Wir brauchen Wirtschaftssegmente, die die wachsenden Geschäfte von heute und die großen Stories von morgen sind!
Rede des Abgeordneten Dr. Gerd Lippold zur Aktuellen Debatte der Fraktionen CDU und SPD: "SIEMENS-Bekenntnis für Sachsen – ein klares Signal für den Industriestandort"
72. Sitzung des Sächsischen Landtags, 30. Mai, TOP 2
– Es gilt das gesprochene Wort –
Herr Präsident, meine Damen und Herren,
selbstverständlich waren wir ALLE erleichtert, als Anfang Mai die Nachricht kam, dass die baldige Schließung des Siemens-Werks in Görlitz vom Tisch ist und das Werk in Leipzig gute Perspektiven unter einem neuen Eigentümer haben kann.
Das ist unzweifelhaft eine erlösende Nachricht für die Menschen, die dort beschäftigt sind, für die Regionen und für den Freistaat.
Dass es in der heutigen Debatte auch darum gehen würde, wer sich welchen Anteil an diesem Erfolg auf die Fahnen schreibt, war zu vermuten.
Bekanntermaßen hat Erfolg viele Väter. Der Misserfolg hingegen ist ein Waisenknabe.
Deshalb wiesen jene, die die heutige Debatte beantragt haben, ganz und gar auf Entscheidungsprozesse im Management hin, als es vor wenigen Wochen in der Debatte um die Hiobsbotschaften aus dem Hause Siemens ging.
Ich kann verstehen, meine Damen und Herren, dass Sie Ihr eigenes Tun lieber mit positiven Nachrichten aus der sächsischen Wirtschaft verbinden als mit Dingen, die in Sachsen nicht so laufen.
Wenn man jedoch bei Dingen, die schief zu gehen drohen, reflexartig auf Dritte weist, wenn man über Dinge, die final schief gegangen sind, lieber gar nicht redet und jede positive Entwicklung als Beleg für richtiges und erfolgreiches eigenes Handeln identifiziert, dann analysiert man nicht in der nötigen Tiefe und verbaut sich wichtige Erkenntnisse,
Die fundamentalen Daten und Aussagen zur Siemens-Kraftwerkssparte, zu der die Aktivitäten im Bereich Dampfturbinen gehören, meine Damen und Herren, haben sich in den vergangenen Monaten nicht geändert.
Mag sein, dass die Aktionen und intensiven Diskussionen, die vor allem die engagierten Görlitzer Fachleute, der Betriebsrat, Gewerkschaften und Landespolitik geführt haben, hier die Gewichte im Konsolidierungsprozess noch einmal verschoben haben.
Doch bei aller Genugtuung darüber dürfen wir nicht vergessen: es bleibt ein Konsolidierungsprozess. Es ist ein Umsortieren und Zusammenfassen von Kapazitäten und Ressourcen in einem insgesamt schrumpfenden Geschäftsbereich, in dem es – wenigstens temporär − Segmente der Stabilität gibt.
Wir alle hoffen und wünschen jetzt, dass das Werk in Görlitz auf einer solchen Insel liegen möge.
Doch ohne Innovation, ohne Paradigmenwechsel im Geschäftsmodell werden die Aktivitäten in Görlitz noch lange kein Wachstumssegment im Konzern.
Angesichts des Abstandes, den auch Sachsen noch immer zu den führenden Wirtschaftsregionen in der Bundesrepublik hat, ist es eben nicht schon ein Erfolg in und für Sachsen, wenn ein Unternehmen seine Ansiedlung halbwegs stabilisiert.
Wir brauchen stattdessen die Segmente hier, die in den kommenden zehn, zwanzig Jahren die wachsenden Geschäfte von heute und die großen Stories von morgen sind!
Nun ist es nicht Sache der Staatsregierung oder des Sächsischen Landtags, Unternehmen und deren Organe in ihren Strategien zu beraten. Doch es ist sehr wohl Sache der Staatsregierung und unser aller Aufgabe, hier bei uns in Sachsen die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich diejenigen bei uns wohl fühlen, die vorn sind, die Branchen-Innovatoren.
Eine Atmosphäre der Veränderungsbereitschaft, der Neugier auf die Chancen von Morgen, des langfristigen Denkens in Zusammenhängen, des Ermöglichens, der Weltoffenheit und der soziokulturellen Attraktivität – das ist es, was die spannendsten Ideen und Köpfe dieser Welt anzieht und sesshaft macht.
Nur dann ist es für global operierende Unternehmen sinnvoll, ihre wertvollsten Zukunfts-Assets ausgerechnet nach Sachsen zu tragen und hier bei uns über Fördermittelbindefristen hinaus Dinge zu tun, die für ihre eigene Zukunft prägend sind.
Es gibt immerhin ein paar Orte in Sachsen, wo man eine solche Atmosphäre bereits spüren kann. Gehen Sie mal zu einem Workshop ins Spinlab nach Leipzig.
In einer weltoffenen Atmosphäre der Neugier und der Kreativität fühlen sich jene wohl, die selbst Kreative und Macher sind. So kann eine hohe Anziehungskraft für Branchen-Innovatoren entstehen, die auf dieses Potenzial angewiesen sind!
Eine solche Dynamik strahlt auf einen ganzen Standort aus. Eine ganze Stadt wird durch eine solche Ausstrahlung "hip" und zum Magnet.
Doch jenseits solcher Inseln – denkt man wirklich an Sachsen, wenn es um Veränderungsbereitschaft, Neugier, Weltoffenheit geht?
Keineswegs. Längst ist hier ein Konservatismus, der für den Erhalt von Werten bereit ist, Strukturen, Strategien und Instrumente immer wieder vor dem Hintergrund einer sich dynamischer als je zuvor entwickelnden Welt in Frage zu stellen einem Konservatismus gewichen, der zum Erhalt von Strukturen und zur Vermeidung von Strategieänderungen bereit ist, Werte über Bord zu werfen.
Wir hoffen und wünschen jetzt alle, dass sich der Standort Görlitz unter der Ägide von Siemens als wandlungsfähig genug erweist, um sich in einem veränderten Markt in einer sich verändernden Welt neu zu erfinden.
Und doch muss uns die Debatte Anlass sein, tiefer in das Thema und weiter in die Zukunft zu schauen. Langfristig können wir etwas dafür tun, dass sich in Sachsen zunehmend die Geschäftsmodelle verwurzeln, um die wir uns nicht sorgen müssen. Wenn sich in Sachsen diejenigen am richtigen Platz fühlen, die dabei sind, ihre Branchen umzukrempeln und sich an die Spitze der Entwicklung zu setzen, erst dann haben wir wirklich Grund, meine Damen und Herren, uns bei guten Nachrichten aus den Unternehmen auch selbst auf die Schulter zu klopfen.
» Alle Infos zum 72./73. Plenum » Alle GRÜNEN Reden