Gisela Kallenbach: Derzeit vollzieht sich das rasanteste Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier

Redebeitrag der Abgeordneten Gisela Kallenbach
zum Antrag der GRÜNEN-Fraktion "Biotopverbund in Sachsen schaffen" (Drs 5/14586)
(98. Sitzung des Sächsischen Landtages, 18. Juni 2014, TOP 13)

– Es gilt das gesprochene Wort –

Derzeit vollzieht sich nach einhelliger Meinung von Biologen weltweit das rasanteste Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier.
Es verläuft um das 100- bis 1000- fache schneller als die natürliche Rate. Wissenschaftler befürchten eine noch größere Herausforderung als die Dämmung der negativen Folgen des Klimawandels.
Dies betrifft nicht nur die tropischen Regenwälder und Korallenriffe, sondern ganz besonders auch unsere heimischen Lebensräume. Wir zerstören großflächig Lebensräume, beuten Tier- und Pflanzenbestände aus, verschmutzen Boden, Wasser und Luft und verstärken den Klimawandel. Diese Veränderungen geschehen so rasch, dass vielen Arten keine Zeit bleibt, sich an die neuen Lebensbedingungen anzupassen. Somit sterben sie aus. Von den Tier- und Pflanzenarten, die für die Rote Liste der Internationalen Naturschutzunion weltweit untersucht worden sind, gelten weltweit 29 % als gefährdet. In den Roten Listen des Freistaates Sachsen sieht das deutlich schlimmer aus:
In den 25 Roten Listen Sachsens sind etwa 12 000 Pilz-, Pflanzen- und Tierarten erfasst, davon 3.700 als „gefährdet“ und „stark gefährdet“ und weitere 1.000 als „vom Aussterben bedroht“.
Dies entspricht zusammen ca. 40 %!
Besonders dramatisch ist die Situation in den hiesigen Agrarlandschaften. Einst häufige Tiere, wie Feldhamster, Rebhuhn und Steinkauz, sind aus den meisten Gebieten des Freistaates verschwunden. Beim Kiebitz haben wir Rückgänge um über 80% in den letzten 20 Jahren zu verzeichnen. In Sachsen leben bundesweit die wenigsten Feldhasen.
Hauptursache des Rückgangs der biologischen Vielfalt in Sachsen ist die Zerstörung der natürlichen Lebensräume. Durch Intensivierung und Überdüngung von landwirtschaftlichen Flächen, durch die Zerstückelung, Überbauung und Zersiedelung der Landschaft v. a. durch Straßenneubauten sowie durch eine zunehmende Umweltverschmutzung. Giftige Chemikalien zerstören die Nahrungsgrundlagen: Pestizide und andere Gifte reichern sich in den Nahrungsnetzen an und schädigen vor allem diejenigen Arten, die am Ende der Nahrungsketten stehen.  Die Beseitigung von Feldrainen, Gehölzen und anderen Biotopen, aber auch durch immer engere Konzentration auf wenige  Anbaufrüchte – insbesondere Raps- und Maisschläge bieten nur noch sehr wenigen Arten Lebensraum – führen zu einer Strukturverarmung im Offenland. Der Verlust von Altbäumen in Siedlungen forciert durch die freistaatlich verordnete Aushöhlung kommunaler Gehölzschutzsatzungen, hat die Situation verschärft.
Es ist völlig klar: Betroffen vom Artensterben sind auch ganz viele Tier-, Pflanzen- und Pilzarten, die sich der öffentlichen Wahrnehmung entziehen. Und wenn einzelne Arten, die aus Ihrer Sicht meine Damen und Herrn der CDU und FDP dann niedlich, witzig oder lächerlich klingen, dann doch einmal im Fokus der Öffentlichkeit stehen, fällt es Ihnen leicht, sich darüber lustig zu machen:
Wenn der Verlust von Arten wie dem Schwarzstirnwürger, Blauracke, Haselhuhn, Moorente, Maifisch, Gelbbauchunke oder der Teichfledermaus uns bereits relativ egal ist, dann geht unsere Empathie beim Aussterben von Algenarten, Pilzen oder Laufkäfern gegen Null. Bei den Namen Eremit, Heldbock oder Schierling-Wasserfenchel wird wahlweise gegähnt oder gelacht.
