Miro Jennerjahn: Fachkräftemangel – Minister Morlok muss endlich eine angemessene Arbeitsmarktstrategie vorlegen

Redeauszüge des Abgeordneten Miro Jennerjahn zur Aktuellen Debatte "Keine Angst vor unseren Nachbarn – Durch Arbeitnehmerfreizügigkeit Fachkräfte für Sachsen gewinnen" in der 36. Sitzung des Sächsischen Landtages, 25.05., TOP 2
Jennerjahn: Wir hoffen, dass FDP-Minister Sven Morlok das Thema Arbeit als zugehörig zu seinem Ministeriums begreift und endlich eine angemessene Arbeitsmarktstrategie vorlegt
Es gilt das gesprochene Wort!
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Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
es ist uneingeschränkt positiv, dass seit dem 1. Mai 2011 in Deutschland die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU auch für die Menschen in den acht Mittel- und Osteuropäischen Staaten gilt, die 2004 der EU beigetreten sind. Damit ist auch in Deutschland die Grundrechte-Charta der EU verwirklicht, laut der jede Unionsbürgerin und jeder Unionsbürger das individuelle Freiheitsrecht genießt "in jedem Mitgliedsstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen".
Diese Debatte kommt aber nicht ohne einen Blick zurück aus. Als die acht mittel- und osteuropäischen Länder 2004 der EU beitraten, wurde den Altmitgliedern die Möglichkeit eingeräumt, Arbeiter aus den neuen Mitgliedsstaaten für einen Zeitraum von maximal sieben Jahren nur mit einer speziellen Erlaubnis ins Land zu lassen. Deutschland hat die sieben Jahre voll ausgenutzt, auch mit der Begründung, man wolle den hiesigen Arbeitsmarkt von Billigkonkurrenz schützen.
Rückwirkend betrachtet bleibt das Fazit: Deutschland hat diese Übergangsfrist nicht sinnvoll genutzt, um sich auf die Osterweiterung des Arbeitsmarktes vorzubereiten. Nach wie vor gibt es keinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz wurde nicht auf auf alle relevanten Bereiche ausgeweitet, die Debatte über die Einführung eines Mindestlohns in der Leiharbeitsbranche hinkt der Realität hinterher.
Dabei gibt es erheblichen Handlungsbedarf.
Mittlerweile sind im Niedriglohnsektor in Deutschland rund 6,6 Millionen Menschen beschäftigt, 3,4 Millionen Menschen arbeiten für weniger als 7 Euro in der Stunde, kein anderes Land hat laut IAQ-Report (Institut für Arbeit und Qualifikation) in den vergangenen Jahren eine derart starke Zunahme des Niedriglohnsektors und eine Ausdifferenzierung der Löhne nach unten erlebt.
Andere Länder sind da deutlich weiter. In 20 EU-Staaten gibt es einen branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohn, weitere sechs Länder haben gleichwirkende Regelungen. Vor diesem Hintergrund ist es umso unverständlicher, dass der "Entwurf eines Gesetzes für die Einführung flächendeckender Mindestlöhne im Vorfeld der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit" der GRÜNEN-Bundestagsfraktion von CDU und FDP abgelehnt wurde, mit den alten sattsam bekannten und falschen Verweisen auf die Tradition der Tarifautonomie und befürchtete Arbeitsplatzverluste.
Natürlich ist die Lohnfindung zunächst eine Frage der Tarifpartner. Aber wir stellen auch fest, dass es immer mehr Bereiche gibt, in denen es keine funktionierende Tarifpartnerschaft gibt. Nach der Logik der Subsidiarität ist hier staatliches Handeln erforderlich.
Und spätestens seit der Berkeley-Studie vom November 2010 muss ernsthaft bezweifelt werden, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze kosten.
Natürlich sehe ich auch, dass sich an der ein oder anderen Stelle bei der CDU etwas bewegt. Die Äußerungen des Bundestagsabgeordneten Dr. Matthias Zimmer kann ich nur begrüßen. Ich zitiere: "Der Staat muss dafür sorgen, dass Arbeit nicht von menschlicher Würde entkoppelt wird. Der Mensch ist nicht Mittel des Wirtschaftens, sondern Ziel und Zweck. Das unterscheidet ihn von den anderen Produktionsfaktoren. Deswegen entspricht ein intelligenter gesetzlicher Mindestlohn den besten Traditionen christlich-sozialen Denkens".
Es bleibt die Frage: Was bedeutet die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Sachsen? Auch wenn ich die vorsichtige Annäherung der sächsischen CDU an die Realität, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, begrüße, bleibt doch die Befürchtung, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit nur einen marginalen Beitrag zur Behebung des sich abzeichnenden Fachkräftemangels leisten wird. Denn: Für Sachsen wurde der Arbeitsmarkt für osteuropäische Arbeitnehmer zu spät geöffnet. Die Migrationspfade führen durch Sachsen hindurch in prosperierende Regionen Westeuropas, gut ausgebildete Fachkräfte sind längst in Staaten, in denen die Arbeitsmarkthürden früher abgebaut wurden.
Weiterhin bleibt die Hürde der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Ein Vorschlag meiner Fraktion zur Behebung des letztgenannten Problems wurde von den Koalitionsfraktionen noch abgebügelt, ich hoffe, dass die Staatsregierung dem Berufsanerkennungsgesetz im Bundesrat nicht die Zustimmung verweigert.
Die Staatsregierung darf beim Thema Fachkräftemangel nicht einseitig auf Zuwanderung setzen. Es ist eine Facette der Lösung, aber keinesfalls hinreichend, wie auch Wortmeldungen aus der Wirtschaft oder eine kürzlich erschienene Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung über Herausforderungen des demografischen Wandels für den sächsischen Arbeitsmarkt nahe legen. Ein zweiter wesentlicher Punkt wird also die Qualifikation und Integration bislang vernachlässigter Gruppen sein müssen. Vor diesem Hintergrund ist es schlicht unverständlich, dass die Ausgaben für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen in Sachsen im Vergleich zum Vorjahr um 28 Prozent gekürzt wurden.
Es bleibt die Hoffnung, dass FDP-Staatsminister Sven Morlok endlich das Thema Arbeit als das seines Ministeriums begreift und schnellstmöglich eine sächsische Arbeitsmarktstrategie vorlegt, welche der Komplexität des Themas angemessen ist.