Annekathrin Giegengack: Kindertagesstätten kommt eine zentrale Bedeutung beim Ausgleich sozialer Benachteiligungen zu

Rede der Abgeordneten Annekathrin Giegengack zum GRÜNEN-Gesetzentwurf "Gesetz zur Stärkung von Kindertageseinrichtungen in Ortsteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf im Freistaat Sachsen" (Drs. 5/10649), 68. Sitzung des Sächsischen Landtages, 14. Dezember 2012, TOP 3

– Es gilt das gesprochene Wort –
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Sehr geehrter Herr Präsident,
meine Damen und Herren,

charakteristisch für die Lebenslage "Armut" ist, dass sie vielfältige Desintegrationseffekte umfasst und sich sozialräumlich niederschlägt. Wohngebiete in denen sich Menschen mit wirtschaftlichen und/oder sozialen Problemen konzentrieren sind gekennzeichnet durch hohe Einkommensarmut, fehlende oder unterdurchschnittliche Integration in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt z. B. aufgrund von Sprach- oder Bildungsdefiziten und einen erhöhten Jugendhilfebedarf. Diese Quartiere vollziehen meist über Jahre eine Abwärtsentwicklung d.h. die selektive Migration wird stärker, die sozial aktiven und kompetenten Bewohner wandern ab. Die Konflikte innerhalb solcher Quartiere spitzen sich zu, das Leben in diesen Quartieren, in denen sich die Benachteiligten konzentrieren, wird selbst benachteiligend.

Kindertagesstätten kommt in diesem Prozess eine wichtige gegensteuernde Bedeutung zu. Sie können den, sich in vielfältiger Form im Alltag der Kinder niederschlagenden, Desintegrationsprozessen effektiv entgegenwirken. So kommt Professor Holger Brandes in der durch das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst in Auftrag gegebenen Studie "Potenziale in Kindertagesstätten – Erforschung und Entwicklung der Potenziale von Kindertageseinrichtungen bei der Kompensation von Bildungsbenachteiligung von Kindern" von 2010 zu dem Ergebnis: "Generell schneiden Kinder im Grundschulalter bei Tests umso besser ab, je länger sie den Kindergarten besucht haben. Dieser Effekt ist besonders deutlich bei Kindern aus einkommensschwachen Familien oder mit Migrationshintergrund. Auch zeigt sich, dass das bei niedrigem Bildungs¬abschluss der Eltern gegebene (statistische) Risiko einer Rückstellung vom Schuleintritt durch frühzeitigen Kindergartenbesuch fast vollständig ausgeglichen wird. Aber: Die kompensatorischen Effekte sind nicht nur von der Dauer des Kindergartenbesuchs abhängig, sondern auch von der Qualität der Einrichtung! Diese Qualität hat zu tun mit der pädagogischen Konzeption und deren Umsetzung durch das Fachpersonal sowie den Rahmenbedingungen."

Über Dreiviertel der in oben angeführter Studie befragten Fachkräfte geben an, dass bildungsbenachteiligte Kinder besondere Entwicklungsprobleme in den Bereichen Konzentration, Problemlösefähigkeit, Sprache und sozial-emotionales Verhalten aufweisen, die es auszugleichen gilt. Die Zeit für Vor- und Nachbereitung ihrer pädagogischen Arbeit als auch für Beobachtung und Dokumentation jedoch weniger bis nicht angemessen sei. Hinzu kommt die notwendig intensivere Elternarbeit. "Kinder generell, insbesondere Kinder aus sozial belasteten Familien, benötigen klare Strukturen und Rahmensetzungen für ihre Entwicklung." Heißt es in der Studie von Brandes. „Sie bringen aus ihrem Elternhaus immer weniger Erfahrungen im Umgang mit elementaren Regeln und Strukturen des Zusammenseins mit. Ob dies mit einer falsch verstandenen ‚Partnerschaft‘ zum Kind zusammenhängt (Winterhoff), ist fraglich, eher schon mit Auflösungserscheinungen familiären Lebens durch Langzeitarbeitslosigkeit, extensiven Medienkonsum und Überforderung der Eltern und hieraus folgend einer Laissez-Fair-Haltung gegenüber den Kindern.“ Das heißt, Eltern müssen immer wieder angesprochen und motiviert, beraten und in ihrer Erziehungsarbeit begleitet werden. Außerdem ist in Krisensituationen auch von häufigeren Kontakten zu Vertretern des Hilfesystems auszugehen.