Doch diese Ignoranz ist kurzsichtig – denn genau diese biologische Vielfalt aus all den Arten, die uns häufig nicht einmal geläufig sind, stellt die Grundlage unseres Lebens oder die Gesamtheit Gottes guter Schöpfung dar.
Es müsste daher ein Kernanliegen verantwortungsbewusster Politik sein und gerade auch das von Christdemokraten, die Schöpfung,  unser Naturerbe schonend zu behandeln und für künftige Generationen zu bewahren.
Das ist übrigens nicht nur eine ethische Verantwortung, nein es ist auch eine handfeste wirtschaftliche Notwendigkeit.
Es ist immer noch die Natur, die uns Nahrung, sauberes Wasser und Medikamente liefert. Insekten sichern unsere Ernten, indem sie Obst- und Gemüsepflanzen bestäuben und befruchten.
Intakte Wälder schützen uns vor Lawinen und Überschwemmungen, speichern große Mengen Kohlendioxid und sorgen für Abkühlung.
Für unsere Fraktion waren die genannten Gründe Anlass genug, aus dem Fundus und dem Wissen von vielen aktiven sächsischen Naturschutzpraktikern zu schöpfen und ihre Vorschläge zur Abwendung des Artensterbens zusammenzutragen.  Daraus ist über einen Zeitraum von 2 Jahren eine „Biodiversitätskonzeption von unten“ entstanden.
Für diese konkreten Handlungsempfehlungen danke ich den mehr als 65 Naturschutzpraktikern außerordentlich und erwarte, dass die Staatsregierung sich diese zu Eigen macht.
Einen ersten Test dazu können Sie mit der Zustimmung zu dem Ihnen vorliegenden Antrag bestehen.
Im Kern geht es uns in unserem Antrag um die Schaffung eines funktionsfähigen landesweiten Biotopverbundsystems mit einem Netz tatsächlich gesicherter Schutzgebiete. Bei der Umsetzung müssen landesweit einheitliche Auswahlkriterien für Kernflächen, Verbindungsflächen und Verbindungselemente des Biotopverbunds vorgegeben werden.
Es reicht nicht, wenn eine Behördenabteilung über viele Jahre im stillen Kämmerlein und mit eng begrenzten Kapazitäten an einer Rahmenplanung für einen sächsischen Biotopverbund arbeitet. Minister Kupfer muss der konkreten Ausgestaltung und praktischen Realisierung eines Biotopverbundprogrammes unter Einbeziehung der Öffentlichkeit deutlich mehr Gewicht beimessen. Die Bewahrung der Biologischen Vielfalt muss auf der politischen Agenda des Freistaates viel weiter nach oben rücken. Die konsequente Umsetzung eines landesweiten Biotopverbunds ist dabei das zentrale Element!
Warum ist das überhaupt noch nötig? Mit Sicherheit wird Minister Kupfer uns in wenigen Minuten ein Bild von Sachsen zeichnen, indem diese Staatsregierung mit ruhiger hand fast alle richtig gemacht haben wird, was nur richtig zu machen geht.
Nun, wir GRÜNEN sind kritischer und wohl auch realistischer als ihre an Hochglanzbroschüren orientierte Öffentlichkeitsabteilung.
