Solarworld − Lippold: Wir müssen uns gegen den Verlust der Zukunftsfähigkeit stemmen − Wir werden auch morgen die Kompetenz zur Fertigung der besten Solarzellen brauchen

Rede des Abgeordneten Dr. Gerd Lippold (GRÜNE) "Solarindustrie: weltweit im Steigflug, in Freiberg vor dem Absturz? Jetzt Kompetenzen für Sachsens Zukunft sichern!"
2. Aktuelle Debatte der Fraktion GRÜNE, 18. Mai, TOP 1

– Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrte/r Frau/Herr Präsident/in,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir wollen über Konsequenzen aus der Solarworld-Insolvenz diskutieren. Es geht in Freiberg um etwa 1200 Arbeitsplätze in Produktion, Forschung und Entwicklung. Und es geht um noch mehr.

Solarworld, meine Damen und Herren, ist nicht einfach ein Solarmodul-Massenproduzent. Es ist das letzte große Unternehmen in Europa, das die gesamte Technologiekette der industriellen Photovoltaik – vom Rohstoff bis zum fertigen Solarsystem und darüber hinaus bis zum Recycling – beherrscht und in über eineinhalb Jahrzehnten mit Tausenden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie einem ganzen Netz externer Forschungs- und Entwicklungspartnern einen großen Schatz an Know How und Innovationpotenzial erarbeitet hat.

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass in Freiberg und in Arnstadt die letzten europäischen Schatzkisten dieser Industrie stehen, gefüllt mit industrieller Zukunftsfähigkeit bei den Basisbauelementen des solaren Energiezeitalters.
Nun ist mehr bedroht als der jeweilige Produktionsstandort. Es droht der endgültige Verlust von nationaler und europäischer Kompetenz in einer entscheidenden Schlüsselindustrie des 21. Jahrhunderts.

Herr Minister Dulig, wir erheben nicht die Forderung, die Staatsregierung möge das Unternehmen irgendwie in der heutigen Form und Struktur retten. Eine Insolvenz ist eine harte Zäsur. Doch oft ist sie auch eine Chance, Strategien und Strukturen neu zu denken und entschuldet neue Ziele anzusteuern.
Entscheidend ist an dieser Stelle, dass neue Wege auch hier bei uns in Sachsen gegangen werden und dass dabei die Innovationsschatzkiste nicht ausgeräumt wird!

Die Lösungssuche von Verwaltern und Gläubigern in der Insolvenzsituation berücksichtigt nämlich nicht automatisch auch bereits die Interessen des Standortes, der vielfältig vernetzten Kooperationspartner und strategische Entwicklungsziele des Freistaates. Damit dies geschieht, muss der Freistaat diese Interessen klar vertreten. Und zwar nicht erst irgendwann in einem Insolvenzverfahren, sondern von Anfang an. Denn sie müssen Teil von Abwägungs- und Entscheidungskriterien heutiger und potenzieller künftiger Eigentümer werden.

Dazu muss man diese Interessen zunächst mal selber definieren, dann klar formulieren und als Bekenntnisse zu den Standortbedingungen kommunizieren. Sich kümmern ist das Gebot der Stunde! Unter Nutzung aller Netzwerke, Kontakte und Kanäle in den Bund, zu betroffenen Ländern, in Richtung EU, zu Unternehmen und Investoren. Und zwar in einem engen Zeitfenster.

Wirklich überraschen konnte die Insolvenz niemanden, der Zahlen lesen kann. Quartalsberichte, Jahresabschlüsse sind öffentlich zugänglich. Dort war deutlich zu sehen, dass bei Zweifeln an der Fortführungsprognose sofort der Insolvenzgrund der Überschuldung virulent werden würde. Die Krise kam auch nicht plötzlich. Sie hat sich über Jahre aufgebaut.

