Johannes Lichdi: Tillich duckt sich in bekannter Manier weg, wenn Verantwortung zu übernehmen ist

Redebeitrag des Landtagsabgeordneten Johannes Lichdi zum Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „NSA-Überwachungsaffäre: Voll-Überwachung internetbasierter Kommunikation stoppen – Datensicherheit im Freistaat Sachsen stärken“, (Drs 5/12678),
82. Sitzung des Sächsischen Landtages, 18. September 2013, TOP 10
– Es gilt das gesprochene Wort –
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Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren,
ich werde eine Rede halten, die Ihnen nicht gefallen wird.
Dazu besteht allerdings angesichts der Totalausspähung aller unserer Freiheitsäußerungen und dem Desinteresse und Totalversagen der verantwortlichen schwarz-gelben Regierungen aller Anlass!
I. Das Ausmaß der Überwachung
Unsere gesamte elektronische Telekommunikation über das Internet, unser E-Mail-Verkehr sowie unsere Mobilfunkkommunikation wird gespeichert und ausgewertet.
Die USA greifen nach dem Geheimbeschluss eines sogenannten „Gerichts“ auf die Daten bei Internetprovidern zu und analysieren sie mit dem Programm Prism. Dabei erhalten sie nicht nur Verbindungsdaten, sondern auch Zugriff auf Dateninhalte, womöglich in Echtzeit. Zahlreiche Hersteller haben bei ihrer Verschlüsselungssoftware eine Hintertür für die NSA eingebaut.
In Deutschland greift die NSA im Monat mindestens 500 Mio. Datensätze ab, davon 180 Mio. mit XKeyscore. Nach Aussagen von Edward Snowden kann mit XKeyscore per Suchmaske jede elektronische Kommunikation in Echtzeit abgehört werden. Die NSA liest bei Outlook mit, übrigens das Mailprogramm des Sächsischen Landtags. Die NSA überwacht den Bankdatenverkehr.
England zapft mit dem Programm Tempora aus Überseekabeln den gesamten Internet-Verkehr ab, speichert ihn für 30 Tage und reicht ihn zur Auswertung an die Amerikaner weiter. Inwieweit die Angloamerikaner auch deutsche Datenknotenpunkte wie den in Frankfurt abhören, ist bisher nicht bekannt geworden.
Die Engländer schrecken sogar nicht davor zurück, ihre Partner in der EU bei einem G8-Gipfel abzuhören. Auch die NSA hat diplomatische Vertretungen Deutschlands und der EU angezapft.
Meine Damen und Herren, wir haben Edward Snowden zu danken, dass er uns die Augen geöffnet hat. Es ist ein Skandal, dass sich dieser Mensch, der sich wie kaum ein anderer um unsere Freiheit verdient gemacht hat, in Putins Russland verstecken muss!
II. Offensichtliche Verfassungswidrigkeit der Überwachungspraxis
Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Hans-Jürgen Papier, hat zu Recht am 5. August festgestellt: [Das Programm der NSA liege] „weit jenseits dessen, was das BVerfG in seinen Urteilen zur Vorratsdatenspeicherung und Telekommunikationsüberwachung noch für akzeptabel erachtet hat“.
Angesichts dessen, was wir heute wissen, müssen wir berechtigte Zweifel hegen, ob wir noch in einem Rechtsstaat leben. Im Lichte der Enthüllungen von Snowden war unsere gesamte rechtspolitische Auseinandersetzung der letzten 15 Jahre um den großen Lauschangriff, den Staatstrojaner oder die Vorratsdatenspeicherung eine niedliche Schaufenster-Veranstaltung im rechtsstaatlichen Sandkasten, den uns die Geheimdienste zur Ablenkung zugewiesen haben.
Rechtsstaatliche Einschränkungen von Überwachung missachtet
Die anlasslose Totalüberwachung der elektronisch vermittelten Kommunikation verstößt gegen den fundamentalen rechtsstaatlichen Grundsatz, dass Eingriffe in die Freiheit der Bürger nur gegen Verdächtige und Störer zulässig sind. Eine Beschränkung der schweren NSA-Eingriffe auf schwere Straftaten oder Gefahr besteht nicht. Ein Schutz von Berufsgeheimnisträgern wie Geistlichen, Ärzten, Journalisten oder Abgeordneten gibt es ebenso wenig wie den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung. Die Totalspeicherung und Ausforschung ermöglicht und bezweckt die Erstellung von Kommunikations-, Bewegungs- und Sozialprofilen bis hin zu einem vollständigen Persönlichkeitsbild. Dies hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich verboten.
