Annekathrin Giegengack: Forderung der SPD nach weiterentwickelten Oberschulen teilen wir – allein, es fehlt der Lösungsvorschlag

Redebeitrag der Abgeordneten Annekathrin Giegengack zum Antrag "Die sächsische Oberschule als alternativer und gleichwertiger Bildungsweg" (Drs. 5/4504) in der 36. Sitzung des Sächsischen Landtages, 25.05., TOP 7
Forderung der SPD nach weiterentwickelten Oberschulen teilen wir – allein, es fehlt der Lösungsvorschlag
Es gilt das gesprochene Wort!
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Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
die bildungspolitische Diskussion in Sachsen wird seit Jahren von der Debatte um die Gemeinschaftsschule beherrscht. Viele bildungspolitischen Fragestellungen wurden auf die Systemfrage reduziert und das Pro oder Contra zum längeren gemeinsamen Lernen wurde zur Scheidemarke bildungspolitischer Positionen.
Auch die FDP zog mit der Forderung nach längerem gemeinsamen Lernen in den Wahlkampf. Im Exklusiv-Interview mit der Freien Presse im August 2009 tönte Fraktionschef Holger Zastrow noch, er ließe die Koalition platzen, wenn die bildungspolitischen Vorstellungen der FDP nicht umgesetzt würden. Das Ergebnis nach zwei Jahren Koalition ist ernüchternd: ein neuer Name für die Mittelschule.
Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu verständlich, dass der alte Koalitionspartner SPD den Finger in die Wunde legt und Forderungen zur inhaltlichen Ausgestaltung dieser neuen Oberschule aufmacht.
Die Forderungen sind nachvollziehbar und vernünftig. Die neue Oberschule soll anschlussfähig sein an die gymnasiale Ausbildung, um den späteren Erwerb des Abiturs zu ermöglichen. Die Oberschule soll selbständig sein, um genügend pädagogische und organisatorische Freiräume zu haben, ihrer heterogenen Schülerschaft gerecht zu werden. Die Oberschule soll verbindlich ein ganztägiges Angebot vorhalten, um Schüler individuell fördern zu können. Die Oberschule soll inklusiv sein und auch Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf offen stehen. Die Oberschule soll arbeitsweltorientiert sein, um den Übergang in die Berufsausbildung zu erleichtern. Und sie soll wohnortnah sein, um Schülern lange Schulwege zu ersparen und Schulschließungen zu vermeiden. 
Nun meine Damen und Herren, das alles unterschreiben wir GRÜNEN ohne Zögern. Wer will nicht die eine Schule, die allen gerecht wird und jeden mitnimmt. Die Crux an diesem Antrag ist bloß, dass er lediglich diese hehren Ziele formuliert, jedoch keinen einzigen Vorschlag zur Umsetzung liefert. Ich denke, an Zielen und Herausforderungen fehlt es uns in diesem Land nicht. Vorschläge zur Lösung sind gefragt. Und da sehe ich die Opposition genauso in der Pflicht wie die Koalition.
Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, was hat sie gehindert, selbst ein Konzept zur Umsetzung der neuen wohnortnahen, inklusiven, ganztägigen, selbständigen und anschlussfähigen Oberschule dem Landtag vorzulegen? Gerade die Mittelschulen befinden sich inzwischen in einer äußerst schwierigen Situation. Und das hat auch mit ihrem Agieren in der letzten Koalition zu tun.
Wer sich die PISA Ergebnisse von Sachsen genauer ansieht, wird feststellen, es war das hohe Leistungsniveau der sächsischen Mittelschüler, dass  entscheidend zum guten Abschneiden von Sachsen bei den internationalen Schülerleistungstests in den letzten Jahren beigetragen hat. Doch mit dem 2004 ausgehandelten Koalitionskompromiss, den Zugangsdurchschnitt für das Gymnasium auf 2,5 zu senken, wurde den Mittelschulen das wichtige Potential an leistungsstarken Schülern entzogen. Das lernförderliche breite Leistungsspektrum – dessen Fehlen bei den Lernförderschulen gern beklagt wird – wurde in den Mittelschulen nach unten verengt. Dies hat in den letzten Jahren zu erheblichen Problemen an den Mittelschulen geführt.
Es ist ein großer Irrtum zu glauben, es wären allein die Zugangsschranken, die Kinder aus den unteren sozialen Schichten davon abhielten, höhere Bildung zu erwerben. Der erleichterte Zugang zu höherer Bildung sichert nicht automatisch auch den Bildungserfolg. Die Ursachen, weshalb die sozioökonomische Stellung der Familien so große Effekte auf die Schulleistungen und die Schullaufbahn von Kindern haben, liegen vor allem in der kulturellen und kommunikativen Praxis in den Familien, im sozialen Beziehungsnetz und der Durchsetzungsfähigkeit bei Bildungslaufbahnentscheidungen begründet – sofern diese von den Eltern unabhängig getroffen werden können.
Wer mit Vorteilen die Schullaufbahn beginnt, erhält diese und baut sie aus – das ist durch unzählige Studien – unter anderem durch die IGLU–Tests – bewiesen. Wenn eine ausreichende Grundbildung für alle politisch garantiert werden soll, müssen die Nachteile, die Kinder aufgrund ihrer Herkunft mitbringen im schulischen Lernprozess minimiert werden.
Auch wir GRÜNEN glauben, dass eine wohnortnahe, inklusive, ganztägige, selbständige und anschlussfähige Oberschule die besten Voraussetzungen dafür bieten würde. Die Finnen machen vor, dass es geht. Allerdings – und dies ist, glaube ich, allen Teilnehmern der Reise des Haushaltsausschusses nach Finnland und Norwegen in der letzten Woche deutlich geworden – unter erheblich Anstrengungen, u.a. mit einem Schülerkostensatz von rund 18.000 Euro und einer Lehrerausbildung, die ihres gleichen sucht.
Natürlich unterstützen wir die im Antrag formulierten Ziele, auch wenn wir bezweifeln, dass die Koalition diese Herausforderung annimmt.