Fachregierungserklärung Fachkräfte – Lippold: Nachhaltige Wirtschaftspolitik bedeutet zunächst Investition in attraktive Lebensverhältnisse

Redebeitrag des Abgeordneten Gerd Lippold zur Fachregierungserklärung zum Thema:
"Sachsen: Heimat für Fachkräfte"
93. Sitzung des 6. Sächsischen Landtags, Freitag, 24. Mai, TOP 1

– Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

Sachsen hat eine neue Fachkräftestrategie. Nach einem umfassenden Beteiligungsverfahren hat das Kabinett die ‚Fachkräftestrategie 2030 für den Freistaat Sachsen‘ am vergangenen Dienstag verabschiedet. Die Fachkräftestrategie 2030 für den Freistaat Sachsen umfasst vier Haupthandlungsfelder mit zehn strategischen Zielen.

Über 40 Prozent der Unternehmen suchen gegenwärtig Fachkräfte. Bis 2030 wird das Erwerbspersonenpotenzial in Sachsen – das sind alle erwerbsfähigen Menschen zwischen 15 und 65 Jahren– um rund 328.000 Personen zurückgehen. In den nächsten 10 Jahren wird jeder fünfte Beschäftigte in Sachsen in die Rente gehen.
Die für mich zentrale wirtschaftspolitische Aussage der Fachkräftestrategie ist, ich zitiere: >>Der Fachkräftemangel wird zum größten Wachstumsrisiko für den Wirtschaftsstandort Sachsen.<<
Und weil man über Wachstumsdefinitionen immer streiten kann, füge ich hinzu: der Fachkräftemangel wird zur wahrscheinlich größten Existenzbedrohung für viele, gerade kleine und mittlere Unternehmen, von denen Sachsen geprägt ist.

Die Fachkräftestrategie ist zunächst mal ein recht umfangreicher Problemaufriss.
Die eigentliche Herausforderung ist es, geeignete und konkrete Maßnahmen/Projekte abzuleiten, Verantwortlichkeiten zu benennen, Ressourcen bereitzustellen und den Erfolg zu evaluieren, um ggf. nachsteuern zu können.

Das drückt dann auch die Vizepräsidentin der IHK Chemnitz aus, wenn sie einschätzt:
>>Wir begrüßen, dass die Fachkräftestrategie 2030 an vielen Stellen konkrete Ziele, Empfehlungen und Verantwortlichkeiten zur Fachkräftesicherung im Freistaat benennt. Entscheidend bleibt aber, welche Maßnahmen tatsächlich abgeleitet werden und schlussendlich in der Wirtschaft zu spüren sind.<<

Oder um es mit Winston Churchill zu sagen: >>Egal wie wunderbar die Strategie ist, von Zeit zu Zeit sollte man mal einen Blick auf die Ergebnisse werfen.<<

Das ist ja nicht die erste Fachkräftestrategie, sondern eine Fortschreibung und daraus resultieren nicht zum ersten Mal Maßnahmen und Richtlinien, sondern es gibt schon welche. Und wenn man da genauer hinschaut, dann wurden und werden mit der Fachkräfterichtlinie, über die die Landkreise mit Budget ausgestattet werden, bisher eben auch Projekte gefördert, die nicht nachhaltig waren. Die X-te Internet-Plattform für Rückkehrer oder Busfahrten zu regionalen Unternehmen, bei denen außer Busfahrerinnen und Busfahrer und Veranstalterinnen und Veranstalter niemand mitgefahren ist, sind nur zwei Beispiele.
Als weiteren Kritikpunkt hört man da draußen mangelnde Transparenz zu den Kriterien für die Förderwürdigkeit der Projekte. Völlig unverständlich ist, wie Institutionen, die über die Förderwürdigkeit mit bestimmen, selbst Projektträger werden können. Es kann doch nicht im Sinne der Förderpolitik des Freistaates sein, Schlupflöcher zu schaffen, in denen es möglich wird, sich selbst auf Staatskosten mit Projektmitteln auszustatten?

Es ist viel Richtiges und Wichtiges geschrieben und gesagt worden, Herr Minister Dulig. Die Probleme sind identifiziert und es gibt Ziele und viele Handlungsansätze, um diese Ziele zu erreichen. Nur auf einen einzigen Punkt will ich die Aufmerksamkeit nochmal richten, weil er mir bei der Suche nach gangbaren, vor allem nach sofort wirksamen Wegen zur Minderung des Fachkräftemangels zu kurz weggekommen ist.

Fachkräfte kann man neu ausbilden, man kann sie anwerben. Man kann aber auch mit den am besten ausgebildeten, den Erfahrensten besser arbeiten.  
Ich hatte eingangs erwähnt, dass in den nächsten 10 Jahren jeder fünfte Beschäftigte in Sachsen in die Rente geht. Doch diese Zahl spiegelt nur einen Teil des Themas wieder. Bereits unter den 60- bis 65-Jährigen, meine Damen und Herren, geht nur noch knapp die Hälfte einer Beschäftigung nach.
Damit scheidet ein erheblicher Teil der Älteren bereits einige Jahre vor Erreichen der Regelaltersgrenze (je nach Jahrgang zwischen 65 und 67) aus dem Erwerbsleben aus. Oftmals spielen gesundheitliche Gründe eine Rolle, mitunter fehlen jedoch auch Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern Konzepte, um älteren Beschäftigten erfüllende Perspektiven zu bieten.
Das muss doch besser gehen!