Totalüberwachung als Normalfall
Jede und jeder wird so in einen digitalen Käfig gesperrt. Nicht mehr die freie, geschützte Kommunikation ist der Normalfall, sondern die Totalüberwachung aller elektronisch vermittelten Lebensäußerungen. Diese faktisch totale Rechtlosstellung des Bürgers, das ist die Kernschmelze des Rechtsstaats! Die Totalüberwachung beraubt den Menschen seiner Würde und seines Persönlichkeitsrechts im Kern. In den Augen der Geheimdienste sind wir nur Datenspielmaterial, das hemmungslos nach allen Regeln der Kunst auszuquetschen ist.
Verfassungsrechtliche Schutzpflicht
Die Bundesregierung vernachlässigt im Übrigen ihre verfassungsrechtliche Schutzpflicht: Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass es "zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland gehört, für deren Wahrung sich die Bundesrepublik in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen muss", "dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf".
Wir erkennen jetzt deutlicher: nicht nur Diktaturen, auch formale Demokratien können zum Überwachungsstaat mutieren! Es ist eingetreten, wovor seit Jahren viele gewarnt haben, nicht Al Quaida gefährdet die Demokratie, sondern die Reaktion der Staaten auf die Terroranschläge!
Deutsche Behörden gehören zu den Tätern
Die deutschen Geheimdienste gehören zu den Tätern. Diese NSU-Versager haben die deutsche Öffentlichkeit nicht etwa vor der Ausspähung geschützt, ganz im Gegenteil, sie haben sich bemüht, auch ein paar Brocken vom angloamerikanischen Überwachungskuchen abzubekommen!
Der BND und das BfV kooperieren mit der NSA und haben das Programm XKeyscore erhalten. Im Gegenzug liefern sie die damit in Deutschland abgefischten Daten an die Amerikaner. Die deutschen Geheimdienste sind über einen Ringtauschverbund an dem Datenschutzverbrechen beteiligt. Der läuft nach dem Motto: „Ich spionier deine Bürger und du meine Bürger aus, und danach tauschen wir die Ergebnisse.“ So werden innerstaatliche Hürden bewusst umgangen. Die Geheimdienste sind nichts anderes als kriminelle Organisationen im Gewand von Behörden.
III. Die Nichtreaktion der Bundesregierung
Kein Wunder bei der Verstrickung deutscher Geheimdienste, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung so tut, als sei nichts geschehen. Innenminister Hans-Peter Friedrich, die personifizierte Ahnungs- und Hilflosigkeit, sowie Kanzleramtsminister Ronald Pofalla, das personifizierte Beruhigungsplacebo der Rauten-Kanzlerin, wollen der deutschen Öffentlichkeit weismachen, es sei nichts passiert, was man nicht in vertraulichen Gesprächen mit den amerikanischen Freunden ausräumen könnte.
Sascha Lobo urteilt härter, ich zitiere: "Auf der Zielgeraden vor der Wahl hat die Bundesregierung damit nicht nur gezeigt, dass sie im Zweifel auf eisenharte Desinformation, gezielte Unwahrheit und dreiste Verschleierung setzt. Sondern auch, dass die hohe Zahl der Versäumnisse, Falschvorhaben und Fehlschläge kein Zufall ist. Sie ist ein Produkt der konsequenten Missachtung der digitalen Welt und der Leute, die sich darin bewegen."
Was wäre dagegen von der Bundesregierung zu verlangen?
