Antje Hermenau zur Regierungserklärung Hochwasser

Seit dem Jahre 2002 haben Sie den Menschen vorgegaukelt, man könne mit einem Mehr an technischem Hochwasserschutz alles beherrschen
Redebeitrag der Abgeordneten Antje Hermenau zur Regierungserklärung „Wiederaufbau nach dem Augusthochwasser 2010“ in der 19. Sitzung des Sächsischen Landtages, 01.09., TOP 2
Es gilt das gesprochene Wort!
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Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
als am Nachmittag des 7. August dieses Jahres auch in verschiedenen Regionen der Oberlausitz örtlich wahre Sturzbäche nieder gingen, stand ich selbst zwischen Kubschütz und Hochkirch hinter Bautzen und machte meine persönlichen Erfahrungen.
Ich kann vieles nachvollziehen, was die Bürger sagten: keiner wusste genau Bescheid, alles stand ratlos herum. Ein einsamer Streifenpolizist teilte erschöpft mit, dass die Ortsdurchfahrt Steindörfel gesperrt sei. Er war wohl der einzige Polizist in der Gegend.
Wagemutige versuchten dann über die Dörfer zu fahren, in Meschwitz war damit aber schnell Schluss, denn derselbe Bach, der Steindörfel schon lahm gelegt hatte, hatte auch hier die Brücke überschwemmt.
Viele Menschen fühlten sich an diesem Tage allein gelassen und klagten über  fehlende Information. Lange Rettungswege und späte, unzureichende Hilfe kamen dazu. Wollen wir das jetzt immer öfter erleben und uns zumuten?
Schock, Verzweiflung, trotziges Anpacken, Erschöpfung, Wut – und das jetzt immer öfter?!
Sie, Herr Ministerpräsident, haben heute ausschließlich über Anpassungen an den Klimawandel geredet. Sie nennen das sogar eine „sächsische Klimapolitik“. Das ist überhöht, denn Sie haben kein einziges Wort zu den Ursachen des Klimawandels verloren und eher den Eindruck erweckt, es handle sich um Gottes Wille.
Der Klimawandel ist in seiner Heftigkeit von Menschen gemacht. Mit Gott hat das nichts zu tun.
Er hat zu tun mit Politikern, die sich nicht bemühen, an die Wurzel der Probleme heran zu gehen, sondern darauf vertrauen, dass die angeheiratete Werbeagentur in dieser politischen Traumehe schon gut genug von den wesentlichen Problemen ablenken wird. Rom konnte sich mit Brot und Spielen auch noch eine Weile über Wasser halten, aber Sie wissen, wie das endete.
Es hat zu tun mit Energiegiganten, die sich aufführen, als gehörte Ihnen diese Republik. Und – gehört sie ihnen, Herr Ministerpräsident?
Wer bei einer Klimadebatte die Energiefrage nicht berührt, hat das Ziel um viele Meilen verfehlt. Ich habe ja dieser Tage gelesen, Sie und Herr Morlok marschierten in dieselbe Richtung und das sei ja schon mal was. Sie alleine können das gerne machen, meine Herren, wenn Sie sich so gut leiden können. Das ist ein freies Land. Aber Sie ziehen viele Sachsen mit auf diesen Irrweg. Und da hört das Zwei–Herren-Wandervergnügen auf.
Wir stehen vor einem Jahrzehnt der Veränderungen und des Umbruchs. Politiker stehen vor ideologischer Ernüchterung und realistischer Lageeinschätzung in vielen Politikbereichen, denn die Bedingungen für unser Leben haben sich schon drastisch geändert und werden sich auch weiter drastisch ändern. Ideologische Gewissheiten zerrinnen in kürzester Frist, Grundentscheidungen unseres Gemeinwesens werden hart durch die Realitäten in Frage gestellt.
Wir Grünen haben uns diesen veränderten Lebensbedingungen in einer schweren Frage bereits entschlossen gestellt: In der morgigen Haushaltsdebatte werden wir den gesunkenen finanzpolitischen Rahmen akzeptieren. Wir werden aber auch eine Qualitätsoffensive zu den sächsischen Staatsfinanzen starten. Denn einfach nur ohnmächtig zu konstatieren, das es ist, wie es ist, ist keine Politik, sondern mitleiderregend.
