Annekathrin Giegengack: Staatsregierung muss endlich durchdachtes, ganzheitliches und mit der Wirtschaft sowie den Bildungsträgern abgestimmtes Konzept für die berufliche Aus- und Weiterbildung vorlegen
Redebausteine der Abgeordneten Annekathrin Giegengack zur Aktuellen Debatte "Kahlschlag der Staatsregierung an den Berufsfachschulen stoppen – Zukunftschancen junger Menschen erhalten", 57. Sitzung des Sächsischen Landtages, 13. Juni 2012, TOP 1
– Es gilt das gesprochene Wort –
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Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
In der Pressemitteilung vom Kultusministerium zur Zukunft der beruflichen Aus- und Weiterbildung in Sachsen hieß es gestern:
"Bei der Frage, wie die berufliche Aus- und Weiterbildung weiterentwickelt werden soll, sind wir wohlüberlegt mit Augenmaß und anhand eines Kriterienkataloges vorgegangen. Dabei wurden unter anderem die aktuelle Nachfrage und der Bedarf ebenso berücksichtigt wie regionale und überregionale Bedeutung der Bildungsangebote."
Das ist ein schlechter Witz. Nach anderthalb Monaten und viel Wirbel muss ein Kabinettsbeschluss zur Abwicklung bestimmter Ausbildungsberufe wieder zurückgenommen werden. Was ist daran "wohlüberlegt"?
Was ist "wohlüberlegt mit Augenmaß" und wo der "Kriterienkatalog", wenn die Staatsregierung laut einem Kabinettsbeschluss die Sozialassistenten- und Pflegehilfeausbildung in Sachsen streichen will?
Die Berufsfachschule Pflegehilfe wurde erst zum Schuljahr 2010/11 mit wissenschaftlicher Begleitung eingeführt.
Die abgeschlossene Sozialassistentenausbildung ist nach der Schulordnung für Fachschulen die Voraussetzung für eine Erzieherausbildung in Sachsen. Diese Schulordnung ist seit 2009 in Kraft, unterschrieben von Ex-Kultusminister Roland Wöller.
Kommen wir zu einem weiteren Zitat aus der Pressemitteilung: "Dabei wurden u.a. die aktuelle Nachfrage und der Bedarf ebenso berücksichtigt wie regionale und überregionale Bedeutung der Bildungsangebote".
Noch am 4. April antwortete des Kultusministerium auf die Frage der SPD-Fraktion: "In welchem Umfang wurde von der Staatsregierung der Bedarf der Wirtschaft an Fachkräften evaluiert und inwieweit sind daran die Leistungsangebote der Ausbildung orientiert?" – "Die möglichen Bedarfe der Wirtschaft an Fachkräften wurden nicht evaluiert." (Große Anfrage, Drs. 5/8051, S.7)
Auf die Frage, ob der Staatsregierung Informationen zum regionalen branchenspezifischen Fachkräfte- und Ausbildungsbedarf der Wirtschaft vorliegen, heißt es von der Staatsregierung: "Eine Studie i.S. der Fragestellung liegt nicht vor und ist vom SMWA nicht beauftragt." (Drs. 5/8051, S.7) und auf S. 19: "Nein solche Informationen liegen der Staatsregierung nicht vor."
Auch auf die Frage, welcher Bedarf der sächsischen Wirtschaft derzeit nicht bei der Berufsausbildung berücksichtigt wird, weiß die Staatsregierung keine Antwort (S. 59): "Der Staatsregierung sind keine Bedarfe der Wirtschaft bekannt, die nicht durch die betriebliche Berufsausbildung gedeckt werden könnten."
Es gibt also weder einen Kriterienkatalog noch eine Bedarfsanalyse.
Ich möchte daran erinnern, dass es in der vergangenen Legislatur im Landtag eine Enquete zur Demographie gegeben hat, die wesentliche Empfehlungen auch für diesen Bereich erarbeitet hat, z.B. die Ausbildungsförderung soll quantitativ und qualitativ stärker am tatsächlichen zukünftigen Bedarf sächsischer Unternehmen orientiert werden. Dafür bedarf es:
– der Durchführung regelmäßiger Qualifizierungs- und Fachkräftebedarfsprognosen, zur besseren Abbildung branchen- und regionalspezifischen Personalbedarfs und der besseren Unterstützung regionaler arbeitsmarkt- und bildungspolitischer Akteure
– die Ergebnisse des "Fachkräftemonitorings" sollen in Imagekampagnen für zukunftsfähige Berufe münden
– der Etablierung regionaler Informationssysteme "Fachkräftebedarf" und zur Überprüfung der Übertragbarkeit jeweils "Regionalbeauftragte für Fachkräftesicherung" nach Brandenburger Vorbild.
Ich frage Sie, wozu gibt es eine Enquetekommissionen und ihre Empfehlungen, wenn jahrelange Arbeit ignoriert wird?
Wir teilen das Ziel, die duale Ausbildung in Sachsen zu stärken.
Bei der Integration Jugendlicher in Beschäftigungssysteme erzielt sie kurz, mittel- und langfristig die besten Ergebnisse.
Zwei Jahre nach Ausbildungsabschluss sind 69 Prozent im Beschäftigungssystem integriert. Fazit: Unter den möglichen beruflichen Ausbildungsgängen ist die duale Ausbildung das effektivste und nach Kosten auch effizienteste Instrument (Ergebnisse "Verbleibsstudie", 2009).
Wenn das Angebot der dualen Ausbildung stimmt, sind nicht alle vollzeitschulische Ausbildungsgänge nötig. Es ist allerdings ein Irrglaube, das durch das Streichen landesrechtlich geregelter Ausbildungsberufe freie Lehrstellen in Zukunft leichter besetzt werden können. So werden Schüler mit einem Interesse für Grafik, Medien, Kommunikation (derzeit befinden sich in Sachsen ca. 1.000 junge Menschen in einer Ausbildung zum gestaltungstechnischen Assistenten) nur schwer für eine duale Ausbildung zum Anlagenmechaniker für Sanitär, Kraftfahrzeugmechatroniker, Metallbauer oder Elektroniker begeistern zu sein.
Nach den Prognosen des Statistischen Landesamtes und der Bundesagentur für Arbeit Sachsen ist ab 2014 die Anzahl jährlicher Aussteiger aus dem Berufsleben größer als die Zahl der Einsteiger. Gelänge es, 1. die Quote der Schul- und Ausbildungsabbrecher um 50 Prozent zu senken, hätten knapp 22.000 junge Menschen in Sachsen eine berufliche Perspektive; 2. den Anteil der Geringqualifizierten mittels Weiterbildung und beruflicher Qualifizierung um 20 Prozent zu steigern, würde dies die Gewinnung 19.000 Fachkräften bedeuten.
Wir erwarten von der Staatsregierung nach dem Durcheinander der vergangenen Wochen ein durchdachtes, ganzheitliches und mit der Wirtschaft sowie den Bildungsträgern abgestimmtes Zukunftskonzept für die berufliche Aus- und Weiterbildung auf der Basis von Bedarfsprognosen und Fachkräftemonitoring.