Antje Hermenau zur Aktuellen Debatte „50 Jahre Mauerbau“

Redebeitrag der Abgeordneten Antje Hermenau zur Aktuellen Debatte zum Thema: "50. Jahrestag Mauerbau" in der 39. Sitzung des Sächsischen Landtags, 30.06., TOP 1
Es gilt das gesprochene Wort!
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Sehr geehrter Herr Präsident,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
fangen wir doch erst einmal mit der Lehre an und gehen wir dann dem Punkt nach, warum uns diese Lehre eigentlich so wichtig sein muss.
Es gab Menschen nach dem Krieg, die der Meinung waren, sie müssten andere Menschen beschützen, bewahren, anleiten und vor den Großkapitalisten retten. Sie entschlossen sich zu herrschen. Die Leute liefen ihnen davon. Also begannen sie die Leute zu unterdrücken. Sie begannen, die Leute einzusperren. Sie haben sie getötet. Sie wollten sie vor etwas bewahren. Das ist die Lehre.
Sie gilt für alle Staatsformen, aber besonders für diese, die wir historisch gemeinsam durchlitten haben. Ich bin zwar erst nach dem Bau der Mauer geboren; ich habe sie aber erlebt und bin in dieser Zeit aufgewachsen.
Ich erinnere mich persönlich an Folgendes: Im Studium im Fach Wissenschaftlicher Kommunismus habe ich ein Traktat darüber geschrieben,  dass ich nicht nachvollziehen kann, wie ein Staat davon überzeugt sein kann,  seinen Bürgern das Beste zu tun, wenn er es nötig hat, sie einzusperren. Das  war meine Lebenssituation als junger Mensch.
Wenn Sie heute — etwas frech, wie ich finde — einen jungen Menschen nach vorne schicken, der die DDR nicht erlebt hat, um sich zu exkulpieren, ist das  nicht in Ordnung.
Bevor Sie klatschen, hätten Sie meinen Satz bis zum Ende abwarten sollen. Wenn Sie der Meinung sind — ich bin es übrigens auch —‚ dass die Demokratie ein gutes System ist, erwarte ich, dass Sie diese auch voll verteidigen und in aller Klarheit hier präsentieren. Ich habe heute Vormittag dazu eine Ausführung gemacht. Es hat mich gekränkt, dass Sie darauf verzichtet haben.
Ich glaube, dass die Demokratie verteidigt werden muss — und zwar offensiv. Es sind nicht alle Menschen in diesem Land davon überzeugt. Das hat auch damit zu tun, dass es diese Geschichte gegeben hat. Deswegen ist die Aufgabe eine andere, als einfach nur auf die Exkommunisten und Kommunisten  einzudreschen. Das ist meine Meinung.
Seit 1958 kursierte in Westdeutschland das Gerücht, dass die Operation Chinesische Mauer im Gang war. Ich habe nachgelesen, was Walter Ulbricht in der 33. Sitzung des ZK im Oktober 1957 gesagt hat — ich zitiere —: „Wir müssen alle Menschen davor bewahren, dass sie von den westdeutschen  Großkapitalisten ausgebeutet und erniedrigt werden.“ Ein paar Jahre später  haben sie die Mauer gebaut und haben es selbst übernommen, die Menschen auszubeuten und zu erniedrigen. So ist es ausgegangen. Die Begründung ist interessant: "Es ist bisher nicht gelungen, die Massen der Bevölkerung auch nur in den Grundfragen der Politik der Arbeiter-und-Bauermacht aufzuklären und zu  überzeugen. Das haben sie dann 40 Jahre lang hinter Gittern versucht. Es ist  nicht gelungen.
Ich erinnere mich an den Abend, als Schabowskis Gestammel nach 20:00 Uhr über das Fernsehen lief. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt bei mir zu  Besuch. Wir beredeten verschiedene Dinge. Wir hatten den Fernseher leiser  gestellt. Irgendetwas passierte. Wir bemerkten das. Wir hörten zu. Meine  Mutter brach in Tränen aus. Sie hatte bitterlich geweint. Sie sagte: Dafür haben  uns diese Idioten ein Leben lang eingesperrt und die Leute an der Grenze  erschossen. Das war ihr Fazit an diesem Abend. Ihr ganzes Leben war fast  vorbei. Das ist passiert. So muss man es auch hinnehmen.
Sie von der LINKEN versuchen, herauszukommen und zu sagen, dass Sie das  mit der Mauer verurteilt haben. Ich erinnere mich noch an Peter Porsch, der  andere Dinge gesagt hat. Die Mauer steht noch, meine Damen und Herren von  der LINKEN. Sie steht noch in Ihren Köpfen.
