Karl-Heinz Gerstenberg zur Debatte zum Nationalen Stipendienprogramm

Mit großer Wahrscheinlichkeit werden diejenigen Studierenden solche Stipendien erhalten, die es nicht unmittelbar brauchen
Redebeitrag des Abgeordneten Karl-Heinz Gerstenberg zum Antrag der Fraktion GRÜNEN und Linken „Auf nationales Stipendienprogramm verzichten – BAföG-Förderung für Studierende ausbauen“ (Drs. 5/1948), 15. Sitzung des Sächsischen Landtages, 19. Mai, TOP 10
Es gilt das gesprochene Wort!
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als der sächsische Landtag 2008 einen FDP-Antrag zur Einführung eines leistungsorientierten Stipendiensystems diskutierte, war es Adventszeit. Ich war milde gestimmt und hatte die leise Hoffnung, dass wir uns nie wieder mit diesem Thema beschäftigen müssen. So einhellig war die Haltung der damaligen Koalitions- wie Oppositionsfraktionen, dass diese Idee an einer völlig falschen Stelle des großen Problems der Studienfinanzierung ansetzt.
In der Zwischenzeit hat eine Bundestagswahl stattgefunden, nach der die FDP diese Idee des nordrhein-westfälischen Wissenschaftsministers Andreas Pinkwart durch das Gesetz zur Einführung eines nationalen Stipendienprogramms auf die Tagesordnung setzen konnte. Als wir den vorliegenden Antrag gemeinsam mit der Linksfraktion auf den Weg gebracht haben, hatte ich nur eine kleine Hoffnung, dass dieses Vorhaben noch gestoppt werden könnte.
Seit den NRW-Wahlen am 9. Mai ist diese leise, diese kleine Hoffnung ein gutes Stück gewachsen. Die schwarz-gelbe Koalition des Herrn Pinkwart hat den Geist aufgegeben – nur das Stipendienprogramm versucht noch als Untoter uns die Lebenskraft abzusaugen.
Ich will mich dennoch nicht auf der Aussicht einer Änderung der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat ausruhen. Denn es gibt gute Gründe für uns hier im Freistaat Sachsen, diesem Gesetz nicht zuzustimmen und im Gegenzug eine stärkere Erhöhung des BAföG anzustreben. Es gibt zwei zentrale Argumente, die gegen das Stipendiengesetz sprechen: Erstens mangelnde Gerechtigkeit und zweitens unzureichende Praktikabilität.
Bei Stipendien geht es aber nicht nur um den finanziellen Aspekt
Zunächst zur Gerechtigkeit. Stipendien haben zweifellos einen berechtigten Platz im bundesdeutschen System der Studien- und vor allem der Promotionsfinanzierung. Die gezielte Vergabe von Stipendien insbesondere für Promovierende halten wir für sinnvoll und notwendig, wie unsere Forderungen nach Verbesserung der sächsischen Graduiertenförderung immer wieder gezeigt haben.
Bei Stipendien geht es aber nicht nur um den finanziellen Aspekt.
Stipendiengeber und Stipendiennehmer vereint wesentlich mehr als die zeitlich begrenzte Fördersumme. Stipendienprogramme sind in aller Regel verbunden mit einer intensiven wertorientierten Bindung, angefangen von der Auswahl bis hin zu Stipendiatenseminaren und -netzwerken.  
Und schon hier liegen Vor- und Nachteile dicht beieinander. Es sind vor allem Studierende aus bildungsnahen und einkommensstarken Schichten, welche die notwendige hervorragende Studienleistung mitbringen, sowie das gesellschaftliche und politische Engagement zeigen, das die Stipendiatenwerke in aller Regel einfordern. Soziologische Untersuchungen weisen nach, dass die meisten Stipendiatenwerke diese Abhängigkeit von der Herkunft nicht ausgleichen, sondern teilweise sogar verstärken.
Ein Ziel der Reform des Stipendienwesens wäre es also, aus Gerechtigkeitsgründen dafür zu sorgen, dass gerade die Benachteiligten aus eher bildungsfernen Schichten, dass Frauen, Migranten und Menschen mit Behinderungen in den Genuss der finanziellen Unterstützung kommen, sowie den Zugang zu den entsprechenden Netzwerken der Stipendienwerke erhalten. Statt wenigstens an dieser Stelle einen Gerechtigkeitsausgleich zu schaffen, verweist der Gesetzentwurf der Bundesregierung diese Aufgabe an Länder und Hochschulen.
