Datum: 03. Februar 2021

Tagebau Turów – Gerber: Die EU muss jetzt als Hüterin der Verträge tätig werden

Redebeitrag des Abgeordneten Dr. Daniel Gerber (BÜNDNISGRÜNE) zur Ersten Aktuellen Debatte auf Antrag der Fraktion BÜNDNISGRÜNE zum Thema: "Tagebau Turów: Transparenz schaffen und EU-Recht einhalten – der Kohleausstieg ist eine europäische Aufgabe"
22. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Mittwoch, 03.02.2020, TOP 2

Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich wage mal eine Behauptung: Bis zum heutigen Tag war wahrscheinlich den wenigsten hier das Problem um den Tagebau Turów bekannt. Und das, obwohl doch schon seit Jahren ein breites Bündnis engagierter Bürgerinnen und Bürger aus Tschechien, Polen und Deutschland auf die Missstände aufmerksam macht. Risse an Häusern, Lärmbelästigung, Staub als Luftverschmutzung, der kilometerweit vom Wind getragen wird, Grundwasserabsenkungen – all dies gehört dazu. Von den CO2-Emissionen ganz zu schweigen.
Und es geschieht im Herzen Europas, vor unserer sächsischen Haustür, direkt im Dreiländereck. Umso wichtiger ist es, dass wir heute endlich über Turów debattieren. Denn Kohleausstieg ist eine europäische Aufgabe!
Lassen Sie mich also einmal rekonstruieren, was in den letzten Monaten und Jahren passiert beziehungsweise leider nicht passiert ist.
Der Turów-Komplex besteht aus einem Kraftwerk und dem dazugehörigen Braunkohletagebau und wird von der polnischen Firma PGE betrieben – einem Unternehmen, das zu 57 Prozent dem polnischen Staat gehört. Der Tagebau reicht bis knapp 100 Meter zur tschechischen und circa 150 Meter zur deutschen Grenze. Grenznahe Städte wie Zittau sind quasi mittendrin statt nur dabei. Der Tagebau umfasst eine riesige Fläche von insgesamt über 50 Quadratkilometern. Das sind 7.000 Fußballfelder! Die Bagger haben ein Loch in die Natur gefressen, das die Ausmaße einer Stadt wie Zittau umfasst. Die Grube ist jetzt schon über 200 Meter tief und soll bis zum Jahr 2044 noch auf 300 Meter Tiefe weiter gegraben werden. Das bedeutet, es wird 30 Meter unterhalb des Meeresspiegels liegen. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. 7.000 Fußballfelder. Ein 300 Meter tiefes Loch. Es ist damit tiefer als der Dresdner Fernsehturm hoch ist.
In der Umgebung des polnischen Tagebaus sind auf deutscher Seite 25.000 und auf tschechischer Seite rund 30.000 Personen direkt betroffen. Diese Menschen zählen auf uns!
Doch was ist ganz konkret der Anstoß der heutigen Debatte?
In Turów wird seit dem 1. Mai 2020 illegal gebaggert. Mitten in der Klimakrise!
Die Bergbaugenehmigung des Tagebaus Turów endete offiziell am 30. April 2020. Doch die Bagger graben auch heute noch. Am 20. März 2020 erteilte der Klimaminister Polens eine Lizenz um weitere sechs Jahre, von deren Beantragung niemand etwas wusste, bei deren Umweltverträglichkeitsprüfung niemand beteiligt war, bei der von niemanden Einwände angehört wurden: ein klarer Bruch des EU-Rechts!
Seit 2015 läuft ein Antrag auf Verlängerung des Tagebaus bis 2044. Um einen solchen Antrag mit Erteilung einer Lizenz EU-rechtskonform abschließen zu können, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt werden: ein Raumordnungsplan und eine Umweltverträglichkeitsprüfung. Der Raumordnungsplan wurde schnell angepasst, daher konzentriere ich mich in der Ausführung jetzt auf den zweiten Punkt.
Dieser 2015 gestellte Antrag wurde durch eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung mit öffentlichem Anhörungsverfahren begleitet. Auf sächsischer Seite hatte das Oberbergamt die Umweltverträglichkeitsprüfung organisiert. Erst 2019 startete die sächsische Beteiligung, vorher gab es nur Dokumente auf Polnisch.
Bis zum 20. Januar 2020 konnten Menschen aus Zittau und anderen grenznahen Gemeinden Einwände gegen die Verlängerung vorbringen. Nur einen Tag später – ich wiederhole – einen Tag später, also am 21. Januar, hatte die dafür zuständige Umweltbehörde die Umweltverträglichkeitsprüfung positiv beschieden. Ist es vielleicht möglich, dass bei dieser sehr kurzen Bearbeitungszeit das Ergebnis vorher schon feststand? Wofür dann überhaupt ein Verfahren?
Für Polen jedenfalls bedeutete das: 
Raumordnungsplan – Check. 
Umweltverträglichkeitsprüfung – Check. 
Lizenzantrag bis 2044? Auch check?

