahrungen mit der Polizei gemacht.
Und nicht zuletzt müssen rechtsmotivierte Straftaten von den aufnehmenden Beamten natürlich auch als solche erkannt werden. Es ist also zum einen eine Frage der Sensibilität und bisweilen auch, ob Behörden das Problem überhaupt sehen wollen und ernst nehmen.
Gerade im 3. Untersuchungsausschuss zu rechtsterroristischen Netzwerken in Sachsen können wir das ja in den Zeugenvernehmungen beobachten. Da tauchen drei Neonazis, die wegen Sprengstoffdelikten per Haftbefehl gesucht werden, unter. Es liegen Hinweise vor, dass sie in Sachsen untergetaucht sind und sächsische Behörden betrachten das dann nicht etwa als sächsische Angelegenheit, sondern sind bis heute der Meinung, sie seien nicht zuständig gewesen, weil es ein thüringisches Problem sei und man selbst müsse da nur mal an der ein oder anderen Stelle eine Zuarbeit machen.
Ich selbst habe mangelnde Sensibilität von Behörden mehrfach erleben müssen zu meiner Zeit, als ich noch im Netzwerk für Demokratische Kultur in Wurzen gearbeitet habe. Da findet ein rechter Übergriff auf den Verein oder Vereinsmitglieder statt, und die offiziellen Polizeimeldungen und Presseberichte sprechen dann von „Auseinandersetzungen zwischen rechten und linken Jugendlichen“, gerade so, als hätten die Opfer eine Mitschuld am Geschehen.
Das ist fatal und unter keinen Umständen zu rechtfertigen, nach meinem Eindruck aber leider immer noch gang und gäbe.
Wir müssen uns immer wieder klar machen, dass rechte Straftaten immer auch Botschaftstaten sind, mit denen nicht nur die direkt Betroffenen angesprochen werden, sondern auch alle anderen, die in das Opferbild der rechten Szene passen, nach dem Motto: „Wir kriegen euch!“
Und genau an der Stelle gibt es allzu oft noch ein Wahrnehmungsdefizit, werden diese Botschaften in der behördlichen Aufarbeitung nicht erkannt. Allerdings – auch das gehört zur Wahrheit dazu – hatten wir in Sachsen allzu lange eine politische Großwetterlage, die das nicht sehen und nicht sehen wollen begünstigt hat.
Ich erinnere noch einmal an die Äußerungen des ehemaligen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf aus dem September 2000. Herr Biedenkopf war damals der Meinung, die Sachsen seien „völlig immun gegenüber den rechtsradikalen Versuchungen. In Sachsen haben noch keine Häuser gebrannt, es ist auch noch nie jemand umgekommen.“
Diese Aussage ist in mehrfacher Hinsicht perfide, weil sie offenkundig falsch ist. Sie war ein Schlag ins Gesicht der vielen, vielen Opfer, die es zu dem Zeitpunkt schon gegeben hatte. Ich erinnere nur an die rassistischen Ausschreitungen in Hoyerswerda aus dem September 1991. Und ich erinnere daran, dass zum Zeitpunkt der Äußerungen von Ministerpräsident Biedenkopf in Sachsen bereits mindestens zehn Menschen durch rechtsextreme Gewalt ihr Leben verloren hatten.
Glaubt hier wirklich jemand, dass eine solche Ansage des Ministerpräsidenten keine Auswirkungen auf Behördenhandeln hat und den Willen, das Problem Rechtsextremismus ernst zu nehmen?
Es sind genau diese Fehler und Versäumnisse, die uns heute vor eine immense Herausforderung stellen, das tatsächliche Ausmaß rechter Strukturen und Straftaten aufzuarbeiten.
Ich will dabei gar nicht verhehlen, dass sich die Zeiten seitdem zum Glück auch ein Stück weit zum besseren gewendet haben. Das Thema Rechtsextremismus im Allgemeinen und rechte Gewalt im Besonderen ist in der Öffentlichkeit deutlich präsenter als noch vor zehn Jahren. Das liegt nicht zuletzt an der Selbstenttarnung des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“.
Und auch in Behördenkreisen wie z. B. bei der Polizei scheint mir, dass mehr Interesse am Thema da ist als in der Vergangenheit. Ich war kürzlich, wie schon im Jahr 2013, mit einer Veranstaltungsreihe unterwegs, die sich mit dem Thema Neonazi-Konzerte in Sachsen beschäftigt. Im Rahmen dessen wurde auch der Film „Blut muss fließen“ gezeigt, der in relevanten Teilen auf mit versteckter Kamera gedrehten Aufnahmen von Neonazi-Konzerten basiert. Ich habe da die positive Erfahrung gemacht, dass wir nahezu in jedem Ort, in dem wir waren, von Polizeibeamten angesprochen wurden, ob der Film nicht auch mal zu Schulungszwecken in Polizeikreisen gezeigt werden könnte.