Sie haben recht, dass die Demokratie beweisen muss, dass sie in der Lage ist,  auch gesellschaftszerstörende Aktivitäten — zum Beispiel an den Finanzmärkten — einzuengen, zu beherrschen und Schiedsrichter zwischen den Interessen der Gruppen zu sein, die sich frei bewegen. Dieser Nachweis ist anzutreten. Er ist  noch nicht erbracht. Ihr Nachweis ist allerdings fehlgeschlagen. Sie haben bis  heute als Partei des sogenannten demokratischen Sozialismus keinen  Parteitagsbeschluss gefällt, in dem Sie detailliert beschreiben, wie der  demokratische Sozialismus aussehen soll. Sie drücken sich davor, weil Sie genau wissen, dass Sie keine Antwort darauf haben. Darüber reden wir heute auch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Am 11. November 1960 ging beim Ministerpräsidenten Grotewohl ein Brief von der Synode der Evangelischen Kirche der Union ein, in dem darauf hingewiesen  wurde, dass viele Menschen aus allen Berufsgruppen flüchteten — ich zitiere  —,„weil sie das Mindestmaß an Freiheit, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit  vermissen, das für sie zu einem sinnvollen menschlichen Leben dazugehört."
Offensichtlich wurde dieser Brief nicht ernst genommen, aber der Maßstab steht; denn der Maßstab ist die Menschenwürde. Dass Sie laut werden mussten, Herr Besier, ist beredt. Der Maßstab ist die Menschenwürde. Daran wird auch DIE  LINKE gemessen werden. Genau diese Diskussion führen sie auch. Das ist  richtig. Wenn hier aber von der neoliberalen Seite gesagt wird, ich würde  Sozialismus mit Demokratie vergleichen, dann ist das eine absurde  Interpretation, aber sie entscheiden selbst, wer für Sie spricht.
Eines ist klar: Immer dort, wo andere Menschen regieren, steht am Ende die  Frage nach der Menschenwürde, und zwar vor allen Dingen von denjenigen, die  regiert werden.
Die Demokratie hat nun einmal den Vorteil, dass man ohne großes Blutvergießen auch eine andere Regierung wählen kann.
Damit sind wir bei dem neoliberalen Freiheitsbegriff, der die letzten zwei  Jahrzehnte drastisch geprägt hat: Freiheit von Werten und von Verantwortung  für das Gemeinwesen. Freiheit heißt nicht unregulierte Wirtschaft. Deshalb  glaube ich, dass der Freiheitsbegriff neu diskutiert werden muss. Das, was nach der friedlichen Revolution als Pendelbewegung entstand, wird nicht 50 Jahre für  eine Argumentation ausreichen. Das stimmt einfach nicht. Die Freiheit gemeinsam neu zu definieren, nachdem die ersten Wunden überwunden sind  und man auch versucht, sich historisch mit dieser Epoche zu befassen — was ich richtig finde —‚ ist wichtig.
Die Menschen haben Angst. Sie haben Angst vor Risiken und sind lieber  fürsorglich behütet. Die Mehrheit der Menschen ist so. Das kann man mögen  oder nicht mögen, aber es ist eine Tatsache. Die Konservativen wissen sehr  genau, wovon ich spreche. Aber man muss diese Menschen doch ermutigen. Man darf sie nicht drangsalieren und man darf sie nicht paternalisieren. Man darf sich auch nicht vor der Wahrheit drücken und sie nicht ausdiskutieren. Auch das  geht nicht.
Vertrauen ist eine sehr harte Währung in der Demokratie. Die Menschen machen es derzeit sehr stark an der Wirtschaft und den Finanzmärkten fest. Die Wirtschaft braucht Freiheit. Das unterschreibe ich Ihnen. Aber sie braucht nicht  jede Freiheit und schon gar nicht braucht sie eine Freiheit von Werten und von  Verantwortung für das Gemeinwesen.
Diese neoliberale Freiheit, wie Sie sie interpretieren, meine Damen und Herren  von der FDP, hat dazu geführt, dass sich viele Menschen erschrocken haben,  erbost sind und sich jetzt wieder für unfreie Sicherheitsmodelle öffnen. Freiheit  in Verantwortung ist auch Maß halten. Die DDR-Regierung hat das offensichtlich  unterschätzt, obwohl sie sehr zügig mit dem Mauerbau begonnen hat. Der  Kampf für Freiheit braucht meiner Meinung nach Toleranz — aktive Toleranz,  glaube ich —‚ und dazu gehört auch, kritische Fragen stellen zu dürfen und  dafür nicht dauernd diffamiert zu werden, sondern sie auszudiskutieren, und dann sind sie weg. Dazu gehört es auch, scheinbar Selbstverständliches in Abständen, immer wieder infrage zu stellen und zu überprüfen. Auch das ist in Ordnung. Dann wird man manches bewahren und manches wird man ändern.
Das kann man als Klassenkampf interpretieren — das finde ich absurd —‚ das kann man als Entwicklung einer Zivilisation interpretieren — das finde ich gut —‚  und ich sage Ihnen: Ich bin ein freier Mensch, ich trage feiwillig Verantwortung,  und ich lebe in Würde.