Wirklich schockiert hat mich, Herr Minister, dass sie sich davon überrascht gezeigt haben. Es habe sie >>kalt erwischt<<. Wie konnte das passieren?
>>Kalt erwischt<<, wie sie nach eigener Aussage waren, sind sie letzte Woche nach Freiberg geeilt. Um anschließend zu verkünden, sie könnten nichts sagen, ihnen fehle die nötige Information. Die müssten sie sich erst vom Insolvenzverwalter geben lassen.

Spätestens vor einigen Monaten, als die Krisenzeichen deutlich sichtbar an der Wand standen, da wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, sich über Risiken und Chancen informieren zu lassen. Und zwar in Diskussion mit dem Management des Unternehmens, mit Eigentümern und Partnern am Standort und darüber hinaus. Und damit nicht einen Autopsiebericht anzufordern, sondern sich um eine Diagnose zu kümmern, solange der Patient noch lebt.

Um in diesem Bild zu bleiben, Herr Minister: für den Anspruch, Wirtschaftspolitik zu machen, reicht es nicht aus, sich um Geburtshilfe und Palliativversorgung zu kümmern. Es braucht auch ab und an Therapievorschläge und vor allem Gesundheitsvorsorge für die sächsische Wirtschaft.

Natürlich hat kein Unternehmen Interesse daran, ständig irgendwelche Fragebögen zur Lage auszufüllen. Aber, Herr Minister, Unternehmen erwarten sehr wohl von einem Wirtschaftsministerium, dass es auf dem aktuellen Stand ist hinsichtlich der Markt- und Wettbewerbssituation und der prognostizierbaren Risiken und Chancen in wesentlichen Bereichen seiner ansässigen Industrie und deren Zukunftsaussichten.
Und das es sich dann auch proaktiv einbringt, wenn Gewitterwolken aufziehen und es um tausende von Jobs geht!
Dass man das leisten kann, wenn man es will, dass die Staatsregierung das leisten kann, wenn Sie es will, dafür möchte ich in der zweiten Runde Beispiele nennen.

(2. Rederunde)

Spät, leider sehr spät, verstand man, bspw. dass man Schlüsselkompetenzen im Bereich der Mikroelektronik nicht verlieren darf. Die Eckpunkte einer möglichen Strategie, um das zu verhindern, sind technologische Alleinstellungsmerkmale, Clusterbildung überkritischer Größe und die nötige Anschubförderung für Investition in eine neue Technologiegeneration.

In einer global operierenden Branche lässt sich das nur umsetzen, wenn man den Schulterschluss mit den betroffenen Bundesländer sucht und dem Bund, aber auch die europäische Dimension berücksichtigt. Die Staatsregierung hat im Fall der Mikroelektronik genau das getan und sie war auch bereit, dafür zusammen mit dem Bund tief in die Schatulle zu greifen.

Sie haben jetzt Erfahrungen, wie man sowas anpacken kann, wenn man es anpacken will, meine Damen und Herren. Und Netzwerke. Nutzen Sie sie in Sachen Schlüsselindustrie Photovoltaik. Der beste Zeitpunkt dafür wäre schon vor einer ganzen Weile gewesen. Der zweitbeste ist jetzt! Es kann gut sein, dass man damit scheitert. Doch es nicht zu versuchen, wäre unverzeihlich.

Am mangelnden Interesse für die Energiewirtschaft kann es nicht liegen, dass die erneuerbaren Energien in der sächsischen Staatsregierung in jeder Hinsicht die Rolle eines ungeliebten Kindes spielen. Bei der Begleitung des Verkaufs der Vattenfall-Braunkohlensparte hatte die Staatsregierung keine Zeit und Mühe gescheut, auf hoher und höchster Ebene mit Kaufinteressenten und Verkäufern, mit allen am Prozess Beteiligten bundesländerübergreifend zu reden.
Und selbst Milliardenrisiken für die öffentliche Hand sind im Freistaat ja nicht zu groß, wenn es ums Festklammern am energiepolitischen Gestern geht.