Nun ist es nicht Aufgabe der GRÜNEN Landtagsfraktion, Fortbildungen für Polizeibedienstete durchzuführen. Gleichwohl finde ich es ermutigend, dass offenkundig Interesse da ist, sich fundiert mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ich habe das zum Anlass genommen, Landespolizeipräsident Rainer Kann und Bernd Merbitz als Leiter des Operativen Abwehrzentrums anzuschreiben und darauf aufmerksam zu machen, dass es dieses Interesse gibt. Wir werden sehen, ob diese Anregung aufgegriffen wird.
Aber, neben dieser positiven Entwicklung ist auch anzumerken, dass bei der Staatsregierung deutlich weniger Bewegung erkennbar ist. Bis heute verweigert sie eine fundierte Aufarbeitung des Behördenversagens im Umgang mit dem NSU. Bis heute ist sie nicht gewillt, sich fundiert mit zentralen Strukturen der extremen Rechten zu beschäftigen. Ich verweise dafür noch einmal auf die Nichtantwort der Staatsregierung auf den Antrag “Unterbindung des Wirkens von Strukturen von ‘Blood & Honour’ und der ‘Hammerskin Nation’ in Sachsen sowie deren Unterstützernetzwerke”, den die Kolleginnen und Kollegen der LINKEN im Februar 2012 eingereicht hatten. Und ich verweise dafür auf die mehr als peinlichen Antworten der Staatsregierung auf die Große Anfrage der LINKEN mit dem Titel „Strukturen von ‘Blood & Honour’ und der ‘Hammerskin Nation’ in Sachsen sowie deren Unterstützernetzwerke“. All das war schon Gegenstand der parlamentarischen Befassung.
Wir stehen also in Sachsen in der Aufarbeitung dieser Versäumnisse im Umgang mit dem Thema Rechtsextremismus nach wie vor am Anfang. Einen notwendigen Schritt, den ich sehr begrüße, haben die Innenminister unternommen: Ungeklärte Mord- und Totschlagsdelikte noch einmal rückwirkend auf eine mögliche rechte Tatmotivation hin zu überprüfen.
Das ist wichtig und richtig, reicht aber nicht.
Mehrere Dinge bereiten uns Sorgen:
1. Die gemeldeten Fallzahlen der einzelnen Bundesländer sind höchst unterschiedlich. Sachsen hat nach Auskunft des Innenministers 190 Altfälle überprüft und davon zwei als möglicherweise rechtsmotiviertes Tötungsdelikt an das Bundeskriminalamt übergeben. Zum Vergleich: Sachsen-Anhalt hat 70 Fälle überprüft und davon 28 an das BKA übergeben. Baden-Württemberg hat sogar 209 Altfälle gemeldet.
Diese breite Streuung wirft natürlich die Frage auf, ob überall mit dem gleichen Maß gemessen wird. Gerade deshalb ist es wichtig, an der Stelle uneingeschränkte Transparenz herzustellen, nach welchen Kriterien konkret eine Zuordnung der überprüften Tötungsdelikte als möglicherweise rechtsmotiviert erfolgt ist oder eben nicht erfolgt ist. Nur so kann auch von unabhängiger Seite eine Einschätzung getroffen werden, ob hier korrekt gearbeitet wurde oder nicht.
Ich möchte an dieser Stelle auf das positive Beispiel Brandenburgs verweisen. Dort hat man sich darauf verständigt, die Zahl möglicher Todesopfer in Brandenburg seit 1990 wissenschaftlich unabhängig untersuchen zu lassen und damit das Moses-Mendelssohn-Zentrum der Universität Potsdam betraut. Ein Schritt, den ich auch für Sachsen begrüßen würde.
2. Die nun rückwirkend auf eine mögliche rechte Tatmotivation überprüften Deliktarten reichen nicht aus. Nicht zuletzt der NSU hat ja gezeigt, wie breit das Spektrum möglicher rechtsmotivierter Straftaten ist. Das gilt es noch einmal aufzuarbeiten. Da reden wir beispielsweise über Straftaten wie Körperverletzung mit Todesfolge und da sprechen wir über schwere Raubdelikte wie Banküberfälle.
Uns ist sehr bewusst, dass mit unseren Forderungen ein erheblicher Aufwand verbunden ist. Gleichwohl sind wir der Meinung, dass dieser Prozess Stück für Stück in Gang gebracht und abgearbeitet werden muss. Die staatlichen Behörden sind hier in einer Bringepflicht, daran mitzuwirken, dass das tatsächliche Ausmaß rechter Straftaten in Sachsen endlich sichtbar wird.
Das sind wir den Opfern schuldig.
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