Die CDU hat hier heute zugegeben, dass der Klimawandel stattfindet. Das stimmt mich zuversichtlich. Es ist ein erster Schritt zur umweltpolitischen Ausnüchterung der sächsischen Union. Aber dann war die Realität gleich wieder so schrecklich, dass Sie zurückschreckten und ins alte Muster zurückfielen. Statt Vorschläge für einen umweltgerechten Hochwasserschutz zu machen, beschimpfen Sie Bürgerinitiativen und Umweltschützer, manchmal auch stellvertretend durch Ihren Umweltminister, denen Sie Behinderungen beim Dämmebau vorwerfen.
Ratlosigkeit lässt herrisch werden, Herr Ministerpräsident. Das wirkt reichlich hysterisch:
Erstens
sollten Sie froh sein, dass es Bürger gibt, die in dieser wichtigen Frage weiter denken als Sie und sich auch rege an unserer Demokratie beteiligen anstatt königlich verärgert darauf herab zu blicken.
Zweitens
verfallen Sie gleich wieder in den grundsätzlichen Fehler der CDU–Politik zum Hochwasserschutz: seit dem Jahre 2002 haben Sie den Menschen vorgegaukelt, man könne mit einem Mehr an technischem Hochwasserschutz alles beherrschen.
Ein Ingenieur darf so denken, Herr Tillich, ein Ministerpräsident nicht!
Sie haben die Bürger in falscher Sicherheit gewiegt und ihre eigene Aufmerksamkeit der Natur gegenüber hatte wieder enorm nachgelassen. Der technische Hochwasserschutz hat seine Berechtigung, er reicht aber nicht! Ziehen Sie im naturnahen Hochwasserschutz und in der Eigenvorsorge nach!  Der Staat kann diese Aufgabe nur mit den Bürgern zufriedenstellend lösen.
Beispiel Drausendorf (bei Zittau):
Die PM der Landesdirektion Dresden vom Dezember 2007 war überschrieben mit „Drausendorf wird hochwassersicher“. Die Sicherheit sollte eine Deichinstandsetzung bringen. Die Leute fühlten sich sicher. Bis vor einigen Wochen das Wasser kam und den Deich nicht ernst nahm. Es hat nicht ganz so geklappt wie geplant, das Wasser hat alle überrascht – und an einer Bürgerinitiative oder an Umweltschützern lag das nicht!
Drittens
erwarten die Bürger natürlich Hilfe von der Politik, aber sie erlebten kommunale und Landesbehörden, die sich gegenseitig angreifen, Verantwortung abschieden und kleinliches Gezänk unter (ehemaligen) Parteifreunden aufführen – wie groß ist das Misstrauen in diese Landesregierung eigentlich innerstaatlich?!
Viertens
ist es einfach frech, demokratisch vorgebrachte Vorschläge anderer, wie z.B. den zur Eigenvorsorge,  mit lächelnder Chuzpe als eigene auszugeben, um seine Ratlosigkeit zu bemänteln – Sie nehmen da unangenehme Züge Ihres Koalitionspartners an. Sie betonen auf einmal die Eigenvorsorge. Das ist in der Sache ja richtig, aber Ihnen fällt die ideologische Scheuklappe erst jetzt angesichts der klammen Kassen und der Hilferufe aus der Bevölkerung nach finanzieller Unterstützung ab.
Sie hatten am 9. Dezember 2008 in der zweiten Lesung zum Doppelhaushalt 2009/2010 die Gelegenheit, unserem entsprechenden Antrag auf einen Fonds zur Förderung der privaten Hochwassereigenvorsorge zuzustimmen. Sie haben das ohne Aussprache abgelehnt. Sie hätten mit relativ wenig Geld erhebliche private Investitionen zur Eigenvorsorge auslösen können – und das zu einer Zeit, als die sächsischen Kassen noch nicht so klamm waren!
Und? Ist die sächsische Union in der Lage, sich diesen neuen Realitäten angemessen zu stellen? Haben Sie die Kraft? Oder flüchten Sie aus der Realität und verweigern sich neuen Einsichten, neuen Maßnahmen, neuen Aufgaben? Jetzt wird es ernst mit dem Gegensteuern und den Anpassungen beim Klimawandel! Das ist keine theoretische Debatte mehr! Die Natur lässt sich nicht mehr so einfach kanalisieren und eindämmen, nachdem wir sie selbst so hoch geheizt haben. Demut und Augenmaß sind jetzt gefragt.