1. Endlich Aufklärung statt Verschweigen!
2. Klagen vor dem EuGH gegen Großbritannien und vor dem Internationalen Gerichtshof gegen die USA
3. Keine safe-harbour-Abkommen mit den USA und den anderen Überwacherländern mehr
4. Kein transatlantisches Freihandelsankommen ohne ausreichenden Datenschutz
5. Klare Datenschutzregeln in der EU-Datenschutzgrundverordnung und Datenschutz-Richtlinien und Einbeziehung der Nachrichtendienste in die EU-Zuständigkeit sowie ein effektives Verbot der anlasslosen Totalüberwachung
6. Novellierung des UN-Übereinkommens zum Schutz der Bürgerrechte
IV. Wie sieht es in Sachsen aus?
1. Ausspähung in Sachsen
Die Staatsregierung will nichts über das Ausmaß der Ausspähung in Sachsen wissen. Es interessiert sie aber auch nicht. Was haben Sie denn unternommen, um dies festzustellen? Glauben Sie allen Ernstes, dass keine sächsischen Daten abgegriffen würden, nur weil der Generalstaatsanwalt seinen Prüfvorgang schon wieder eingestellt hat?
Nach einer aktuellen KPMG-Studie zu e-Crime in der deutschen Wirtschaft hat jedes vierte befragte Unternehmen angegeben, von e-Crime betroffen zu sein. Glauben Sie im Ernst, dass sächsische Unternehmen und Forschungseinrichtungen so hinter der Weltspitze hinterherhinken, dass sie für die Amerikaner und Briten keine lohnenden Ausspähobjekte wären?
2. Spionageabwehr
Was unternehmen Sie eigentlich zur Stärkung der Spionageabwehr? Aber nennen Sie jetzt bitte nicht das Landesamt für „Verfassungsschutz“. Anders als der Datenschutzbeauftragte und die Linke halten wir diese Versagerbehörde für denkbar ungeeignet. Wie sieht denn die Spionageabwehr des LfV aus? Auf eine Kleine Anfrage bekam ich die Antwort:
„Das LfV Sachsen führt bei sächsischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen Sensibilisierungsgespräche durch, bei denen es allgemein auf die Gefahr von Datenabflüssen in Firmennetzwerken und bei Reisen ins Ausland hinweist.“
Aha – ich bin begeistert und zugleich beruhigt! Eventuell wären aber IT-Fachleute und eine IT-Beratung geeigneter.
3. Der sächsische Geheimdienst profitiert von der Totalerfassung
Auch das Landesamt profitiert von der amerikanischen Totalüberwachung, und zwar über den Verbund der Nachrichtendienste des Bundes und der Länder. Die Staatsregierung bestätigt, dass das LfV Sachsen Erkenntnisse aus dem Ausland über das Bundesamt für Verfassungsschutz erhalte. Ob diese Erkenntnisse aus der Anwendung von Überwachungsprogrammen wie Prism und Tempora stammten, sei nicht mehr erkennbar. Ich gehe weiter: Es ist fest damit zu rechnen, dass auch das Landesamt von der Totalüberwachung der Amerikaner profitiert.
Die fehlende Kennzeichnung dieser Daten ist rechtsstaatlich problematisch. Die auf Grundlage des Artikel-10-Gesetzes erhobenen Daten sind so zu kennzeichnen, dass jederzeit erkennbar bleibt, aus welchen Eingriffen sie stammen (§§ 4 Abs. 2 G 10, 5a Abs. 6 S. 1 SächsVSG). Diese Kennzeichnung ist auch bei einer Übertragung aufrechtzuerhalten (§§ 4 Abs. 2 G 10, 12a Abs. 3 Nr. 3 SächsVSG). Betroffene sind von der Maßnahme zu unterrichten.
Diese Verfahrenssicherungen sind zwingend, um eine (gerichtliche) Überprüfbarkeit zu ermöglichen. Mit der Nichtkennzeichnung entziehen die deutschen Geheimdienste den deutschen Bürgern also jede Rechtsschutzmöglichkeit. Das Problem wird zudem durch die Nutzung gemeinsamer Dateien von Verfassungsschutz und Polizei verschärft. Damit erhält auch die sächsische Polizei Zugang zu den Überwachungsprogrammen der NSA! Herrn Ulbig ficht das alles nicht an, er zieht sich einfach auf die fehlende Nachvollziehbarkeit der Datenherkunft zurück – und damit ist der Fall für ihn erledigt (Frage 5 der Drs. 5/12511).