Die Fachkräftestrategie beschreibt das mit Ziel 8: >>Beschäftigte sind entsprechend den Voraussetzungen ihres Arbeitsplatzes flexibel erwerbstätig, um ihre Lebens- und Berufssituation vereinbaren zu können.<<
Wie das ginge, schreibt sie auch:
Unterstützung von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern bei der Etablierung von lebensphasenorientiertem Personalmanagement und stärkere Einbeziehung älterer Mitarbeiterschaft in die strategische Personalarbeit.

Das Lebensphasenorientierte Personalmanagement richte sich zwar an alle Beschäftigten. Aufgrund der Altersstruktur sächsischer Belegschaften müsse ein Schwerpunkt aber auf der Zielgruppe der älteren Beschäftigten liegen. Es sei unerlässlich, die Beschäftigungsquote der Älteren durch attraktive Angebote deutlich anzuheben. Es brauche daher Anstrengungen, damit Erwerbstätige über ihr ganzes Erwerbsleben hinweg gesund und qualifiziert arbeiten können.

Die Flexi-Rente ist bereits ein Anreiz. Das Arbeiten bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter – und gegebenenfalls auch darüber hinaus – muss sich materiell wie ideell jedoch noch mehr lohnen.
Der Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand muss viel flexibler gestaltbar sein, um es attraktiv zu machen, sich weiter einzubringen und gerade die wertvollen lebenslangen Erfahrungen und Kompetenzen auch weiterzutragen.

Wir brauchen Strategien für generationenübergreifendes Lernen und Gesunderhaltung. Wir brauchen Angebote, die vor allem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in körperlich besonders anstrengenden Berufen einen zeitigen Wechsel in weniger belastende Tätigkeiten oder Branchen erlauben, wo ihre Berufserfahrung aber dennoch einen hohen Wert für die Unternehmen und die Gesellschaft darstellt. Mentorenmodelle und Jobtandems zwischen älteren und jüngeren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern werden in der Fachkräftestrategie bereits genannt.

Ich denke, dass hier ein weites Feld ungenutzter Möglichkeiten vor uns liegt, den in vielen Branchen drohenden Fachkräftemangel zumindest abzumildern und zugleich ganz wertvolle Beiträge zum generationenübergreifenden Zusammenhalt der Gesellschaft zu leisten.

Nehmen wir die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich ernster als bisher, meine Damen und Herren. Sie haben es nicht nur mit einer großen Lebensleistung verdient, sie sind auch ein großer und wertvoller Schatz.

Eines hätte ich mir wirklich noch gewünscht, Herr Staatsminister Dulig. Nämlich eine regionalisierte Betrachtung in der Strategie. Es gibt eben nicht DEN sächsischen Arbeitsmarkt und DIE sächsische Demografie. Die Situation ist vielmehr regional sehr verschieden. Einen boomende Großstadt und eine über längere Zeit stiefmütterlich behandelte ländliche Region stehen da vor völlig verschiedenen Aufgaben. Und die wird man nicht mit denselben Zielen und Mitteln angehen können.

Ganz besonders klar wird das dort, wo näher hingeschaut wurde. So gibt es eben im Zusammenhang mit der Arbeit der Kohlekommission sehr gründliche Strukturdatenerhebungen in den Kohlerevieren. Und wenn sie dann etwa sehen, dass in der Lausitz bereits in den nächsten 15 Jahren etwa 100.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter fehlen werden, dann sind wirtschaftspolitische Zielstellungen zur Ansiedlung großer neuer Unternehmen mit vielen neuen Industriearbeitsplätzen doch sehr kritisch zu hinterfragen. Wer, bitte, soll dort arbeiten?

Wer soll investieren, wenn er diese Frage nicht geklärt bekommt? Und wenn Sie dann mit exorbitanter Subventionierung doch so ein Vorhaben umsetzen, holen die sich dann ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den mittelständischen Betrieben ringsum, die heute schon Mangel haben? Denn um wirklich Zuzug zu erreichen, reicht ein Betrieb auf der grünen Wiese nicht. Dazu brauchen Sie vor allem attraktive Lebensverhältnisse. Die Familie ist es nämlich, die zu überzeugen ist. Nachhaltige Wirtschaftspolitik bedeutet dann eben zunächst mal Investition in Bildung und Erziehung, in Kultur und Sport, in Freizeitqualität und Verkehrsanbindung. Anbindung für die ganze Familie! Nicht nur für LKWs und Autofahrer.

Und so zeigt sich, dass diese Strategie eben nur ein Anfang sein kann. Um wirklich vor Ort zu helfen und die Mittel zu diesem Zweck auch sinnvoll einzusetzen, muss man genauer hinschauen. Und dann auch im politischen Handeln wirklich ernst nehmen, was die Wissenschaft da analysiert.
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