Wir fordern die Staatsregierung, den Wirtschaftsminister, aber auch den Ministerpräsidenten auf: tun sie wenigstens ab sofort alles, um das Know-How, die Forschungskompetenz und möglichst viele Produktionsarbeitsplätze des letzten großen europäischen Solarunternehmens auch am Standort Freiberg zu erhalten!

Unterstützen Sie die Suche nach Fortführungsperspektiven und Investoren mit mindestens demselben Engagement, das Sie für die Braunkohle an den Tag gelegt haben. Denn hier geht es nicht um die letzte Generation des auslaufenden Tagebaugeschäftes, sondern um ein Stück echter Zukunftsfähigkeit in Sachsens Industrie und Forschung.

Wir sollten uns gut erinnern an die Zeiten, als wir in Europa meinten, mikroelektronische Bauelemente oder Akkuzellen seien Commodity-Produkte und sowas könne man genauso gut aus Asien beziehen statt es selber zu beherrschen. Inzwischen stellen wir fest, dass wir Gefahr laufen, dass uns das Schrittmaß der Innovationsfähigkeit unserer, darauf angewiesenen Industrien von außen begrenzen zu lassen. Basiskomponenten mit austauschbaren Eigenschaften kann man überall kaufen.

Erfolgen aber Technologiesprünge, so ist keineswegs sicher, dass das Neueste auch zeitnah für unsere Unternehmen zur Verfügung steht. Auch beim Thema Informationssicherheit begreifen wir allmählich, dass es kritisch wäre, wenn man eines Tages keine Kontrolle mehr darüber hätte, was da eigentlich hardwaremäßig auf den importierten Mikrochips eingebaut wird.

Man darf Fehler machen. Aber man darf dieselben Fehler nicht mehrmals machen! So wie wir heute wissen, dass wir die Kompetenz zur Herstellung der besten Chips für die Digitalisierung, für Industrie 4.0 und sichere Daten brauchen und die besten Akkuzellen für unsere wirtschaftliche Chance in der Mobilität der Zukunft, so werden wir morgen die Kompetenz zur Fertigung der besten Solarzellen brauchen. Wir brauchen sie, wenn wir als Industrieland bei der Frage mitreden wollen, wer die Systeme und Ausrüstungen liefert, die am Ende große Teile der Energieversorgung der Menschheit auf eine neue Basis stellen werden.

Der deutsche Maschinen- und Anlagenbau hat sich weltweit anerkannte Kompetenz bei Anlagen und ganzen Produktionslinien für die Photovoltaikindustrie erarbeitet. Diese Kompetenz wurde Stück für Stück zusammen mit einer deutschen Photovoltaikindustrie und einer Forschungslandschaft entwickelt, die es hier am Standort ermöglichte, immer die neuesten Zellenkonzepte und kostengünstige Fertigungsprozesse in den neuesten Maschinen und Anlagen zu implementieren, industriell zu erproben und in Entwicklungsnetzwerken dann so rasch zu optimieren, dass daraus Wettbewerbsvorteile entstanden.

Was meinen Sie denn, wohin diese Anlagenbauer gehen, wenn denen hier die industriellen Anwender und in der Folge auch die Technologiekompetenz im Forschungsbereich abhandenkommen? Die gehen nach Asien oder einfach den Bach runter.

Dutzende Forschungsinstitute und -gruppen forschen in Kooperation mit Solarworld industrienah und sorgen bisher für Ausbildung und Qualifizierung des notwendigen Wissenschaftler- und Ingenieurnachwuchses. Niemand sollte hoffen, dass sich so eine Kompetenz weiter auf höchstem Niveau halten lässt, wenn die industrielle Umsetzungsfähigkeit wegfiele.

Hier drohen Kettenreaktionen, meine Damen und Herren. Und es droht der dauerhafte Verlust der heute noch vorhandenen Potenziale.
Gegen diesen Verlust an Zukunftsfähigkeit müssen wir uns stemmen!

Danke!

» alle Redebeiträge der GRÜNEN-Fraktion » alle Infos zur 54./55. Landtagssitzung