Die öffentliche Diskussion zur geplanten Erhöhung des Büchergeldes zeigt deutlich die soziale Schlagseite des Stipendienprogrammes. Die Stipendiaten aus den zwölf Begabtenförderungswerken haben selbst eine Erklärung abgegeben, dass sie die Steigerung um 275 Prozent unnötig und ungerecht finden. Diese Haltung überrascht auch nicht, weil die durch ein Büchergeld einkommensunabhängig geförderten Stipendiaten zum größten Teil aus Elternhäusern stammen, die deren Studienfinanzierung ohne größere Probleme sicherstellen können.
Diese soziale Selektion soll sich jetzt im Stipendienprogramm fortsetzen. Meine Damen und Herren von der FDP, ob Sie es wahrhaben wollen oder nicht: Die Ergebnisse der Bildungsforschung sind eindeutig. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden diejenigen Studierenden solche Stipendien erhalten, die es nicht unmittelbar brauchen. Das nationale Stipendienprogramm ist offenbar nach dem Matthäus-Prinzip angelegt: Wer hat, dem wird gegeben.
Die Behauptung von CDU und FDP, mit dem Stipendienprogramm eine Leistungskomponente in der Studienfinanzierung zu verankern, ist dabei eine bloße Chimäre. Studienerfolg hängt wesentlich von Herkunft, Studienbedingungen und der eigenen Motivation ab. Aber niemand wird intelligenter, weil am Horizont die vage Aussicht auf 300 Euro im Monat winkt. Wenn das Tillich-Unwort „Mehr Geld macht nicht automatisch klüger“ irgendwo zutrifft, dann bei diesem nationalen Stipendienprogramm.
Hinzu kommt noch ein Gerechtigkeitsproblem für das Wissenschaftssystem selbst, das sich bereits bei der Umsetzung in Nordrhein-Westfalen gezeigt hat.
Wir haben ohnehin einen Trend zur Zwei-Klassen-Wissenschaft
Die Stipendien sollen zur Hälfte durch die Wirtschaft finanziert werden. Studierende aus Fächern, die für Unternehmen nicht interessant sind, also „ökonomisch nutzlose“ Geisteswissenschaftler, „Orchideenfächler“ und andere, fallen glatt durch den Rost. Deutlicher kann man die Tendenz  zur „Vermarktlichung“ der Hochschulen doch nicht verstärken!
Ebenso benachteiligt sind Hochschulen in einem schwächeren ökonomischen Umfeld. Wir haben ohnehin einen Trend zur Zwei-Klassen-Wissenschaft, in der Universitäten in Aachen, Karlsruhe oder München den Ton angeben. Das Stipendienprogramm würde dieses Auseinanderdriften noch verschärfen. Man muss wahrlich kein Prophet sein, um hier gerade für die sächsischen und die anderen ostdeutschen Hochschulen verhängnisvolle Folgen zu erkennen.
Ich will auf das zweite Argument eingehen, dass gegen das nationale Stipendienprogramm spricht: die Praktikabilität.
Das gesamte Stipendienprogramm ist mit 300 Millionen Euro ausgestattet. Der Freistaat Sachsen müsste dabei 7,2 Millionen Euro jährlich aus seinem Haushalt finanzieren. Finanzminister Unland kann sich jedoch freuen: Die Chancen stehen gut, dass er dieses Geld nicht ausgeben muss.
Wenn man die Summen auf die einzelnen Hochschulen herunterrechnet, dann wird klar, welche unlösbare Aufgabe hier auf die Hochschulen wartet. Eine kleine Fachhochschule wie in Zittau-Görlitz müsste für 200 Stipendiaten 300.000 Euro bei der Wirtschaft einwerben. Die größte Hochschule, die TU Dresden, knapp fünf Millionen Euro, um 1.500 Stipendiaten aus diesem Programm zu erreichen. Selbst für die TU Dresden, mit einigen Stiftungsprofessuren sächsischer Vorreiter beim Fundraising, liegen solche Summen außerhalb jedes Vorstellungsvermögens.
Der Rektor der HTWK Leipzig, Prof. Dr. Milke, ein Praktiker und Pragmatiker durch und durch, hat deshalb zu Recht und stellvertretend für andere sächsische Rektoren die Zielstellungen des Stipendienprogramms als das bezeichnet, was sie sind – nämlich völlig illusorisch.
Jeder, der sich mit der Einwerbung von Geldern aus der Wirtschaft für die Wissenschaft auskennt, weiß, dass dies nur über langjährig aufgebaute Netzwerke und vor allem ausreichendes, darauf spezialisiertes Personal möglich ist. Das Gesetz sieht vor, dass das Aufgabe der Hochschulen ist.