Das Naturschutzrecht wurde zuletzt bei der grundlegenden Novelle des Sächsischen Naturschutzgesetzes 2013 geschwächt u. a. durch die Beschneidung der – eigentlich per Verfassung garantierten – Mitwirkungsrechte der Naturschutzverbände (§33 SächSNatSchG), die Aufweichung der sog. Eingriffsregelung (§§ 10-12 SächsNatSchG); die Abschaffung des Naturschutz-Vorkaufsrechts (§38 SächsNatSchG) und die schon angesprochene Beschränkung kommunaler Gehölzschutzsatzungen (§19 SächsNatSchG)
Und bevor Sie – Herr Minister Kupfer – das hervorragend funktionierende Schutzgebietssystem in Sachsen anfangen zu loben, möchte ich einen kurzen Blick in die Vergangenheit lenken: Unser Schutzgebietssystem beruht im Wesentlichen auf Naturschutzgebieten und den wenig wirkungsvollen Landschaftsschutzgebieten aus den 1960er Jahren. Mehr als 50 % aller NSG wurden bereits vor 1970 ausgewiesen. Nach 1989 gab es u. a. durch die neuen Großschutzgebiete auf ehemaligen Truppenübungsplätzen einen wertvollen Schub. Aber aber seit Ende der 1990er Jahre stagniert die Ausweisung von Schutzgebieten. Nur noch 5 % der jetzigen NSG wurden nach 2000 ausgewiesen. Insgesamt wurden in Sachsen mittlerweile 20 NSG wieder gelöscht, was knapp 10 % der heutigen NSG-Fläche entspricht. Vor allem aber stehen viele Schutzgebiete heute nur noch auf dem Papier, ein effektives Management, Monitoring oder gar die Ahndung von Verstößen findet nur noch punktuell statt.
Die Umsetzung der europäischen Flora-Fauna-Habitat- sowie Vogelschutzrichtlinie hat nach 2000 einen Großteil der Kräfte der sächsischen Naturschutzverwaltung gebunden. Doch sind die aufwendig erarbeiteten Managementpläne für nichtstaatliche Landnutzer unverbindlich. Und sie sind diesen überwiegend auch nicht bekannt. Die erlassenen "Grundschutzverordnungen" reichen nicht aus, einen "günstigen Erhaltungszustand" vieler Lebensraumtypen (LRT) zu sichern, zu dem die EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet sind. 23 % der in Sachsen vorkommenden LRT weisen einen unzureichenden und 13 % einen schlechten Zustand auf.
Nur in wenigen Regionen Deutschlands ist die Umsetzung des nach §21 BnatSchG gesetzlich vorgeschriebenen landesweiten Biotopverbundsystems so wichtig wie in den stark fragmentierten Landschaften Sachsens. Obwohl dieser Biotopverbund bis 2015 verwirklicht sein soll, existieren bisher offenbar kaum mehr als die bereits 2007 vom damaligen Landesamt für Umwelt und Geologie veröffentlichten "Fachlichen Arbeitsgrundlagen". Es steht zu befürchten, dass das SMUL seine Aufgabe am Ende lediglich mit einigen grünen Strichen auf der Sachsen-Landkarte zwischen den bestehenden Naturschutzgebieten erledigen will.
Die Freistaatsregierung hat "Kooperation vor Restriktion" zum Leitmotiv bei der Bewahrung der Biologischen Vielfalt erklärt. Im Klartext bedeutet dies: naturschutzgerechte Bewirtschaftung/Pflege von Biotopen, die sich nicht von sich aus "rechnen", muss mit Fördergeldern bewirkt werden. Gleichzeitig soll offenbar sächsisches Geld nur noch für solche Förderprogramme bereitgestellt werden, mit denen eine europäische Kofinanzierung mobilisiert wird. Dies hatte in der abgelaufenen Förerperiode eine extreme Bürokratisierung zur Folge, sodass viele potenzielle Antragsteller darauf verzichten mussten. Die mangelnde Zielgenauigkeit der pauschalen EU-Förderkriterien ging in vielen Fällen an den Ansprüchen gefährdeter Arten und Lebensräume vorbei. Es zeichnet sich ab, dass sich diese höchst problematische Entwicklung mit der neuen Förderperiode noch verschärfen wird. Generell gilt: die Biologische Vielfalt ist der Regierung Sachsens nur sehr wenig Geld wert. Es gibt im Freistaat 249 Förderrichtlinien, für die im Jahr 2013 insgesamt 2,7 Milliarden Euro zur Verfügung standen. Auf die Richtlinie "Natürliches Erbe" entfielen davon knapp 10 Millionen Euro – was gerade einmal 0,35 % aller Fördergelder für diese wichtige Daseinsvorsorge bedeutet. Allein für die Unterstützung kommunalen Straßenbaus steht zwölfmal so viel Geld zur Verfügung.
