Gisela Kallenbach: Europapolitik wird auch in Sachsen ernst genommen – 16 Monate nach Lissabon hat der Landtag endlich das Recht, die inhaltliche Position der Staatsregierung gegenüber Berlin und Brüssel mit zu bestimmen
Es gilt das gesprochene Wort!
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Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
manche Mühlen malen langsam! Im Frühjahr 2005 hat die damalige GRÜNE-Fraktion den Landtag zum Jagen tragen müssen, und mehr Kopfschütteln als Bereitschaft erfahren, sich mit dem Lissabon-Prozess auseinanderzusetzen.Ab dem 20. April 2011 soll Europapolitik auch in Sachsen ernst genommen werden – endlich, aber gut so!
Nach einer äußerst schweren Geburt ist der Vertrag von Lissabon Ende 2009 in Kraft getreten. „Einheit in Vielfalt“ – so soll das Europa der Bürgerinnen und Bürger aussehen. Dafür sollten wir auch im Sächsischen Landtag unseren Beitrag leisten. Das steht bisher noch aus.
In einer Synopse zur Europafähigkeit der Parlamente der Länder und des Bundes vom April 2009 heißt es zur Rechtsgrundlage in Sachsen: „Im Rahmen der Selbstverpflichtung der Staatsregierung hat diese dem zuständigen Ausschuss zugesagt, diesen über EU-Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung eigenständig und auf Nachfrage der Ausschussmitglieder zu informieren“. In der Rubrik Umsetzung steht geschrieben: „In dieser Legislaturperiode wurden dem Sächsischem Landtag keine schriftlichen Vorgänge zu EU-Angelegenheiten zugeleitet“ – und das mit einem Ministerpräsidenten an der Spitze, der selbst Mitglied des Europäischen Parlaments gewesen ist!
Aber das Soll nun „Schnee von gestern“ sein – jetzt wird alles anders! Vielleicht wäre es schon längst hilfreich gewesen, einen Blick ins „Ländle“ zu werfen, in dem ja Ihre CDU-Kollegen bisher Jahrzehnte regierten. In Baden-Württemberg war es seit Jahren üblich, die Ausschüsse und den Landtag in die inhaltliche Diskussion zu europäischen Themen, auch vor Abgabe der Stellungnahmen der Staatsregierung an den Bundesrat einzubeziehen. Heute hat Ba-Wü ein Informationsbeteiligungsgesetz, ohne dass die GRÜNEN in der Regierung waren – bemerkenswert!
Davon sind wir hier noch meilenweit entfernt.
Mit der heute endlich unterschriftsreifen Vereinbarung gehen wir erste Schritte in die richtige Richtung – auch Dank der GRÜNEN, die mit unserer Fraktionsvorsitzenden über das Memo of Understanding aktiv beigetragen hat, dass es Verabredungen über den heutigen Tag hinaus gibt.
Das ist schlichtweg Ausdruck unserer Europaaffinität, die uns seit Jahrzehnten prägt.
Es reicht eben nicht, in langatmigen Aktuellen Debatten nach finanzieller Unterstützung aus Brüssel zu rufen. Wir müssen als Abgeordnete endlich das Recht bekommen, die inhaltliche Positionierung der Staatsregierung gegenüber Berlin und Brüssel mit zu bestimmen. Das Recht gibt uns der bereits genannte Lissabon-Vertrag, in dem nicht nur das Subsidiaritätsprinzip festgeschrieben wurde.
Er macht die EU demokratischer, handlungsfähiger und transparenter und ermöglicht mehr Mitbestimmung für die Bürgerinnen und Bürger der Union – und das muss auch für uns Abgeordnete gelten.
Ich bin sehr gespannt, wie die Staatsregierung uns zukünftig unverzüglich schriftlich über alle Vorhaben, die für den Freistaat von erheblicher landespolitischer Bedeutung sind und wesentliche Interessen des Landes unmittelbar berühren, unterrichtet und unsere Stellungnahme erwartet.
Dass es in Sachsen hinsichtlich Beteiligungs- und Informationsrechten des Parlamentes mächtigen Nachholbedarf gibt, fällt mir im Übrigen nicht nur bei Europa-Angelegenheiten auf.
