Gisela Kallenbach: Gute Ideen kommen aus Sachsen. Allerdings dauert es, bis sie sich hier durchsetzen können

Redebeitrag der Abgeordneten Gisela Kallenbach zur Fachregierungserklärung "300 Jahre Nachhaltigkeit – Jubiläum einer Idee aus Sachsen", 69. Sitzung des Sächsischen Landtages, 30. Januar 2013, TOP 1

– Es gilt das gesprochene Wort –
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

von 38.000 Hühnern in einer Mastanlage bei Döbeln dürfen täglich 2%, also 760 Tiere eines unnatürlichen Todes sterben – ohne, dass dieser Fakt als bedenklich oder gar meldepflichtig gilt. Den Anwohnern steigt der Kadavergeruch unangenehm in die Nase; Grenzwerte werden nicht überschritten; als unabänderliche Tatsache vom Gesetzgeber sanktioniert, Handlungsbedarf wird nicht gesehen.

Ist das Nachhaltigkeit in der Praxis?

Kaum ein Wort wird so inflationär gebraucht wie das der Nachhaltigkeit – das haben weder Carl von Carlowitz noch Gro Harlem Brundtland verdient!

Nun liegt uns also eine solche Strategie – so zumindest der Name – aus dem Freistaat vor. Da werden Ziele und Indikatoren benannt. Wie Sie diese erreichen wollen, verraten Sie uns leider nicht. Vielmehr gehen Sie davon aus, dass die Politik in Sachsen – egal in welchem Bereich grundsätzlich der Nachhaltigkeit verpflichtet ist – es bedarf nur noch der „Stärkung, Förderung, Erhöhung und: Zitat: „einer noch konsequenteren Vernetzung der Fachpolitiken“. Dabei fühlen Sie sich dem Erbe, der Tradition verpflichtet…

Herr Staatsminister; dieser Schreibstil erinnert mich sehr an die Gepflogenheit in einem Land, in dem ich zu lange leben musste und das – Gott sei Dank – nicht mehr existiert.

Niemand stellt in Abrede, was sich seit 1990 gerade im Umweltbereich und im Erscheinungsbild unserer Städte und Dörfer verbessert hat; aber es ist unzulässig, die energiebedingten CO2- Emissionen mit 1990 als die Dreckschleudern der DDR noch existierten, zu vergleichen. Bewerten Sie doch, was Sie jetzt tun.

Vor drei Monaten eröffnete Ministerpräsident Tillich den Kraftwerksblock R in Boxberg. Das bringt fünf Millionen Tonnen mehr Treibhausgase im Jahr. Wie Sie mit dem Treueschwur auf die Kohle die „Verringerung der Emissionen von Treibhausgasen“ erreichen wollen, ist mir schleierhaft. Aktuell liegt der Pro-Kopf-Ausstoß von CO2 in Sachsen bei 14 Tonnen; wirklich nachhaltig und klimaverträglich wäre 1 Tonne! Die Ausbauziele bei den Erneuerbaren Energien stellen Sie infrage und solche für Solarthermie oder Photovoltaik sucht man im Landesentwicklungsplan vergeblich.

Sehen wir uns den Verkehrsbereich an: Wer Rad fährt, emittiert gar kein CO2,; aber Geld für Radwege gibt der Freistaat ganze 87 Cent je Einwohner und Jahr aus. CO2-Emissionen sind bei Nutzung des PKW um ein Vierfaches höher als bei der Bahn. Nachhaltig wäre also die praktische und nicht nur verbale ÖPNV-Förderung. Was macht der Freistaat?

Sie geben die steigenden Bundeszuweisungen für den Öffentlichen Verkehr nicht an die Verkehrsverbünde weiter, und kürzen nochmal kräftig. Von den Bundesgeldern zur Förderung der kommunalen Verkehrsinfrastruktur setzen Sie weniger als 15 Prozent für Bus und Bahn ein.

Barrierefreiheit wollen Sie als generelles Gestaltungsprinzip festschreiben. Eine Entsprechung bei den Indikatoren suchen wir vergeblich.
Ein weiteres hehres Ziel ist die Reduzierung der „Flächenneuinanspruchnahme bis 2020 auf unter 2 ha/Tag”.

Mich würde sehr interessieren, durch welche Instrumente Sie das umsetzen wollen. Konkrete Vorhaben sind weder im Doppelhaushalt noch im Landesentwicklungsplan oder im Landesverkehrsplan erkennbar, eher das Gegenteil. Dem widerspricht auch, dass die Mittel für die Brachflächenrevitalisierung auf die Hälfte im Vergleich von 2011 zu 2014 gekürzt wurden.

Sie reden von Vielfalt an Lebensräumen und Arten und Biotopverbund.

Das sind, meine Damen und Herren die Mindestvoraussetzungen für den Erhalt der Lebensgrundlagen und hat mit einer besonderen Leistung aber auch nichts gemein.

Leider steht auch hier Ihre Politik den Zielen diametral entgegen: Geld für den Ankauf von Naturschutzflächen gibt es nicht, das Vorkaufsrecht wurde abgeschafft und auf Gestaltungsspielraum verzichtet.

In Sachsen sterben massenhaft Bienen. Ursache ist nicht nur die Varroa-Milbe, sondern vor allem die Landwirtschaft mit ihrem Pestizidmissbrauch. Sachsens einst vielfältige Kulturlandschaft ist dank Agroindustrie eine Agrarsteppe geworden. Auf 85 % der Flächen wachsen Getreide, Raps und Mais – nicht zuletzt protegiert durch die Förderpolitik des Landes.

