Miro Jennerjahn: Grünes Bildungsfreistellungsgesetz stärkt Arbeitnehmer und unterstützt Unternehmen

Mit unserem Entwurf für ein Bildungsfreistellungsgesetz werden die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich gestärkt, ohne die Bedürfnisse sächsischer Unternehmen zu ignorieren
Redebeitrag des Abgeordneten Miro Jennerjahn zum Gesetzentwurf der GRÜNEN-Fraktion „Gesetz über dem Anspruch auf Bildungsfreistellung im Freistaat Sachsen (Sächs. Bildungsfreistellungsgesetz – SächsBFG)“ (Drs. 5/6823) in der 40. Sitzung des Sächsischen Landtages, 14.09., TOP 6

Es gilt das gesprochene Wort!
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Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
„Wer nichts im Boden hat, der muss was in der Birne haben.“
Dieses Zitat des CDU-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Bosbach bringt auf den Punkt, warum wir ein Bildungsfreistellungsgesetz brauchen.
Natürlich freuen wir GRÜNE uns, wenn Unternehmen die Qualifizierung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst in die Hand nehmen und als entscheidenden Wettbewerbsfaktor ansehen. Ich bin mir sicher, jeder hier in diesem Hohen Hause könnte da auch positive Beispiele nennen. Die Frage ist jedoch, ob wir uns angesichts dessen beruhigt zurück lehnen dürfen, oder ob es einer grundsätzlicheren Betrachtung bedarf.
Wir leben in einem rohstoffarmen Land und sind auf die Potentiale unserer Menschen angewiesen. Fachkräfteengpässe sind schon heute spürbar und bremsen das Wirtschaftswachstum. Die demographische Entwicklung verschärft die Situation. Die Herausforderung lautet: Nachwuchs knapper – Belegschaften älter!
Lebenslanges Lernen ist immer weniger Schlagwort und immer mehr Realität, wenn es darum geht Beschäftigungs- und Innovationsfähigkeit sicher zu stellen, zumal sich die Anforderungen im Beruf und im gesellschaftlichen Leben rasant wandeln. Produktlebenszyklen werden aufgrund neuer Technologien immer kürzer. Die zunehmende Internationalisierung erfordert zunehmend interkulturelle Kompetenzen. Und die Wenigsten, die heute ins Berufsleben einsteigen, können sich darauf verlassen, dass sie in fortgeschrittenem Alter noch im gleichen Beruf tätig sind. Vor diesem Hintergrund reicht es nicht aus, Fortbildungen einzig vom Wohlwollen des Arbeitgebers abhängig zu machen, hier braucht es einen Rechtsanspruch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Und auch die verfügbaren Zahlen deuten darauf hin, dass es nicht reicht, sich auf die Selbstorganisation von Weiterbildungsmaßnahmen in den Unternehmen zu verlassen. Die Ergebnisse des Berichtssystems Weiterbildung deuten darauf hin, dass der Anteil der Beschäftigten mit Teilnahme an beruflicher Weiterbildung in den letzten Jahren gesunken ist. Vor allem bei Älteren sind Weiterbildungsteilnahme und –förderung auf unterdurchschnittlich niedrigem Niveau. Auch Teilzeitbeschäftigte mit geringem Stundenumfang bzw. geringfügig Beschäftigte sowie niedrig qualifizierte Arbeitnehmer und Leiharbeitnehmer nehmen viel seltener an beruflicher Weiterbildung teil als der Durchschnitt.
Ein weiterer Fakt ist, dass die Teilnahmequote an Weiterbildung insgesamt bei Erwerbstätigen in großen Betrieben deutlich höher als in Kleinbetrieben ist. Der Unterschied liegt bei 21 Prozentpunkten, d.h. in Großbetrieben nehmen 47 Prozent der Beschäftigten an Weiterbildungsmaßnahmen teil, in Kleinbetrieben sind es gerade einmal 26 Prozent (Quelle: Berichtssystem Weiterbildung IX des Bundesministeriums für Bildung und Forschung). Da wir in Sachsen vorwiegend kleine und mittlere Unternehmen haben, müssen wir an dieser Stelle gezielt gegensteuern.
Ein Baustein dazu ist unser Entwurf eines Sächsischen Bildungsfreistellungsgesetzes. Und ich will auch gleich dazu sagen: Weitere Maßnahmen sind dringend geboten. Ein Schritt in dieser Richtung können tatsächlich die von der Staatsregierung eingeführten Weiterbildungsschecks sein. Allerdings zäumen Sie das Pferd von hinten auf. Was nützen Weiterbildungsschecks einem Arbeitnehmer, wenn der Arbeitgeber die Teilnahme an einer Weiterbildungsveranstaltung ohne weiteres verhindern kann? Unser Gesetzentwurf schafft also die Voraussetzungen, damit das System der Weiterbildungsschecks richtig greifen kann.
Mit dem vorliegenden Entwurf sollen die Beschäftigten im Freistaat Sachsen erstmals gegenüber ihrem Arbeitgeber einen Rechtsanspruch auf Freistellung von der Arbeit unter Fortzahlung eines Arbeitsentgeltes für zehn Arbeitstage in zwei aufeinanderfolgenden Kalenderjahren zum Zwecke der beruflichen, politischen und allgemeinen Weiterbildung erhalten.