Herr Präsident,
wäre es nicht z.B. ein gutes Signal und Zeichen gewesen, die von Ihnen unterzeichnete „Stuttgarter Erklärung“ der Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landesparlamente auf die Webseite des Sächsischen Landtages im Sinne einer guten Bürgerinformation zu setzen? In verschiedenen Landesparlamenten war diese Erklärung sogar Gegenstand der Debatte im Landtag. Sie haben sich mit Ihrer Unterschrift als Europäer geoutet, konnten sich der Unterstützung der Staatsregierung leider nicht versichern und waren daher möglicherweise zögerlich auch hinsichtlich des Zustandekommens der nunmehr vorliegenden Vereinbarung.
Nochmals: Inkrafttreten Lissabonvertrag Dezember 2009. 16 Monate später werden uns die verbrieften Rechte zugestanden.
Dass es dafür anschließend für das Präsidium Sekt geben soll, wirft Fragen auf: Wollen Sie sich Mut antrinken für den anstehenden Kampf mit der Staatsregierung, die ja entscheidet, welche Vorlagen uns zugeleitet werden sollen oder auch nicht?
Ich kann dem Europaminister zusichern, dass wir zukünftig sehr genau hinschauen werden, was uns vorgelegt wird und was anderen Landesparlamenten – dafür sind wir gut genug vernetzt.
Was Sie uns bisher im Verfassungs-, Rechts- und Europaausschuss an Informationen gegeben haben, gleicht eher einer Informationsveranstaltung für Gymnasiasten und wird der Würde eines Abgeordnetengremiums keinesfalls gerecht.
Dennoch: heute ein historischer Moment für Sachsen in Sachen Europa und ein für mich auch bisher einmaliger Vorgang: alle demokratischen Fraktionen in diesem Haus handeln gemeinsam – trotzdem: so ganz zufrieden bin ich nicht: Um alle mit ins Boot zu holen, haben wir mal wieder den Pudding an die Wand genagelt und uns unnötig und in vorauseilendem Gehorsam unserer eigenen Rechte als Parlamentarier, insbesondere dem der Anhörung, beschnitten. Im Vergleich dazu, was andere Landtage da auf die Beine gestellt haben, ist mir das zu wenig.
Daher ist es umso wichtiger, dass wir nach einem Jahr die getroffenen Regelungen sorgfältig evaluieren und nach Ablauf dieser Frist gemeinsam den Mut zu mehr Europa in Sachsen aufbringen und spätestens nächstes Jahr zufriedenstellende abschließende Regelungen treffen. Vielleicht gibt es dann in Sachsen auch wieder einen expliziten Europaausschuss.
Möglicherweise beteiligt sich dann auch die Fraktion der FDP, die sich erstaunlicherweise so kaum am Entstehungsprozess dieser Vereinbarung beteiligt hat. Ich weiß nicht, ob Sie über geheime Zirkel am Informationsfluss über den Staatsminister aus Ihren Reihen beteiligt sind – aber vielleicht haben Sie auch nicht ganz begriffen, worum es eigentlich geht?
Erstaunlich fand ich schon die Anmerkungen von Kollegen Biesok im Ausschuss, der bisher das Anhängsel Europa trägt – meiner Forderung nach der Vorlage schriftlicher Informationen über die Stellungnahme der Staatsregierung, z.B. zum 5. Kohäsionsbericht der Kommission, kommentierte er in etwa wie folgt: „Lassen wir doch die Staatsregierung handeln, und wenn sie uns dann mal informiert – dann ist das gut“ – eigentlich wäre das ein Indiz dafür, dass wir, werte Kolleginnen und Kollegen, uns Ausschuss- und Plenarsitzungen schenken könnten. Eine Info per SMS oder Mail würden doch ausreichen. Noch einfacher und kostengünstiger wäre es, den Landtag ganz abzuschaffen und die Staatsregierung wird „tun und lassen“ – sie wird es schon richten.
Nein, das lassen wir nicht zu.
Europa braucht auch uns und das gerade jetzt, in Zeiten von Finanzkrise und Flüchtlingsdramen vor unserer Haustür. Wir werden jedenfalls mit Nachdruck dafür arbeiten, dass es in Sachsen nicht bei einer Europaflagge auf dem Dach, dem Ruf nach möglichst vielen Fördermitteln und plakativen Händeschütteln mit Sektglas bleibt.