Petra Zais: Für Sachsen ist die Bestandsaufnahme zu Hartz IV alles andere als rosig
Redebausteine der Abgeordneten Petra Zais zur Großen Anfrage der Fraktion Die Linke:
"10 Jahre Hartz IV in Sachsen: Ergebnisse, Erfahrungen, Schlussfolgerungen"
20. Sitzung des Sächsischen Landtags, 17. September 2015, TOP 5
– Es gilt das gesprochene Wort –
Herr Präsident, meine Damen und Herren,
wir GRÜNE begrüßen das Ansinnen der LINKEN, die Staatsregierung im Rahmen einer Großen Anfrage nach der Bilanz von zehn Jahren Hartz IV in Sachsen zu befragen.
Keine Frage, die Sozialgesetzgebung ist Bundesangelegenheit. Aber sie hat Auswirkungen direkt auf die Kommunen und ihre Finanzen insbesondere die Kosten der Unterkunft. Sie hat Auswirkungen auf Menschen, Familien, Kinder.
Das Land müsste ein Interesse an gelingender Sozialgesetzgebung haben, da sie tiefgreifende Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat. Und da muss man schon wissen: sind die Auswirkungen gut oder schlecht?
Dennoch ist die Antwort der Staatsregierung abwehrend.
Sie lehnt es ab, in Bezug auf Sachsen eine grundsätzliche Bilanz nach zehn Jahren Hartz IV zu ziehen. Sie mauert nach dem Prinzip: Wir sind nicht zuständig, mehr Daten sind nicht nötig, es gebe keinen grundlegenden Handlungsbedarf bei den Hartz IV Regelungen.
Warum mauert die Staatsregierung?
Hartz IV hat das Land polarisiert wie kaum eine andere politische Reform der letzten Jahrzehnte. Die Gräben in unserer Gesellschaft sind tiefer geworden und viele Menschen empfinden das System der Grundsicherung als repressiv und ungerecht; Hoffnung auf Besserung besteht so nicht.
"Fördern statt Fordern" – mit diesem Postulat wurde ein Versprechen gegeben, dass der Realität nie standgehalten hat. Anspruch und Wirklichkeit klaffen nach wie vor weit auseinander. Die Reform war und ist vor allem eine, die die Deregulierung des Arbeitsmarktes zum Ziel hatte und die Arbeitgeber zu den Gewinnern der Reform machte.
Hartz IV ist nicht nur Arbeitsmarktpolitik, sondern immer auch Sozialpolitik; eine Sozialberichterstattung ist daher dringend nötig (im Koalitionsvertrag ab 2016 vorgesehen). Es ist von politischer Relevanz, Armut und soziale Ausgrenzung zu erkennen (Daten) und landespolitisch zu handeln. Andere Länder haben Sozialberichte; Sachsen seit 2006 nicht mehr.
Auch für Sachsen ist die Bestandsaufnahme alles andere als rosig. Unsere Anfrage vom Januar hat ein bezeichnendes Licht auf Sachsen geworfen. Während die Zahl Leistungsberechtigten von 2007 bis 2014 um rund ein Drittel gesunken ist, sank die Zahl derjenigen, die trotz Arbeit weiter ALG II beziehen müssen gerade einmal um zehn Prozent.
Von 300.000 Leistungsberechtigten arbeiten 100.000. Das heißt, ein Drittel der Hartz IV-Empfänger entkommt trotz Arbeit der Armutsfalle nicht.
Hoffnung Mindestlohn: Die Zahl der Empfänger ergänzender Sozialhilfe ist etwas gesunken. Trotz des Mindestlohns bleibt kritisch, dass Erwerbslose, die länger als ein Jahr auf staatliche Leistungen angewiesen sind, im ersten halben Jahr der Beschäftigung keinen Anspruch auf den Mindestlohn haben. Aus der Antwort geht hervor, 2014 haben in Sachsen 240.000 ArbeitnehmerInnen unter Mindestlohn gearbeitet.
Auffallend ist auch der Mangel an Daten zu Lebenslagen. Es entsteht der Eindruck, dass ein konkretes Bild nicht gewollt sei, etwa zur Zusammensetzung von Bedarfsgemeinschaften (Anteil Alleinerziehender, Menschen mit Behinderung).
Wir haben es mit einem hohen Maß sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung zu tun. Kinder und Jugendliche (Stand Juni 2014): 62,1 Prozent der nichterwerbsfähigen Leistungsberechtigten in Sachsen im Alter zwischen 7 und 15 Jahren waren bereits länger als vier Jahre auf diese Leistungen angewiesen.
Die Reform übte enormen Druck auf Betriebsräte und Gewerkschaften aus, insbesondere im Osten und in Sachsen, wo die Tarifbindung wenig ausgeprägt ist (siehe Rede Staatsminister Dulig gestern).
Altersarmut ist eine Spätfolge von ALG II und der Streichung der Beiträge zur Rentenversicherung, prekärer Beschäftigung und Niedriglöhnen (wird auch nicht durch Mindestlohn ausgeglichen).
Frauen sind die Verlierer der Reform. Die Kategorie der Bedarfsgemeinschaften führt zu einer wesentlich stärkeren Anrechnung des Partnereinkommens und schuf völlig neue Abhängigkeitsverhältnisse.
Prof. Butterwege: "Hartz IV machte einen Teil der vorher verdeckten Armut sichtbar, verstärkte aber zugleich vorhandene und erzeugte darüber hinaus neue Armut, wie es sie in dieser ausgrenzenden, erniedrigenden und entwürdigenden Form in der Bundesrepublik bis dahin kaum je gegeben hatte".
Was ist nötig:
- Paradigmenwechsel in der Arbeitsförderung
- verlässliche Perspektiven bei Zugängen in den Arbeitsmarkt
- prekäre Beschäftigungsverhältnisse abbauen
- eigenständigen Anspruch von Frauen sichern
- Erhöhung der Kinderregelsätze – Kinderarmut entgegenwirken; GRÜNES Modell: Kindergrundsicherung, bei der jedes Kind, unabhängig vom Einkommen seiner Familie, die gleiche finanzielle Unterstützung vom Staat erhält
- bessere Personal- und Mittelausstattung der Jobcenter
- bessere gesetzliche Rahmenbedingungen für Zeitarbeit