4. Sächsische Verwaltungsdaten
Wie sieht es bei den Daten aus, die wir als Bürger dem Staat zur Verfügung stellen müssen? Unser Datenschutzbeauftragter (DSB) Andreas Schurig hat sich im Juli 2013 mit einem Schreiben an Ministerpräsident Tillich gewandt und gefordert, die Maßnahmen zur Datensicherheit im Freistaat zu erhöhen. Der DSB fordert den MP auf, sich für den Schutz des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung einzusetzen. Dem DSB geht es um die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung behördlicher Daten, die Förderung lokaler Cloud-Dienste, die Prüfbarkeit von Softwareprodukten und Diensten durch transparente Programmierung. Dabei geht es um den Einsatz von Open-Source-Software, die nicht nur wegen der „Crowd-Intelligenz“ offener Programmierung und offener Quellcodes sicherer, sondern auch kostengünstiger ist. Eine Forderung, die wir GRÜNE schon im Jahr 2010 erhoben haben, der sie sich aber konsequent verweigert haben.
Es ist festzustellen ist: dieser Brief des Sächsischen Datenschutzbeauftragten ist bisher vom Ministerpräsidenten nicht beantwortet worden. Eine grobe Ungehörigkeit gegenüber einem anderen „Verfassungsorgan“! – Aber Tillich duckt sich mal wieder in bekannter Manier weg, wenn es gilt, Verantwortung zu übernehmen.
Und Minister Martens, ich gehe davon aus, dass Sie sich auch heute auf die Verwaltungsvorschrift zur IT-Sicherheit aus dem Jahre 2011 berufen werden, um zu zeigen, dass Sie alles Notwendige getan hätten. Sie meinen, über den „Warenkorb“ des Sächsischen Verwaltungsnetzes stehe für alle Ressorts der Staatsregierung eine reiche Palette zur Nutzung bereit. Sie belassen es in Ihrer Antwort aber dabei, dass derartige Verfahren „zur Anwendung kommen“ oder „breit zur Anwendung kommen“. Mit dieser Antwort ist es freilich nicht möglich, nachzuvollziehen oder nachzuprüfen, bei welchen Verfahren sie zur Anwendung kommen und ob schutzwürdige Daten tatsächlich geschützt werden. Ich gehe davon aus, dass dem Datenschutzbeauftragten die Eigenheiten des sächsischen Verwaltungsnetzes nicht unbekannt waren, trotzdem hat er Alarm geschlagen und wir finden zu Recht.
Auf die Frage, welche Daten in welchem Umfang etwa auf ausländischen Servern gespeichert werden, geben Sie zur Antwort, dass „eine Benennung nicht möglich ist, weil dies stetiger Veränderung unterliege“. Und schließlich: Sie verweigern die Beantwortung nach einer Strategie zur IT-Sicherheit und E-Government, weil – Zitat: die „Willensbildung in der Staatsregierung noch nicht abgeschlossen“ sei. Wir gratulieren! Offensichtlich haben Sie Ihre Aufgaben, für die Sie seit 2009 zuständig sind, prompt erledigt.
Wir fordern Sie auf: evaluieren Sie die Übertragungswege, kontrollieren Sie Ihre externen IT-Dienstleister. Legen Sie einen Plan für ein sachseneigenes Servernetz sowie für die Speicherung der Daten in Sachsen sowie eine flächendeckende und verbindliche Ende-zu-Ende-Verschlüsselung von Behördendaten vor!
V. Wir müssen uns selber schützen!
Die NSA-Überwachungsaffäre zeigt, dass wir faktisch schutzlos sind. Wir können uns auf den verfassungsrechtlich garantierten Schutz unserer Grundrechte nicht verlassen. Das Internet ist als militärische Sicherung der Datenkommunikation entstanden und dann in die Hände kommerzieller Interessen a la Microsoft, Google und Facebook gefallen. Sie beherrschen die Infrastrukturen und legen sie natürlich nach ihren Interessen aus. Diese sind nicht die Interessen einer freiheitlichen Gesellschaft freier Bürgerinnen und Bürger. Diese militärischen und wirtschaftlichen Interessen sind auf die vollständige Erfassung, Auswertung und Nutzung aller unserer Regungen gerichtet und damit wahrhaft totalitär.
Wir müssen als freiheitsliebende Bürgerinnen und Bürger selbst die Vision und die technischen Grundlagen einer freiheitlichen, überwachungsfreien elektronischen Kommunikation entwickeln und durchsetzen. Die Industrie und der von ihr abhängige Staat wird dies nicht tun, solange wir sie nicht dazu zwingen!
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