Vorbildlich klingt die Bedeutung von Gesundheit und Lebensqualität.
Dass Sie für den Wert von Bäume und Hecken keinen Sinn haben, hat Ihr Baum-Ab-Gesetz mehr als deutlich gezeigt. Aber was ist mit Lärmschutz und sauberer Luft ?

Die Anwohner des Flughafens Leipzig/ Halle wissen: Lärmschutz ist Gesundheitsschutz.

Als Haupt – Gesellschafter sind Sie verantwortlich für lärmminderndes Management – hier versagt der Freistaat umfänglich.

Kommen wir zu weiteren Politikfeldern, z.B. zur Bildung – auch hier wieder viel Eigenlob, wie zur Betreuungsquote – im Übrigen ein bald einklagbarer Anspruch.

Interessant wird erst, worauf Sie nicht eingegangen sind. Kein Wort zur Umsetzung des einst von diesem Haus beschlossenen Bildungsplanes. Kein Indikator weist auf Veränderungen im Betreuungsschlüssel hin oder gar auf eine Strategie, wie dem bevorstehenden Lehrermangel zu begegnen sei. Da begnügen Sie sich mit der Problembeschreibung – das ist schlichtweg zu wenig. Lebenslanges Lernen klingt gut, aber auch wieder nur auf dem Papier – wie begründen Sie die Kürzungen im Haushalt für die Weiterbildung oder die versagte Freistellung für Bildung, wie befördern Sie die nötige Nachqualifizierung?

Wo stehen Aussagen zum Beitrag der Wissenschaft für eine zukunftsfähige Entwicklung? Der einzige Indikator: die Anzahl der internationalen Hochschulpartnerschaften ist mehr als ein schlechter Witz! Zwei dürre Sätze zur Rolle der Hochschulen – deutlicher kann man deren Zukunftsrolle nicht herabwürdigen.

Noch spannender wird es bei der Finanzpolitik:
In drei dünnen Sätzen zählen Sie die angestaubten Lorbeeren auf und verweisen auf die Risiken durch den Rückgang der Aufbau-Ost-Gelder und
– ja und was?! Eine Strategie ist diese hilflose Aufzählung nicht, eher ein ängstliches "Weiter so, Genossen!"

Nur einige wichtige Gedanken zu einer grünen nachhaltigen Finanzpolitik.

Zum Ersten kann man nicht mehr an Infrastruktur bauen, als man hinterher auch unterhalten und reparieren kann. Alles was darüber liegt, ist ein böser Dauergriff in den Dispo!

Damit frei nach Carlowitz: Baue nur so viel Straßen, wie Du auch hinterher reparieren kannst!

Zum Zweiten, muss man natürlich die Städte und Dörfer hegen und pflegen, denn dort findet das wirkliche Leben statt.

Wieder frei nach Carlowitz: Lass die Kommunen nicht verkümmern, damit Du auch morgen noch viele Menschen hast, die gerne in Sachsen leben und arbeiten wollen.

Zum Dritten, völlig richtig, muss man den Staatshaushalt ohne neue Schulden aufstellen können. Man sollte auch die Pro – Kopf – Verschuldung konstant halten, wenn die Bevölkerungszahlen sinken. Alles richtig, aber sinnlos, wenn man den Finanzminister am Parlament vorbei ermächtigt, fast zwei Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen zu können, um große Lasten aus der Bürgschaft für die Pleite gegangene Sachsen LB zahlen zu können. Dagegen sind ein Griff in den Dispo oder die minimale Schuldentilgung lediglich ein bisschen Show fürs Volk.

Und nochmals frei nach Carlowitz: hier sieht man den Wald vor Bäumen nicht.

Die Schieflage bei der s.g. Nachhaltigkeitsstrategie des Freistaates lässt sich vortrefflich daran erkennen, dass das Wort „sozial“ oder Sozialpolitik darin gar nicht auftaucht und in der Fachregierungserklärung zwar zur Beschreibung der bekannten drei Säulen benutzt wird, jedoch lediglich, um den weiteren Raubbau an heimischen fossilen (und auch alternativer!) Energieträger zu begründen, weil somit Arbeitsplätze geschaffen werden.

Ich habe weitere Fragen: wo finde ich Aussagen zur Armutsbekämpfung, zu einer Strategie gegen Arbeitslosigkeit, zu einem Präventionskonzept. Wenn Sie Fachkräftepotentiale sichern und nutzen wollen, sollten Sie zumindest den Bedarf konkret nach Branchen kennen, auch im Öffentlichen Dienst – eine solche Analyse ist die schlichte Voraussetzung für nachhaltiges Handeln, aber sie gibt es nicht!

Alte Menschen sollen möglichst lange zu Hause und selbstbestimmt leben können – schön wäre es. Bisher setzen Sie zu einseitig auf die stationäre Versorgung und überlassen innovative Ideen z.B. der Wohnungswirtschaft.

Gute Ideen kommen aus Sachsen. Allerdings dauert es, bis sie sich hier durchsetzen können. Dass Sie heute 300 Jahre Nachhaltigkeitsidee würdigen, ohne den Praxistest zu bestehen, lässt befürchten, dass es mit dieser Staatsregierung weitere 300 Jahre dauern würde, bis wir von wirklicher Nachhaltigkeit in Sachsen sprechen können. Inzwischen würde sich der Oberberghauptmann von Carlowitz im Grabe drehen – das wollen wir verhindern.

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