Sie dachten, Sie müssten einfach nur bei Deichen und Dämmen aufrüsten und gut wär’s. Aber die Natur hat „nachgerüstet“ – ihre neuen Deiche sind schon wieder zu niedrig. Oder sie stehen am falschen Ort. …
Sie müssen diese Fragen nüchtern betrachten, um Menschen unnötiges Leid zu ersparen und Schäden auf Dauer zu begrenzen. Der Staat ist für die Bürger da – und wenn er es nicht in Luxusausführung sein kann, dann in einer klugen, ermutigenden und mitfühlenden Variante bitte! Landflucht gibt es für den Staat nicht.
Der Staat zieht sich aus der Fläche zurück. Rettungswege sind länger geworden. Aber er kann, ja, darf seine Bürger nicht ohnmächtig zurücklassen. Die Menschen brauchen neue Möglichkeiten zur Selbsthilfe: von Sirenen bis ehrenamtlichen Hochwasserhelfern vor Ort, von Rückhalteflächen bis zu einem sächsischen Wetterfonds, von leicht lesbaren Merkblättern bis hin zu Umsiedlungshilfen.
Ein zeitgemäßer Hochwasserschutz ist ein Mix aus technischem und natürlichen Hochwasserschutz. Seit Jahren werden in Sachsen keine Überflutungsgebiete mehr angelegt, obwohl immer mehr Flächen versiegelt oder landwirtschaftlich genutzt werden, die ersetzt werden müssten. Die verwaltungstechnische Begründung dafür ist hanebüchen.
Wir brauchen natürliche Auenlandschaften, die mit unterschiedlichen Wasserständen problemlos zu Recht kommen und wir brauchen angelegte Polder, die schnell zum Voll–Laufen geöffnet werden können. Wir brauchen das auch bei kleinen Fließgewässern und wir brauchen das an den Oberläufen – wenn nötig, durch grenzüberschreitendes Flussmanagement – nicht erst am Unterlauf wie bei der Elbe. Der Kollege Lichdi hat das hier in den letzten Jahren immer wieder vehement zu Recht vorgetragen.
Ein Fluss und sein Verhalten sind doch ein Tatsachenbericht seiner geografischen Umgebung und des Einwirkens seiner Anwohner. Wird er zugebaut, beginnt er zu wüten.
Ein zeitgemäßer Hochwasserschutz ermutigt und ertüchtigt die Bürger, selbst mögliche und notwendige Maßnahmen zu ergreifen. Unsere Fraktion wird wieder einen Antrag zur Eigenvorsorge im Hochwasserschutz einbringen, um Maßnahmen zur Bau– und Verhaltensvorsorge, angepassten Gebäudesanierung, Hochwasserschutz–Netzwerken oder die Anschaffung notwendigen Geräts wie z.B. Pumpen, anzuregen. Sie werden dem ja nun wohl endlich zustimmen nach Ihrem heutigen Vortrag in dieser Sache.
Die meisten Menschen in den betroffenen Regionen haben nicht viel Geld – Schadensbegrenzung oder Schadensvermeidung ist für sie also eine existentielle Frage. Gute Eigenvorsorge erhöht nicht nur die Eigenverantwortung des Einzelnen, auf die ein sich zurückziehender Staat angewiesen ist. Gute Eigenvorsorge vermindert auch das Angewiesensein auf staatliche Hilfen im Schadensfall.
Ein zeitgemäßer Hochwasserschutz kann mit ehrenamtlicher Hochwasserhilfe vor Ort Schäden minimieren und Leben retten. Diese Ehrenamtlichen müssen von professionellen Helfern geschult und in Übungen vor Ort ertüchtigt werden. Solche Hochwasserhelfer kennen sich vor Ort gut aus, können Helfer von außen einweisen, Nachbarn warnen, die Sirenen auslösen, die Kirchenglocken läuten und Panik vermeiden helfen.
Leicht lesbare Merkblätter für schnelles und umsichtiges Verhalten sind schnell gedruckt und verteilt. Im ländlichen Raum leben viele ältere Menschen – überlassen Sie die doch nicht ihrem Schicksal, nur weil die nicht googeln.
Ermutigen Sie die Landkreise und Bürgermeister zu schnellen Hilfen. Der Landkreis Görlitz hat das DRK, das bereit stand, viel zu spät abgerufen, weil wohl die Frage der Kostenübernahme nicht geklärt war. Offensichtlich genießt diese Staatsregierung nicht das Vertrauen der örtlichen Politik.