Die Personalkapazitäten der Kindertageseinrichtungen gehen mit diesem besonderen Förderbedarf nicht konform. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die in der Bertelsmann Studie "Wer fördert Deutschlands sozial benachteiligte Kinder? Rahmenbedingungen zur Arbeit von Kitas mit Kindern aus sozial benachteiligten Familien" befragten Kita-Leitungen den größten Handlungsbedarf bei der Verbesserung der Personalressourcen sehen.

Dieser Problematik versucht sich die geplante Gesetzesinitiative zu stellen. So sollen Kindertagesstätten in Stadteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf auf Antrag und unter Berücksichtigung eines Eigenanteils des kommunalen Jugendhilfeträgers besonders gefördert werden. Besonderer Entwicklungsbedarf liegt vor, wenn der Erwerbslosenanteil an der Bevölkerung des Stadtteils mindestens 15 Prozent, der Anteil von Leistungsempfängern nach SGB II an den Einwohnern des Stadtteils mindestens 30 Prozent und der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund mindestens 5 Prozent betragen. Eine Kindertagesstätte kann eine Förderung erhalten, wenn sie in einem Stadtteil liegt, der mindestens zwei der drei Kriterien erfüllt.

Der Gesetzentwurf soll es Mitarbeitern in Kindertageseinrichtungen ermöglichen – abweichend vom geltenden Personalschlüssel – zwei Stunden pro Tag zusätzlich für Vor- und Nachbereitung aufzuwenden. Besonderes Augenmerk soll auf die Möglichkeiten der aktiven Einbeziehung und Beratung von Eltern gelegt werden. Gute Ansätze hierzu enthält das Konzept der Kinder- und Familienzentren aus Leipzig, welche sich von einer Kindertageseinrichtung hin zu einem Anlaufpunkt für die gesamte Familie fortentwickelt haben, in denen auch die Eltern umfassend in den Alltag einbezogen werden. Durch den geplanten Gesetzentwurf ist die allgemeine Forderung nach einer Verbesserung des Personalschlüssels an Kindertageseinrichtungen nicht obsolet, er stellt vielmehr eine – dem be¬sonderen Förderbedarf von Kindern aus Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf entsprechende – Ergänzung dar.

Konkret soll in das Gesetz über Kindertageseinrichtungen in Sachsen (SächsKitaG) ein Paragraf aufgenommen werden, der eine Pauschalförderung für Kindertageseinrichtungen in Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf gemäß oben angeführten Kriterien vorsieht. Das Förderverfahren soll dem Förderverfahren in § 18 SächsKitaG entsprechen und in Form eines nicht rückzahlbaren Zuschusses erfolgen. Die Förderung soll für Personalausgaben aufgewendet werden. Die fachlichen Anforderungen, die Höhe der Förderung und die Möglichkeiten der Beantragung sollen in einer Rechtsverordnung ge¬regelt werden. Die Förderungsdauer soll ab Genehmigung eine Dauer von zwei Jahren aufweisen, Folgeanträge sollen bei Fortbestehen der antragsberechtigenden Rahmenbedingungen möglich sein.

Entsprechend der oben genannten Kriterien wird erwartet, dass mindestens 57 Kindertageseinrichtungen in den drei kreisfreien Städten einen Anspruch auf die Förderung erheben könnten. Damit wäre ein Mehrbedarf von insgesamt rund 2,4 Millionen Euro verbunden, wobei hiervon 603.000 Euro die kommunalen Jugendhilfeträger zu tragen hätten. Mit der Erhebung der statistischen Daten der Stadtteile wäre kein Mehraufwand verbunden, da die Kommunen und Landkreise diese Daten ohnehin erheben.

Wir bitten um Überweisung dieses Gesetzentwurfes an den Ausschuss für Schule und Sport.
Vielen Dank.

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