 Noch nicht! Widerstand formierte sich. Zuerst wurde eine grenzüberschreitende Petition beim Europaparlament eingereicht. Danach zog die Region Liberec mit einer EU-Beschwerde gegen Turów voran. Tschechien legte gegen Polen sogar eine Staatenklage ein und nun folgte am 21. Januar 2021 eine weitere EU-Beschwerde. Diesmal gemeinsam von Zittau und mir.
Trotz allem nimmt PGE weder uns noch die tausenden Anwohnerinnen und Anwohner ernst. Es ist jetzt herausgekommen, das PGE am 17. November 2020 offiziell die Verlängerung bis 2044 angefragt hat. Wieder heimlich. Sie kommunizieren darüber weder öffentlich noch mit den betreffenden Regierungen – und sie taten es kurze Zeit, nachdem Gespräche zwischen Polen, der Tschechischen Republik und der EU-Kommission über die mögliche Einigung nach der offiziellen Klage stattfanden. Hier wird mehr als deutlich, mit welcher Dreistigkeit PGE vorangeht. Es wird Zeit, dass die EU als Hüterin der Verträge dieser Klimaschmutzlobby die Grenzen aufzeigt. Der Bruch des EU-Rechts wurde bereits von der Europäischen Kommission bestätigt. Wir haben es schwarz auf weiß.
Die Debatte um den illegale Tagebau Turów wird natürlich auch von den katastrophalen Folgen für Mensch und Natur befeuert.
So untersuchte der polnische Hydroexperte Dr. Krasnicki die Folgen des Tagebaus auf die Quantität und Qualität der Grundwasserkörper. Die Studie kam zu dem erschreckenden Ergebnis, dass das Grundwasser in der Grenzregion bereits um 40 Meter abgesunken ist. Tieferliegende Gesteinsschichten, die früher wasserführend waren, wurden in nur 30 Jahren völlig trockengelegt. Gerade für eine ohnehin trockene Region im dritten Dürrejahr in Folge ist das fatal.

Eine zweite Studie des deutschen Wissenschaftlers Dr. Krupp belegt, dass die Absenkung des Grundwassers infolge des Braunkohleabbaus in Turów bereits jetzt zu einer messbaren Senkung des Bodens unter Zittau führt. Der Zittauer Innenstadt droht bis 2044 sogar eine weitere Senkung von bis zu 72 Zentimetern. Die Flutung des Tagebaus dauert nicht 35, sondern 144 Jahre und im schlimmsten, aber hoffentlich nicht eintretenden Fall könnte sogar die Neiße durchbrechen.

In einer dritten Studie berechneten die Wissenschaftler Prof. Karaczun und Dr. Kassenberg, dass allein der Tagebau Turów 33 bis 45 Prozent des Polnischen CO2-Budgets verbraucht, würde man das 1,5°C-Ziel des Pariser Klimaabkommens zugrunde legen. Der Umweltverträglichkeitsprüfung fehlte übrigens diese verpflichtende Untersuchung nach EU-Recht.
Auf Grundlage dieser Studien haben nun der Zittauer Bürgermeister Thomas Zenker und ich die Initiative ergriffen und bei der EU-Kommission eine Beschwerde eingereicht. Diese Beschwerde ist im Stadtrat von Zittau fraktionsübergreifend ohne Gegenstimmen angenommen worden. Daran angelehnt bietet sich auch hier im hohen Hause die einmalige Gelegenheit, über die demokratischen Fraktionsgrenzen hinweg, gemeinsam gegen die klimaschädliche Braunkohle Stellung zu beziehen.
Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich der Europaministerin Katja Meier, die sich direkt nach der Verkündung der EU-Kommission dafür ausgesprochen hat, dass die Bundesregierung jetzt, sollte die Tschechische Republik tatsächlich vor den Europäischen Gerichtshof ziehen, dieser als Streithelferin beisteht. Diese Forderung kann ich nur unterstützen.
Mein Dank gilt auch dem Umweltminister Wolfram Günther, der sich im Rahmen der „Internationalen Kommission zum Schutz der Oder gegen Verunreinigung” maßgeblich dafür eingesetzt hat, dass die Auswirkungen des Braunkohlenbergbau künftig als überregional wichtige Wasserbewirtschaftungsfrage eingestuft werden.
Ich lade außerdem unseren Wirtschaftsminister dazu ein, sich für diese Angelegenheit genauso intensiv einzusetzen, wie er es an anderer Stelle von sich behauptet – Stichwort Pödelwitz. Ich unterstütze Sie sehr gern auch in Zittau und Mühlrose.
Ich hatte in meiner Pressemitteilung zur Beschwerde gesagt, dass mir dieser Schritt nicht leicht gefallen ist. An dieser Entscheidung hängen Arbeitsplätze und sie gefährdet auch die Verbindungen, die im Dreiländereck über Jahre vorsichtig gewachsen sind. Ich kämpfe aber für aktiven Strukturwandel, für gemeinsame Lösungen, für eine Zusammenarbeit zum Wohle aller Beteiligten. Wir haben in der EU gemeinsame Regeln für ein gutes Miteinander. Diese gilt es gemeinschaftlich einzuhalten und von der Kommission zu kontrollieren. Wir müssen uns auf den Weg machen zur ersten grenzüberschreitenden Kohleausstiegsregion Europas.
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