Doch woher soll dieses Personal angesichts der aktuellen Kürzungsdebatten kommen? Welchen Grund sollte eine Hochschule haben, angesichts der knappen Personaldecke zusätzliches Personal für ein Stipendienprogramm einzustellen, von zwar einige Studierende profitieren, aber die Hochschule selbst überhaupt nichts hat? Die Erfahrung aus NRW hat gezeigt, dass schon die Einwerbung von wenigen Stipendien für die Hochschulen ein enormer Kraftakt ist.
Aber Sie müssen gar nicht nach NRW schauen, um zu verstehen, dass das nationale Stipendienprogramm mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Fehlschlag wird. Mit der seit 2007 laufenden ESF-Förderperiode wurde in Sachsen unter anderem die Industriepromotion ermöglicht. Sie funktioniert nach demselben Prinzip wie das nationale Stipendienprogramm: Wenn die Hälfte des Stipendiums von Unternehmen eingeworben wird, dann gibt der Freistaat die andere Hälfte hinzu.
Aber nicht alles, was innovativ ist, funktioniert auch
Das Ergebnis ist kläglich: Von den vorgesehenen 14 Millionen Euro flossen lediglich 700.000 ab. Während die rein öffentlich finanzierten Landesinnovationspromotionen mehrfach überzeichnet sind, konnte selbst für Forschungsvorhaben, die unmittelbar mit Unternehmensinteressen verknüpfbar sind, kein Geld eingeworben werden. Warum dieses Prinzip für Stipendien an Studierende und ohne Zweckbindung funktionieren soll, das bleibt ihr Geheimnis, meine Damen und Herren von der Koalition.
Werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
Sie haben ihr Stipendienprogramm im Ausschuss als innovativ bezeichnet. Im Vergleich zum BAföG mag das stimmen – aber nicht alles, was innovativ ist, funktioniert auch. Wir brauchen nicht den teuren Irrweg eines unternehmensfinanzierten Stipendienprogrammes. Mehr denn je brauchen wir heute einen gründlichen Umbau der individuellen Bildungsfinanzierung und eine größere öffentliche Verantwortung dafür.
Wir müssen jedem Studierenden einen elternunabhängigen Unterhalt sichern, und das weder als Kredit noch als Almosen, aber dafür unabhängig vom Alter, vom gewählten Bildungsgang und von der Fachrichtung.
Wir haben bereits in der letzten Sitzung des Wissenschaftsausschusses einen Antrag unserer Fraktion diskutiert, der deutliche Verbesserungen beim BAföG vorsieht und dem in wesentlichen Teilen die im SPD-Antrag erwähnte Bundesratinitiative von Rheinland-Pfalz entspricht.
Die kürzlich vorgelegte 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks hat uns in diesen Forderungen bestätigt. Trotz der vergangenen BAföG-Erhöhung tritt die Studienbeteiligung an den Hochschulen auf der Stelle. An der sozialen Ungerechtigkeit beim Hochschulzugang hat sich nichts geändert. Nach wie vor haben Arbeiterkinder eine fünfmal schlechtere Chance auf ein Studium als Kinder von Beamten oder Selbständigen. Während der Finanzierungsanteil der Eltern abnimmt, müssen zwei von drei Studierenden jobben –  mit steigender Tendenz.
Das zeigt deutlich die Defizite beim BAföG. Es reicht nicht aus, die Bedarfssätze und Freibeträge, wie von der Bundesregierung geplant, um zwei bzw. drei Prozent zu erhöhen. Wir brauchen eine deutliche Erhöhung um fünf Prozent und klare Verbesserungen in der Förderpraxis. Der steigende Beratungsbedarf von Studierenden ist ein weiterer deutlicher Hinweis, dass das BAföG in eine einfache und elternunabhängige Bildungsfinanzierung umgebaut werden muss – das, werte Kollegen von der FPD, wäre nicht nur innovativ, sondern würde auch funktionieren!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der Koalition,
stimmen Sie heute im sächsischen Interesse für unseren Antrag!
Die Sozialerhebung hat ein weiteres Mal gezeigt, dass für die Studierenden in den ostdeutschen Bundesländern das BAföG wesentlich wichtiger ist als in Westdeutschland. Demgegenüber droht das Stipendienprogramm Studierende in den wirtschaftsstarken Westländern zu bevorzugen.
Der Freistaat muss sich im sächsischen Interesse für eine deutliche Erhöhung des BAföG und für einen Verzicht auf das Stipendienprogramm einsetzen. Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit und der Ost-West-Gerechtigkeit.
Wer Aufstieg durch Bildung will, kann sich nicht auf der Studiengebührenfreiheit ausruhen!