Sie haben mit der Kreisreform viele im Hochwasserfall nötige Helfer zentriert und damit deren Anfahrtswege verlängert. Da müssen Sie etwas ändern! Das sind Folgen Ihrer Politik. Aber  Sie beschimpfen erst einmal die allein zurückgebliebenen Bürgermeister im ländlichen Raum als lesefaule SMS-Muffel.
Lokal begrenzte heftige Hochwasser mit extrem kurzen Vorwarnzeiten bedeuten, dass schnell und gründlich informiert, dass schnell und konzentriert vor Ort gehandelt werden muss. Verzögerungen erhöhen materielle Schäden und gefährden Menschenleben. Manchmal war nur eine halbe Stunde Zeit, bis das Wasser kam. Ob man es 30 Minuten, 20 Minuten oder aber nur 5 Minuten vorher erfährt, hat enorme Auswirkungen auf die Schadenshöhe, wie Berichte vieler kleiner und Handwerksbetriebe klar machten.
Schnelle Kommunikation und eine hohe Sensibilität der Menschen vor Ort sind entscheidend, nicht die neue Spundwand. Unterstützung bei der Anschaffung einer Sirene muss der Staat anbieten, bevor er sich aus der Fläche zurück zieht. Bürgermeister sollen mit den Kirchen über Hochwassergeläut verhandeln. Es müssen wieder mehr Pegel in die kleinen Fließgewässer 2. Ordnung. Deren massiver Abbau in den 90er Jahren, als noch jede Reißzwecke wie im Westen aussehen musste, erweist sich jetzt als Problem. Die Lage hat sich geändert – wir müssen unsere sächsischen Maßstäbe an die Pegeldichte anlegen.
Der neue Landesentwicklungsplan muss entscheidende neue Schwerpunkte für den Hochwasserschutz enthalten:

  • Klarheit über alle potenziell hochwassergefährdeten Orte
  • Klare Regelungen für die Landestalsperrenverwaltung, wie Überlaufe und Wasserbewirtschaftung zu regulieren sind
  • Umgang mit Fliessgewässern 2. Ordnung trotz kommunaler Zuständigkeit (dichteres Pegelnetz)
  • Überarbeitete Bebauungs- und Nutzungspläne mit der klaren Ausweisung natürlicher Überlaufflächen, angelegten Poldern, Hochwasserentstehungs – und Hochwasserminderungsgebieten: Wir halten ein entsprechendes Kataster für erforderlich.

An dieser Stelle brauchen wir einen starken, handlungsfähigen Staat zum Nutzen vieler!
Wer soll das bezahlen?
Der geschätzte Kollege Weichert hat auf seiner Reise nach Görlitz und Hirschfeld betroffene Unternehmen besucht:
Kredite bringen nichts für Unversicherte und Eigenkapitalschwache. Sie werden Zuschüsse nachdenken müssen oder vielleicht GA–Anteile durch das Land finanzieren, weil die Unternehmer den Eigenanteil nicht aufbringen können. Da sind auch contracting–Modelle denkbar.
Die Unternehmer und Handwerker fragen zu Recht, wo die konkrete, wirksame Soforthilfe des Landes und des Bundes heute bleiben. Viele betroffenen KMU haben eine kleine Eigenkapitalquote – da sind zusätzliche Kredite keine Hilfe. Ein Firmensterben steht ins Haus – und das bei einer kleinbetrieblichen Struktur in unseren ländlichen Räumen!
Führen Sie unseren Hochwasserschutzfonds zur Eigenvorsorge für private und  Unternehmer ein, damit die Menschen sich selbst helfen können, die diesmal noch einmal davor gekommen sind. Installieren Sie ein schnelles Warnsystem für Unternehmen zur Rettung von Maschinen, Unterlagen etc. und legen Sie einen sächsischen Wetterfonds auf. Wir werden dazu in den Haushaltsberatungen auch einen Vorschlag vorlegen.
Und behaupten Sie nicht, es sei kein Geld da! Sie horten 1,5 Mrd. € an EU–Geldern, die garantiert zu einem gewissen Teil in Hochwasserschutzvorhaben umgewidmet werden können. Machen Sie das, verhandeln Sie das mit Brüssel – und zwar zügig. Das nächste Hochwasser kommt bestimmt.
Wenn der Mensch nicht dazu fähig ist, den Fluss zu ehren, ist er es nicht wert, durch ihn das Leben zu empfangen. Kodex Hammurabi