Der Freistaat Sachsen scheut heute offenkundig auch den Aufwand und die Kosten für landesweit bedeutsame Naturschutzprojekte. Hierzulande fand erst ein einziges, von der EU kofinanziertes LIFE-Projekt statt ("Doberschützer Wasser", 1994-96) und nur vier, überwiegend von der Bundesregierung finanzierte Naturschutz-Großprojekte. Aktuell befindet sich davon lediglich eines in seiner Verlängerungsphase – neue sind nicht in Sicht. Zusätzlich gab es in den 1990er Jahren erfolgversprechende Ansätze zu sogenannten Landesschwerpunktprojekten. Dieses Programm wurde stillschweigend eingestellt.
Bei den staatlichen Naturschutzverwaltungen sieht die Situation düster aus in Sachsen. Durch wiederholte Strukturreformen und nachfolgende Personalkürzungen einerseits und Zunahme verwaltungsbürokratischer Aufgaben andererseits sind heute die meisten Naturschutzbehörden nicht mehr in der Lage, allen ihren Aufgaben nachzukommen. Das betrifft insbesondere die Unteren Naturschutzbehörden der Landratsämter.
Gleichzeitig wächst die Kluft zwischen der obersten Naturschutzbehörde und der Naturschutzpraxis sowie deren Misstrauen gegenüber praktizierenden Naturschützern. Planungen (etwa für die Richtlinien zur neuen Förderperiode) sowie Studien (z. B. Pilotprojekte Biotopverbund) werden weitestmöglich von der interessierten Öffentlichkeit abgeschottet.
Die Naturschutzbeauftragten und -helfer – seit jeher eine wichtige Säule des Naturschutzes speziell in Sachsen – sind heute weit überwiegend im Rentenalter. Es herrscht akuter Nachwuchsmangel. Entgegen aller Lippenbekenntnisse und Symbolaktionen zeigt die Freistaatsregierung keinerlei Initiative, den ehrenamtlichen Naturschutz zu stärken.  
 
Erst letzten Freitag musste ich in der LVZ lesen, dass der Landschaftspflegeverband Nordsachsen erstmalig seit 30 Jahren die Beringung der Jungstörche nicht mehr durchführen kann. Grund sind die immer größeren bürokratischen Hindernisse, die die ehrenamtliche Arbeit behindern.
Kaum ein ehrenamtlicher Naturschutzhelfer ist heute beispielsweise noch in der Lage, die aufwendige Prozedur einer Fördermittelbeantragung für Biotoppflegemaßnahmen durchzustehen. Außerdem ist wirkliche Mitsprache bei behördlichen Entscheidungsprozessen nicht erwünscht. Die noch in den 1990er Jahren aktiven Naturschutzbeiräte haben ihre Arbeit fast überall eingestellt.
Mit den gleichen bürokratischen Hindernissen, vor denen die meisten Naturschutzhelfer kapitulieren müssen, haben auch die Umweltvereine und Landschaftspflegeeinrichtungen zu kämpfen. Immer mehr Zeit und Kraft wird für Bürotätigkeiten benötigt – Zeit und Kraft, die dem eigentlichen Anliegen, dem praktischen Naturschutz, am Ende fehlen. Gleichzeitig sinkt die Unterstützung durch staatliche Institutionen. Die wenigen noch existierenden Naturschutzstationen in Sachsen kämpfen um ihr Überleben. Viele Naturschutzstationen wurden mittlerweile von ihren einstigen Trägern, den Landkreisen, aufgegeben. Die landesweiten Umweltverbände stoßen bei ihren Versuchen, diese Trägerschaft zu übernehmen, seit Langem an ihre Kapazitätsgrenzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, dass deutlich geworden ist, welche Brisanz das Thema in Sachsen hat.
Deshalb: Stimmen Sie unserem Antrag zu. Wir müssen die dringend lebensnotwendige Kehrtwende schaffen.