Der Ansatz ist nicht neu, mehrfach hat es parlamentarische Initiativen in dieser Richtung gegeben. So brachte z.B. die erste GRÜNE-Landtagsfraktion bereits 1991 einen ähnlichen Gesetzesentwurf ein.
Heute versuchen wir es erneut, denn wir glauben, das Verständnis, wie wichtig die berufsbegleitende Qualifizierung für Sachsen ist, hat seitdem zugenommen. Anfang der 90er Jahre konnte das Überangebot gut ausgebildeter Fachkräfte, die um heimische Arbeitsplätze konkurrierten, leicht den Eindruck erwecken, man könne sich entspannt zurücklehnen und „alle Fünfe gerade sein lassen“.
Aber zurück zu unserem Gesetzesentwurf, dessen wichtigste Eckpunkte ich Ihnen kurz vorstellen möchte.
1. Der Freistaat Sachsen erstattet Betrieben mit weniger als zehn Beschäftigten auf Antrag einen pauschalierten Anteil des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts. Die Pauschale beträgt die Hälfte des durchschnittlichen Arbeitsentgelts in Sachsen.
Wie Sie wissen, ist der Anteil von Kleinbetrieben mit weniger als zehn Beschäftigten in Sachsen überdurchschnittlich hoch. Diese Betriebe haben größere Schwierigkeiten, die Freistellung ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu Weiterbildungszwecken zu kompensieren. Deshalb muss in einem sächsischen Bildungsfreistellungsgesetz diese Betriebsgrößenklasse besonders berücksichtigt und unterstützt werden. Um es plastischer zu machen: Auf Grundlage dieser Regelung hätten Kleinbetriebe im Jahr 2010 Anspruch auf Kostenerstattung in Höhe von 42,90 Euro pro Tag der Bildungsfreistellung geltend machen können. Mit den von uns veranschlagten 300.000 Euro jährlich ließen sich so etwa 7000 Tage Bildungsfreistellung finanzieren.
2. Die Freistellung soll für berufliche, politische und allgemeine Weiterbildung gleichermaßen gelten.
Die Staatsregierung hat nur die berufliche Weiterbildung im Blick. Mit dem „individuellen Förderverfahren“ im Rahmen der ESF-Richtlinie „Berufliche Bildung“ sind politische Weiterbildungsmaßnahmen zwar prinzipiell möglich, allerdings nur, wenn die erworbenen Kenntnisse der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers im eigenen Unternehmen Anwendung finden können. Diese Herangehensweise bedeutet nichts anderes als den Ausschluss politischer Weiterbildung.
Uns ist das zu wenig: Wir wollen die politische Bildung. Wir wollen  Bürgerinnen und Bürger, die staatsbürgerliche Rechte und Pflichten wahrnehmen und gesellschaftliche Zusammenhänge kritisch beurteilen können.
Die Bedeutung dessen hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1987 hervorgehoben.
„Der technische und soziale Wandel bleibt in seinen Auswirkungen nicht auf die Arbeits- und Berufssphäre beschränkt. Er ergreift vielmehr auch Familie, Gesellschaft und Politik und führt zu vielfältigen Verflechtungen zwischen diesen Bereichen. Daraus ergeben sich zwangsläufig Verbindungen zwischen beruflicher und politischer Bildung […]. Es liegt daher im Gemeinwohl, neben dem erforderlichen Sachwissen für die Berufsausübung auch das Verständnis der Arbeitnehmer für gesellschaftliche, soziale und politische Zusammenhänge zu verbessern, um damit die in einem demokratischen Gemeinwesen anzustrebende Mitsprache und Mitverantwortung in Staat, Gesellschaft und Beruf zu fördern.“
Wir wollen auch, dass die Menschen Gelegenheit haben, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Denn: Kulturelle, soziale, gesundheitliche, wirtschaftliche oder Umweltbildung sind ebenso wichtig, um einen Platz in der modernen Wissensgesellschaft behaupten zu können. Schon jetzt gehört Sachsen  bei der allgemeinen Weiterbildung zu den Trägern der roten Laterne. Während sich in Baden-Württemberg 33 Prozent der Berechtigten an allgemeinen Weiterbildungsmaßnahmen beteiligten, sind es in Sachsen nur 22 Prozent.
Meine Damen und Herren, auf eine Kleine Anfrage von mir (Drs 5/3029) antwortete Minister Morlok, Bildungsfreistellung solle tarifvertraglich und nicht gesetzlich geregelt werden.
Herr Staatsminister, einmal mehr ignorieren Sie die Wirklichkeit in diesem Land. Nur jedes fünfte sächsische Unternehmen (21 Prozent) ist überhaupt tarifgebunden (Betriebspanel Sachsen). Außerdem erfolgen nur 11 Prozent der Freistellungen im Bundesgebiet aufgrund tarifvertraglicher Regelungen. 16 Prozent der Beschäftigten werden auf der Grundlage von Ländergesetzen freigestellt, obwohl es nur in 12 der 16 Bundesländer solche Freistellungsgesetze gibt (Berichtsystem Weiterbildung IX).
Meine Damen und Herren, Sie sehen es gibt viele Gründe für und wenige Gründe gegen die Einführung eines sächsischen Bildungsfreistellungsgesetzes. Wir haben mit unserem Entwurf einen sehr ausgeglichenen Vorschlag unterbreitet. Die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden deutlich gestärkt, ohne dabei die Realität und die Bedürfnisse sächsischer Unternehmen zu verkennen. Ich freue mich auf die Diskussion in den nächsten Wochen.